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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Politische Briefe.

physikalischen Kunststücke, aus die es so unglaublich eitel ist. In allen diesen
sogenannten Entdeckungen und Erfindungen, welche in einer Zerlegung und neuen
Verbindung von Naturkräften bestehen, steckt ein geringer geistiger Werth bei
verhältnißmäßig bedeutender Wirkung. Dadurch haben sie unserm Zeitalter den
ungemeinen Dünkel eingeflößt, dessen Hohlheit es durch schreckliche Erfahrungen
begreifen muß. Alle die gerühmte Beherrschung der Natur reicht zwar so weit,
den Naturkräften eine bisher nicht gekannte Dienstbarkeit aufzulegen, aber nicht
so weit, um diese Kräfte im ganzen Laufe ihrer Dienstbarkeit auf einer unschäd¬
lichen Bahn zu halten. So wird die angebliche Beherrschung oft genug zum
tödtlichen Spiel. Was aber weit schlimmer ist, dieses Spiel kann nicht nach Be¬
lieben in wohlthätige und geübte Hände gelegt werden, die schlechtesten der
Schlechten und die feigsten der Feigen können sich desselben bemächtigen. So
erhöht die angebliche Beherrschung der Natur die Macht der Einzelnen gegen das
Ganze, der Willkür gegen die Nothwendigkeit. Die moderne Gesellschaft, die mit
ihren mechanischen Erfindungen glaubt alles zu haben, wird bald inne werden,
daß sie nicht mehr im Stande ist, die Elemente der menschlichen Ordnung und
des menschenwürdigen Daseins gegen Ungeheuer und gegen Frevler zu schützen,
also das Werk zu verrichten, auf welchem in unvordenklichen Zeiten die mensch¬
liche Cultur und Sittlichkeit ihren Bau begonnen und durch Jahrtausende fort¬
geführt hat.

Denn man denke nur nicht, daß hinter diesem Nihilismus, der die Welt
durch seine Unerschrockenst im scheußlichen in Schrecken setzt, irgend eine dä¬
monische geistige Kraft stehe. Mit wunderbarer Deutlichkeit hat der große Sitten-
maler Turgenjeff diese Erscheinung vor Augen geführt. Es gab freilich Leser,
deren Klugheit meinte, hinter dem Schrecklichen könne niemals ein Nichts stehen.
In Wahrheit aber erscheint das Schrecklichste, wenn das Nichtige mit sinnlosen
Kräften ein Spiel zu treiben durch irgend ein Zusammentreffen von Umständen
befähigt wird. Dieses Zusammentreffen findet im heutigen Rußland statt, indem
ein künstlich aufgethürmter Staatsbäu und eine an'Millivnenzahl jedes Volk
übertreffende und doch über einen kolossalen Raum dünn verstreute Gesellschaft
jedes sittlichen Haltes bis in das innerste Mark beraubt sind. Hier, wo es kein
Gewissen für das Einzeldasein noch für das Ganze giebt, wo die Pflicht ein un¬
bekannter Gedanke ist, hier kann ein einzelner Frevler, hier können zahlreiche kleine
aber zusammenhangslose Frevlcrbanden bei einer mangelhaften, ja verrückten
Organisation, wenn sie jener für jede untergeordnete Technik zum offnen Ge¬
brauch daliegenden Naturkräfte und Erfindungen sich bemächtigen, entsetzliche
Wirkungen hervorbringe". Kein Arm verfolgt sie als der gelähmte der Polizei,
kein Auge bewacht sie als das der Gleichgültigkeit, die nichts sehen will oder


Politische Briefe.

physikalischen Kunststücke, aus die es so unglaublich eitel ist. In allen diesen
sogenannten Entdeckungen und Erfindungen, welche in einer Zerlegung und neuen
Verbindung von Naturkräften bestehen, steckt ein geringer geistiger Werth bei
verhältnißmäßig bedeutender Wirkung. Dadurch haben sie unserm Zeitalter den
ungemeinen Dünkel eingeflößt, dessen Hohlheit es durch schreckliche Erfahrungen
begreifen muß. Alle die gerühmte Beherrschung der Natur reicht zwar so weit,
den Naturkräften eine bisher nicht gekannte Dienstbarkeit aufzulegen, aber nicht
so weit, um diese Kräfte im ganzen Laufe ihrer Dienstbarkeit auf einer unschäd¬
lichen Bahn zu halten. So wird die angebliche Beherrschung oft genug zum
tödtlichen Spiel. Was aber weit schlimmer ist, dieses Spiel kann nicht nach Be¬
lieben in wohlthätige und geübte Hände gelegt werden, die schlechtesten der
Schlechten und die feigsten der Feigen können sich desselben bemächtigen. So
erhöht die angebliche Beherrschung der Natur die Macht der Einzelnen gegen das
Ganze, der Willkür gegen die Nothwendigkeit. Die moderne Gesellschaft, die mit
ihren mechanischen Erfindungen glaubt alles zu haben, wird bald inne werden,
daß sie nicht mehr im Stande ist, die Elemente der menschlichen Ordnung und
des menschenwürdigen Daseins gegen Ungeheuer und gegen Frevler zu schützen,
also das Werk zu verrichten, auf welchem in unvordenklichen Zeiten die mensch¬
liche Cultur und Sittlichkeit ihren Bau begonnen und durch Jahrtausende fort¬
geführt hat.

Denn man denke nur nicht, daß hinter diesem Nihilismus, der die Welt
durch seine Unerschrockenst im scheußlichen in Schrecken setzt, irgend eine dä¬
monische geistige Kraft stehe. Mit wunderbarer Deutlichkeit hat der große Sitten-
maler Turgenjeff diese Erscheinung vor Augen geführt. Es gab freilich Leser,
deren Klugheit meinte, hinter dem Schrecklichen könne niemals ein Nichts stehen.
In Wahrheit aber erscheint das Schrecklichste, wenn das Nichtige mit sinnlosen
Kräften ein Spiel zu treiben durch irgend ein Zusammentreffen von Umständen
befähigt wird. Dieses Zusammentreffen findet im heutigen Rußland statt, indem
ein künstlich aufgethürmter Staatsbäu und eine an'Millivnenzahl jedes Volk
übertreffende und doch über einen kolossalen Raum dünn verstreute Gesellschaft
jedes sittlichen Haltes bis in das innerste Mark beraubt sind. Hier, wo es kein
Gewissen für das Einzeldasein noch für das Ganze giebt, wo die Pflicht ein un¬
bekannter Gedanke ist, hier kann ein einzelner Frevler, hier können zahlreiche kleine
aber zusammenhangslose Frevlcrbanden bei einer mangelhaften, ja verrückten
Organisation, wenn sie jener für jede untergeordnete Technik zum offnen Ge¬
brauch daliegenden Naturkräfte und Erfindungen sich bemächtigen, entsetzliche
Wirkungen hervorbringe». Kein Arm verfolgt sie als der gelähmte der Polizei,
kein Auge bewacht sie als das der Gleichgültigkeit, die nichts sehen will oder


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[0006] Politische Briefe. physikalischen Kunststücke, aus die es so unglaublich eitel ist. In allen diesen sogenannten Entdeckungen und Erfindungen, welche in einer Zerlegung und neuen Verbindung von Naturkräften bestehen, steckt ein geringer geistiger Werth bei verhältnißmäßig bedeutender Wirkung. Dadurch haben sie unserm Zeitalter den ungemeinen Dünkel eingeflößt, dessen Hohlheit es durch schreckliche Erfahrungen begreifen muß. Alle die gerühmte Beherrschung der Natur reicht zwar so weit, den Naturkräften eine bisher nicht gekannte Dienstbarkeit aufzulegen, aber nicht so weit, um diese Kräfte im ganzen Laufe ihrer Dienstbarkeit auf einer unschäd¬ lichen Bahn zu halten. So wird die angebliche Beherrschung oft genug zum tödtlichen Spiel. Was aber weit schlimmer ist, dieses Spiel kann nicht nach Be¬ lieben in wohlthätige und geübte Hände gelegt werden, die schlechtesten der Schlechten und die feigsten der Feigen können sich desselben bemächtigen. So erhöht die angebliche Beherrschung der Natur die Macht der Einzelnen gegen das Ganze, der Willkür gegen die Nothwendigkeit. Die moderne Gesellschaft, die mit ihren mechanischen Erfindungen glaubt alles zu haben, wird bald inne werden, daß sie nicht mehr im Stande ist, die Elemente der menschlichen Ordnung und des menschenwürdigen Daseins gegen Ungeheuer und gegen Frevler zu schützen, also das Werk zu verrichten, auf welchem in unvordenklichen Zeiten die mensch¬ liche Cultur und Sittlichkeit ihren Bau begonnen und durch Jahrtausende fort¬ geführt hat. Denn man denke nur nicht, daß hinter diesem Nihilismus, der die Welt durch seine Unerschrockenst im scheußlichen in Schrecken setzt, irgend eine dä¬ monische geistige Kraft stehe. Mit wunderbarer Deutlichkeit hat der große Sitten- maler Turgenjeff diese Erscheinung vor Augen geführt. Es gab freilich Leser, deren Klugheit meinte, hinter dem Schrecklichen könne niemals ein Nichts stehen. In Wahrheit aber erscheint das Schrecklichste, wenn das Nichtige mit sinnlosen Kräften ein Spiel zu treiben durch irgend ein Zusammentreffen von Umständen befähigt wird. Dieses Zusammentreffen findet im heutigen Rußland statt, indem ein künstlich aufgethürmter Staatsbäu und eine an'Millivnenzahl jedes Volk übertreffende und doch über einen kolossalen Raum dünn verstreute Gesellschaft jedes sittlichen Haltes bis in das innerste Mark beraubt sind. Hier, wo es kein Gewissen für das Einzeldasein noch für das Ganze giebt, wo die Pflicht ein un¬ bekannter Gedanke ist, hier kann ein einzelner Frevler, hier können zahlreiche kleine aber zusammenhangslose Frevlcrbanden bei einer mangelhaften, ja verrückten Organisation, wenn sie jener für jede untergeordnete Technik zum offnen Ge¬ brauch daliegenden Naturkräfte und Erfindungen sich bemächtigen, entsetzliche Wirkungen hervorbringe». Kein Arm verfolgt sie als der gelähmte der Polizei, kein Auge bewacht sie als das der Gleichgültigkeit, die nichts sehen will oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/6>, abgerufen am 23.07.2024.