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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Politische Briefe,

Wichtigsten sind, welche am wenigsten Aussicht haben, die Zustimmung des Reichs¬
tags wie der vom Reichstag gewählten Commission zu finden. Somit scheint es, als
wäre das Schicksal der Vorlage in der gegewärtigen letzten Session dieses Reichs¬
tags besiegelt, in dem Sinne besiegelt, daß eine Einigung über die Vorlage nicht
zu stände kommt, deren Gegenstand demnach einen der vielen Streitpunkte bilden
würde, um welche sich der nächste Wahlkampf bewege" soll.

Erwägt mau, daß viele der ernstesten und besten Geister unsers Volkes den
Entwurf bei der ersten Mittheilung mit innerster Ueberzeugung als einen glück¬
lichen Schritt auf einem unbekannten, aber heilsamen Wege begrüßt haben, er¬
wägt man, daß der Mann, in dem Frankreich seine Zukunft repräsentirt sieht,
den Gedanken des Reichskanzlers sofort in das Programm der französischen
Socialpolitik aufnahm -- erwägt man dies alles, so erscheint die kühle, zaubernde
Haltung des Reichstags befremdend, fast unerklärlich. Doch finden sich die Er-
klärungsgründe gar bald. Wir werden vier Klassen natürlicher Gegner des Ent¬
wurfs mit Leichtigkeit gewahren tonnen, und werden sodann sehen, daß jede der
Ncichstagsparteieu eine oder mehrere Klassen der natürlichen Gegner zahlreich
in ihrer Mitte hat. Die vier natürliche" Gegner des Entwurfs sind: I. die
zaghaften Naturen, die vor dem Nncrprobteu überall zurückschrecke", stets ver¬
gessend, daß ohne Probe des Nnerprobten die Welt keinen Fortschritt machen
kann; 2. die Doctrinäre des Freihandels, welche Stnatssoeinlismns in dem Ent¬
Wurfe wittern, und denen der Socialismus in alle" Gestalten und Verwandt¬
schaftsgraben das Ende der Cultur bedeutet; 3. ein Theil der Großindustrie,
welcher in der Vorlage eine" Schritt zur Staatsbevormunduug sieht, der weitere
Schritte von immer weitern Folgen "ach sich ziehen müsse; 4. la,"t, not kamst
der Particularismus, der sich fürchtet, dem Reiche "c"e Attribute, vollends aber
von solcher Bedeutung, wie die Ueberwachung und Verwaltung der Arbeiter-
Versicherung einzuräumen.

Ueberblicke man diese vier Klasse", so wird man leicht inne werden, daß
jede der Reichstagsparteicn von einem oder dem andern Gesichtspunkte dieser
.Klassen beherrscht ist. Das Centrum ist trotz aller antiindividnalistischen Nei¬
gungen doch noch weit mehr partienlaristisch; die "ntivnnlliberale Partei zählt
nnter ihren Mitgliedern viele zaghafte "ut vorsichtige Naturen und außerdem
"?ehr oder minder energische Bekenner der individualistischen oder Freihandels-
thevrie; die Freievnscrvativen siud uicht unbeeinflußt vou deu Gesichtspunkten
der Großindustrie; über die Gesichtspunkte des Fortschritts und der Secession
ist kein Zweifel; so sind es vielleicht nur die Conservativen, aber auch diese nur,
soweit sie nicht partieiilaristischen Neigungen folgen, welche den Reichskanzler
unterstützen "kochte".


Politische Briefe,

Wichtigsten sind, welche am wenigsten Aussicht haben, die Zustimmung des Reichs¬
tags wie der vom Reichstag gewählten Commission zu finden. Somit scheint es, als
wäre das Schicksal der Vorlage in der gegewärtigen letzten Session dieses Reichs¬
tags besiegelt, in dem Sinne besiegelt, daß eine Einigung über die Vorlage nicht
zu stände kommt, deren Gegenstand demnach einen der vielen Streitpunkte bilden
würde, um welche sich der nächste Wahlkampf bewege» soll.

Erwägt mau, daß viele der ernstesten und besten Geister unsers Volkes den
Entwurf bei der ersten Mittheilung mit innerster Ueberzeugung als einen glück¬
lichen Schritt auf einem unbekannten, aber heilsamen Wege begrüßt haben, er¬
wägt man, daß der Mann, in dem Frankreich seine Zukunft repräsentirt sieht,
den Gedanken des Reichskanzlers sofort in das Programm der französischen
Socialpolitik aufnahm — erwägt man dies alles, so erscheint die kühle, zaubernde
Haltung des Reichstags befremdend, fast unerklärlich. Doch finden sich die Er-
klärungsgründe gar bald. Wir werden vier Klassen natürlicher Gegner des Ent¬
wurfs mit Leichtigkeit gewahren tonnen, und werden sodann sehen, daß jede der
Ncichstagsparteieu eine oder mehrere Klassen der natürlichen Gegner zahlreich
in ihrer Mitte hat. Die vier natürliche» Gegner des Entwurfs sind: I. die
zaghaften Naturen, die vor dem Nncrprobteu überall zurückschrecke«, stets ver¬
gessend, daß ohne Probe des Nnerprobten die Welt keinen Fortschritt machen
kann; 2. die Doctrinäre des Freihandels, welche Stnatssoeinlismns in dem Ent¬
Wurfe wittern, und denen der Socialismus in alle» Gestalten und Verwandt¬
schaftsgraben das Ende der Cultur bedeutet; 3. ein Theil der Großindustrie,
welcher in der Vorlage eine» Schritt zur Staatsbevormunduug sieht, der weitere
Schritte von immer weitern Folgen »ach sich ziehen müsse; 4. la,«t, not kamst
der Particularismus, der sich fürchtet, dem Reiche »c»e Attribute, vollends aber
von solcher Bedeutung, wie die Ueberwachung und Verwaltung der Arbeiter-
Versicherung einzuräumen.

Ueberblicke man diese vier Klasse», so wird man leicht inne werden, daß
jede der Reichstagsparteicn von einem oder dem andern Gesichtspunkte dieser
.Klassen beherrscht ist. Das Centrum ist trotz aller antiindividnalistischen Nei¬
gungen doch noch weit mehr partienlaristisch; die »ntivnnlliberale Partei zählt
nnter ihren Mitgliedern viele zaghafte »ut vorsichtige Naturen und außerdem
»?ehr oder minder energische Bekenner der individualistischen oder Freihandels-
thevrie; die Freievnscrvativen siud uicht unbeeinflußt vou deu Gesichtspunkten
der Großindustrie; über die Gesichtspunkte des Fortschritts und der Secession
ist kein Zweifel; so sind es vielleicht nur die Conservativen, aber auch diese nur,
soweit sie nicht partieiilaristischen Neigungen folgen, welche den Reichskanzler
unterstützen »kochte».


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/94>, abgerufen am 23.07.2024.