Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.Politische Briefe. nichts sehen kann, weil ihr Blick in dein Gefühl der allgemeinen Werthlosigkeit In einem Briefe Erich Bollmanns, dessen Nachlaß und Andenken uns ge¬ Politische Briefe. nichts sehen kann, weil ihr Blick in dein Gefühl der allgemeinen Werthlosigkeit In einem Briefe Erich Bollmanns, dessen Nachlaß und Andenken uns ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0007" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149579"/> <fw type="header" place="top"> Politische Briefe.</fw><lb/> <p xml:id="ID_6" prev="#ID_5"> nichts sehen kann, weil ihr Blick in dein Gefühl der allgemeinen Werthlosigkeit<lb/> stumpf geworden.</p><lb/> <p xml:id="ID_7" next="#ID_8"> In einem Briefe Erich Bollmanns, dessen Nachlaß und Andenken uns ge¬<lb/> rettet zu haben sich Friedrich Kapp das dankenswerthe Verdienst erworben hat,<lb/> findet sich folgende Bemerkung über den Despotismus in dem Frankreich vor<lb/> der Revolution. „Der tyrannisch behandelte sucht sich eine Art von Entschädigung<lb/> durch den Despotismus gegen diejenigen zu verschaffen, welche wieder unter ihm<lb/> stehen. So viel Sclaven, so viel Despoten. Jeder Despot verbreitet den Despo¬<lb/> tismus um sich bis an die äußersten Grenzen seines Wirkungskreises. Du hast<lb/> so viel vom Despotismus in Frankreich gehört — was das eigentlich sagen will,<lb/> verstehen nur wenige. Jeder sieht bei diesem Wort auf den König, aber der<lb/> König ist das unbedeutendste in der Sache. Der Adel war Gott und sah tief<lb/> unter sich die Canaille. Daher war der unterste von der Canaille ein Tyrann,<lb/> wo nicht gegen Menschen, so doch wenigstens gegen sein Vieh. Dieser vielfach<lb/> zusammenhängende Despotismus aber mit allen den Schrecken, die von ihm aus¬<lb/> gehen, ist das fürchterliche Ungeheuer, welches die Revolution vernichten muß und<lb/> vernichten wird, wie mannigfaltig auch immer die Greuel sein mögen, wodurch<lb/> sie bis dahin geht." Diese meisterliche» Worte treffen mit Ausnahme des Schlusses<lb/> ebenso auf das heutige Rußland zu. Jeder ist hier Sclave und daher jeder<lb/> Despot, jeder haßt die Selaverei, wie er den Despotismus haßt, und ist doch<lb/> nicht fähig, ein freier, das heißt ein sich selbst beschränkender, sich gegen die<lb/> andern behauptender, aber auch die andern achtender Mensch zu sein. Denn<lb/> das ist der Unterschied von Frankreich: Rußland kann durch keine Revolution<lb/> gesunden oder auch nur vorwärts kommen. Das Ideal der französischen Re¬<lb/> volution war der freie Bürgerstaat, die Unterordnung aller unter das Gesetz.<lb/> Das Ideal Rußlands ist der Nihilismus. Die westeuropäische Cultur versteht<lb/> unter Freiheit die Theilnahme aller am Gesetz, an seinem Gehorsam, seiner<lb/> Vollstreckung und Bildung; der Nihilismus versteht unter Freiheit die Weg¬<lb/> werfung des Gesetzes, mithin der Freiheit, die ungefesselte Brutalität der wilden<lb/> oder trägen Natur. Mag dies auch ein Traum von Narren sein, den nicht<lb/> einmal alle Werkzeuge der Nihilisten theilen, so lebt doch im russischen Volle<lb/> kein Instinct geistiger, d. h. gesetzlicher Freiheit in irgend einem Bilde. Nie hat<lb/> in einer kritischen Epoche seines Daseins, bei einer Umwandlung seiner Lebens¬<lb/> grundlagen jemals ein Volk ein Ideal wie den Nihilismus zur Triebfeder ge¬<lb/> habt, und man muß wohl fragen, wie so etwas möglich geworden ist. Hier<lb/> liegt die Erklärung nur in der unvollkommensten Entwicklung der sittlichen An¬<lb/> lagen unter einer Form des Christenthums, welche dasselbe auf die Stufe des<lb/> Fetischismus herabzieht. Diese Form wird den höhern, von der Altklugheit und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0007]
Politische Briefe.
nichts sehen kann, weil ihr Blick in dein Gefühl der allgemeinen Werthlosigkeit
stumpf geworden.
In einem Briefe Erich Bollmanns, dessen Nachlaß und Andenken uns ge¬
rettet zu haben sich Friedrich Kapp das dankenswerthe Verdienst erworben hat,
findet sich folgende Bemerkung über den Despotismus in dem Frankreich vor
der Revolution. „Der tyrannisch behandelte sucht sich eine Art von Entschädigung
durch den Despotismus gegen diejenigen zu verschaffen, welche wieder unter ihm
stehen. So viel Sclaven, so viel Despoten. Jeder Despot verbreitet den Despo¬
tismus um sich bis an die äußersten Grenzen seines Wirkungskreises. Du hast
so viel vom Despotismus in Frankreich gehört — was das eigentlich sagen will,
verstehen nur wenige. Jeder sieht bei diesem Wort auf den König, aber der
König ist das unbedeutendste in der Sache. Der Adel war Gott und sah tief
unter sich die Canaille. Daher war der unterste von der Canaille ein Tyrann,
wo nicht gegen Menschen, so doch wenigstens gegen sein Vieh. Dieser vielfach
zusammenhängende Despotismus aber mit allen den Schrecken, die von ihm aus¬
gehen, ist das fürchterliche Ungeheuer, welches die Revolution vernichten muß und
vernichten wird, wie mannigfaltig auch immer die Greuel sein mögen, wodurch
sie bis dahin geht." Diese meisterliche» Worte treffen mit Ausnahme des Schlusses
ebenso auf das heutige Rußland zu. Jeder ist hier Sclave und daher jeder
Despot, jeder haßt die Selaverei, wie er den Despotismus haßt, und ist doch
nicht fähig, ein freier, das heißt ein sich selbst beschränkender, sich gegen die
andern behauptender, aber auch die andern achtender Mensch zu sein. Denn
das ist der Unterschied von Frankreich: Rußland kann durch keine Revolution
gesunden oder auch nur vorwärts kommen. Das Ideal der französischen Re¬
volution war der freie Bürgerstaat, die Unterordnung aller unter das Gesetz.
Das Ideal Rußlands ist der Nihilismus. Die westeuropäische Cultur versteht
unter Freiheit die Theilnahme aller am Gesetz, an seinem Gehorsam, seiner
Vollstreckung und Bildung; der Nihilismus versteht unter Freiheit die Weg¬
werfung des Gesetzes, mithin der Freiheit, die ungefesselte Brutalität der wilden
oder trägen Natur. Mag dies auch ein Traum von Narren sein, den nicht
einmal alle Werkzeuge der Nihilisten theilen, so lebt doch im russischen Volle
kein Instinct geistiger, d. h. gesetzlicher Freiheit in irgend einem Bilde. Nie hat
in einer kritischen Epoche seines Daseins, bei einer Umwandlung seiner Lebens¬
grundlagen jemals ein Volk ein Ideal wie den Nihilismus zur Triebfeder ge¬
habt, und man muß wohl fragen, wie so etwas möglich geworden ist. Hier
liegt die Erklärung nur in der unvollkommensten Entwicklung der sittlichen An¬
lagen unter einer Form des Christenthums, welche dasselbe auf die Stufe des
Fetischismus herabzieht. Diese Form wird den höhern, von der Altklugheit und
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