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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zinn Jubiläum eines Buches.

Kategorien oder reine Stammbegriffe des Verstandes nennt. Solcher apriorischer
Stammbegriffe giebt es nach ihm, entsprechend den möglichen Formen eines Ur¬
theils, zwölf, die sich unter vier Hnnptgesichtspunkte ordnen, nämlich 1) Kategorien
der Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit; 2) der Qualität: Realität, Negation,
Limitcition; 3) der Relation: Jnhärenz und Subsistenz (Substanz und Accidens),
Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), Gemeinschaft oder Wechsel¬
wirkung; 4) der Modalität: Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein und Nicht¬
sein, Nothwendigkeit und Zufälligkeit. Allen diesen Kategorien liegt zu Grunde
die ursprüngliche Einheit unsres Selbstbewußtseins. Daß wir überhaupt denken,
das gegebne Mannichfältige zur Einheit verbinden, hat seinen Grund darin, daß
wir selbst in unserm Bewußtsein Eins sind; diese Einheit des Selbstbewußtseins
ist also das oberste Princip alles Verstandesgebmnchs, und die genannten Kategorien
sind nichts weiter als ihre verschiednen Darstellungsfvrmen. Was oben von den
Anschauungsformen gezeigt wurde, daß sie die unumgänglichen Bedingungen jeder
Erfahrung seien, eben dasselbe gilt auch von den Verstandesformen. Was auch
immer Gegenstand unsrer Erkenntniß sein mag, es muß uns in einem von ihnen
geschaffnen Zusammenhange, in den Verhältnissen von Substanz und Aeeidens,
Ursache und Wirkung u. s. w. erscheinen. Gerade weil diese Formen nicht empirischen
Ursprungs, nicht von den Gegenständen abstrcchirt, sondern apriorischer Natur
siud, giebt es für uns keine Erscheinung, kein Object der Erfahrung, das außer¬
halb derselben fiele, das ohne deren Mitwirkung zustande käme. Aber eben
deshalb haben sie auch an den Erscheinungen, an den Objecten möglicher Er¬
fahrung ihre Grenze, über die hinaus ihre Anwendbarkeit nicht reicht. Was
wir durch sie erkennen, sind immer nur Phänomena, nicht Nouinena, nur Er-
scheinungen, nicht Dinge an sich. Allerdings liegt unsern Vorstellungen eine
nichtsinnliche Ursache, ein transsecndentes Ding an sich zu Grunde, und dieses
liefert, indem es uns afficirt, in den Empfindungen den Stoff zu unsern Vor¬
stellungen; zu diesem Stoffe aber fügen wir selbst die Form hinzu, und so sind
denn die Vorstellungen, die wir vermöge der Anschauungs- und Denkformen
daraus bilden, immer nur unsre Vorstellungen, die uns die Dinge nicht so
zeigen, wie sie an sich sind, abgesehen von unsrer Art sie anzuschauen und vor¬
zustellen, sondern nur so, wie sie uns unter den Bedingungen unsres Anschauens
und Vorstellens sich darstellen, im Spiegel unsres Bewußtseins sich reflectiren.
Die Beschaffenheit der deu Erscheinungen zu Grunde liegenden Dinge an sich
bleibt uns gänzlich unbekannt.

Es ist leicht ersichtlich, wie bedeutend diese Betrachtung der Dinge von jeder
frühern Erkenntnißthcorie sich unterscheidet. Nahm man bisher im allgemeinen
an, unsre Vorstellungen seien von den Dinge" hervorgebracht, deren treue Ab-


Zinn Jubiläum eines Buches.

Kategorien oder reine Stammbegriffe des Verstandes nennt. Solcher apriorischer
Stammbegriffe giebt es nach ihm, entsprechend den möglichen Formen eines Ur¬
theils, zwölf, die sich unter vier Hnnptgesichtspunkte ordnen, nämlich 1) Kategorien
der Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit; 2) der Qualität: Realität, Negation,
Limitcition; 3) der Relation: Jnhärenz und Subsistenz (Substanz und Accidens),
Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), Gemeinschaft oder Wechsel¬
wirkung; 4) der Modalität: Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein und Nicht¬
sein, Nothwendigkeit und Zufälligkeit. Allen diesen Kategorien liegt zu Grunde
die ursprüngliche Einheit unsres Selbstbewußtseins. Daß wir überhaupt denken,
das gegebne Mannichfältige zur Einheit verbinden, hat seinen Grund darin, daß
wir selbst in unserm Bewußtsein Eins sind; diese Einheit des Selbstbewußtseins
ist also das oberste Princip alles Verstandesgebmnchs, und die genannten Kategorien
sind nichts weiter als ihre verschiednen Darstellungsfvrmen. Was oben von den
Anschauungsformen gezeigt wurde, daß sie die unumgänglichen Bedingungen jeder
Erfahrung seien, eben dasselbe gilt auch von den Verstandesformen. Was auch
immer Gegenstand unsrer Erkenntniß sein mag, es muß uns in einem von ihnen
geschaffnen Zusammenhange, in den Verhältnissen von Substanz und Aeeidens,
Ursache und Wirkung u. s. w. erscheinen. Gerade weil diese Formen nicht empirischen
Ursprungs, nicht von den Gegenständen abstrcchirt, sondern apriorischer Natur
siud, giebt es für uns keine Erscheinung, kein Object der Erfahrung, das außer¬
halb derselben fiele, das ohne deren Mitwirkung zustande käme. Aber eben
deshalb haben sie auch an den Erscheinungen, an den Objecten möglicher Er¬
fahrung ihre Grenze, über die hinaus ihre Anwendbarkeit nicht reicht. Was
wir durch sie erkennen, sind immer nur Phänomena, nicht Nouinena, nur Er-
scheinungen, nicht Dinge an sich. Allerdings liegt unsern Vorstellungen eine
nichtsinnliche Ursache, ein transsecndentes Ding an sich zu Grunde, und dieses
liefert, indem es uns afficirt, in den Empfindungen den Stoff zu unsern Vor¬
stellungen; zu diesem Stoffe aber fügen wir selbst die Form hinzu, und so sind
denn die Vorstellungen, die wir vermöge der Anschauungs- und Denkformen
daraus bilden, immer nur unsre Vorstellungen, die uns die Dinge nicht so
zeigen, wie sie an sich sind, abgesehen von unsrer Art sie anzuschauen und vor¬
zustellen, sondern nur so, wie sie uns unter den Bedingungen unsres Anschauens
und Vorstellens sich darstellen, im Spiegel unsres Bewußtseins sich reflectiren.
Die Beschaffenheit der deu Erscheinungen zu Grunde liegenden Dinge an sich
bleibt uns gänzlich unbekannt.

Es ist leicht ersichtlich, wie bedeutend diese Betrachtung der Dinge von jeder
frühern Erkenntnißthcorie sich unterscheidet. Nahm man bisher im allgemeinen
an, unsre Vorstellungen seien von den Dinge» hervorgebracht, deren treue Ab-


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[0548] Zinn Jubiläum eines Buches. Kategorien oder reine Stammbegriffe des Verstandes nennt. Solcher apriorischer Stammbegriffe giebt es nach ihm, entsprechend den möglichen Formen eines Ur¬ theils, zwölf, die sich unter vier Hnnptgesichtspunkte ordnen, nämlich 1) Kategorien der Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit; 2) der Qualität: Realität, Negation, Limitcition; 3) der Relation: Jnhärenz und Subsistenz (Substanz und Accidens), Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung), Gemeinschaft oder Wechsel¬ wirkung; 4) der Modalität: Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein und Nicht¬ sein, Nothwendigkeit und Zufälligkeit. Allen diesen Kategorien liegt zu Grunde die ursprüngliche Einheit unsres Selbstbewußtseins. Daß wir überhaupt denken, das gegebne Mannichfältige zur Einheit verbinden, hat seinen Grund darin, daß wir selbst in unserm Bewußtsein Eins sind; diese Einheit des Selbstbewußtseins ist also das oberste Princip alles Verstandesgebmnchs, und die genannten Kategorien sind nichts weiter als ihre verschiednen Darstellungsfvrmen. Was oben von den Anschauungsformen gezeigt wurde, daß sie die unumgänglichen Bedingungen jeder Erfahrung seien, eben dasselbe gilt auch von den Verstandesformen. Was auch immer Gegenstand unsrer Erkenntniß sein mag, es muß uns in einem von ihnen geschaffnen Zusammenhange, in den Verhältnissen von Substanz und Aeeidens, Ursache und Wirkung u. s. w. erscheinen. Gerade weil diese Formen nicht empirischen Ursprungs, nicht von den Gegenständen abstrcchirt, sondern apriorischer Natur siud, giebt es für uns keine Erscheinung, kein Object der Erfahrung, das außer¬ halb derselben fiele, das ohne deren Mitwirkung zustande käme. Aber eben deshalb haben sie auch an den Erscheinungen, an den Objecten möglicher Er¬ fahrung ihre Grenze, über die hinaus ihre Anwendbarkeit nicht reicht. Was wir durch sie erkennen, sind immer nur Phänomena, nicht Nouinena, nur Er- scheinungen, nicht Dinge an sich. Allerdings liegt unsern Vorstellungen eine nichtsinnliche Ursache, ein transsecndentes Ding an sich zu Grunde, und dieses liefert, indem es uns afficirt, in den Empfindungen den Stoff zu unsern Vor¬ stellungen; zu diesem Stoffe aber fügen wir selbst die Form hinzu, und so sind denn die Vorstellungen, die wir vermöge der Anschauungs- und Denkformen daraus bilden, immer nur unsre Vorstellungen, die uns die Dinge nicht so zeigen, wie sie an sich sind, abgesehen von unsrer Art sie anzuschauen und vor¬ zustellen, sondern nur so, wie sie uns unter den Bedingungen unsres Anschauens und Vorstellens sich darstellen, im Spiegel unsres Bewußtseins sich reflectiren. Die Beschaffenheit der deu Erscheinungen zu Grunde liegenden Dinge an sich bleibt uns gänzlich unbekannt. Es ist leicht ersichtlich, wie bedeutend diese Betrachtung der Dinge von jeder frühern Erkenntnißthcorie sich unterscheidet. Nahm man bisher im allgemeinen an, unsre Vorstellungen seien von den Dinge» hervorgebracht, deren treue Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/548>, abgerufen am 23.07.2024.