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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eines Buches.

denn die Ausdehnung ist schon im Begriff des Körpers mit enthalten, kann von
demselben gnr nicht verneint werden, ohne daß dieser Begriff selbst aufgehoben
wird. Dagegen ist das Urtheil: dieser Körper ist schwer, ein shnthetisches, weil
hier ein neues, im Begriff des Körpers nicht schon enthältnes Prädicat zu dem¬
selben hinzugefügt wird. Da die analytischen Urtheile unsre Borstellung nicht
erweitern, also eigentlich gar keine Erkenntniß ausmachen, so fallen sie außer¬
halb des Rahmens der Kantischen Untersuchung. Aber auch die synthetischen
Urtheile haben nicht etwa alle gleichen Erkenntnißwerth. Dieselben sind nämlich
entweder Erfahrnngsnrtheile, die, wie das oben angeführte Beispiel, aus der
Wahrnehmung gezogen sind, und in diesem. Falle nennt Kant sie Urtheile
a xoswnori; oder sie sind uns unabhängig von aller Erfahrung und vor der¬
selben gegeben, also Urtheile g, priori, wie z. B. der Satz, daß die gerade Linie
der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist, oder der andre, daß alles, was
geschieht, eine Ursache hat. Nun behauptet Kant, daß Nothwendigkeit lind strenge
Allgemeinheit den Erfahrungssätzen niemals zukommen, da wir ja nie alle einzelnen
Fälle zu beobachten imstande seien, sondern solche könne nur von apriorischen
Sätzen ausgesagt werden. So besteht also nach ihm alle wirkliche Erkenntniß
nur in synthetischen Urtheilen ^ priori, und eben deshalb giebt er jener Frage
nach der Möglichkeit der Erkenntniß, wie wir sie oben als das von ihm der
Philosophie gestellte Problem ersahen, die speciellere Fassung: Wie sind synthetische
Urtheile a priori möglich? Nun sind die Dinge, auf die sich unsre Erkenntniß
überhaupt richten kann, entweder sinnliche oder übersinnliche; erstre sind Gegen¬
stand der Mathematik und Naturwissenschaft, letztre der Metaphysik. Es kann
daher die obige Frage auch in die drei Fragen zerlegt werden: Wie ist reine
Mathematik, wie ist reine Naturwissenschaft, wie ist Metaphysik möglich?

Es kam uns im Vorstehenden darauf an, darzulegen, was Kant mit der
"Kritik der reinen Vernunft" eigentlich wollte, das Problem aufzuzeigen, das er
sich stellte, und den Fortschritt, den schon die Erkenntniß dieses Problems in
in der Geschichte der Philosophie bedeutet. Es kann nicht unsre Absicht sein,
nun auch seine Lösung de/s Problems mit gleicher Ausführlichkeit darzustellen
was bei dem ungemein reichen Inhalte seines Werkes im Rahmen eines kurzen
Aufsatzes nicht möglich sein würde. Wir wollen nur im allgemeinen die Haupt-
resultate andeuten, zu denen seine Untersuchung gelangt und durch die sich seine
Philosophie von allen bisherigen Versuchen ähnlicher Art unterscheidet.

Kant will die Möglichkeit der Erkenntniß dadurch nachweisen, daß er auf
die Quelle unsrer Vorstellungen zurückgeht. Diese Quelle findet er im mensch¬
lichen Selbstbewußtsein, in der spontanen Selbstthätigkeit des Ich. Zwar ist
uns aller Stoff der Erkenntniß von außen gegeben, aber dieser aposteriorische


Zum Jubiläum eines Buches.

denn die Ausdehnung ist schon im Begriff des Körpers mit enthalten, kann von
demselben gnr nicht verneint werden, ohne daß dieser Begriff selbst aufgehoben
wird. Dagegen ist das Urtheil: dieser Körper ist schwer, ein shnthetisches, weil
hier ein neues, im Begriff des Körpers nicht schon enthältnes Prädicat zu dem¬
selben hinzugefügt wird. Da die analytischen Urtheile unsre Borstellung nicht
erweitern, also eigentlich gar keine Erkenntniß ausmachen, so fallen sie außer¬
halb des Rahmens der Kantischen Untersuchung. Aber auch die synthetischen
Urtheile haben nicht etwa alle gleichen Erkenntnißwerth. Dieselben sind nämlich
entweder Erfahrnngsnrtheile, die, wie das oben angeführte Beispiel, aus der
Wahrnehmung gezogen sind, und in diesem. Falle nennt Kant sie Urtheile
a xoswnori; oder sie sind uns unabhängig von aller Erfahrung und vor der¬
selben gegeben, also Urtheile g, priori, wie z. B. der Satz, daß die gerade Linie
der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist, oder der andre, daß alles, was
geschieht, eine Ursache hat. Nun behauptet Kant, daß Nothwendigkeit lind strenge
Allgemeinheit den Erfahrungssätzen niemals zukommen, da wir ja nie alle einzelnen
Fälle zu beobachten imstande seien, sondern solche könne nur von apriorischen
Sätzen ausgesagt werden. So besteht also nach ihm alle wirkliche Erkenntniß
nur in synthetischen Urtheilen ^ priori, und eben deshalb giebt er jener Frage
nach der Möglichkeit der Erkenntniß, wie wir sie oben als das von ihm der
Philosophie gestellte Problem ersahen, die speciellere Fassung: Wie sind synthetische
Urtheile a priori möglich? Nun sind die Dinge, auf die sich unsre Erkenntniß
überhaupt richten kann, entweder sinnliche oder übersinnliche; erstre sind Gegen¬
stand der Mathematik und Naturwissenschaft, letztre der Metaphysik. Es kann
daher die obige Frage auch in die drei Fragen zerlegt werden: Wie ist reine
Mathematik, wie ist reine Naturwissenschaft, wie ist Metaphysik möglich?

Es kam uns im Vorstehenden darauf an, darzulegen, was Kant mit der
„Kritik der reinen Vernunft" eigentlich wollte, das Problem aufzuzeigen, das er
sich stellte, und den Fortschritt, den schon die Erkenntniß dieses Problems in
in der Geschichte der Philosophie bedeutet. Es kann nicht unsre Absicht sein,
nun auch seine Lösung de/s Problems mit gleicher Ausführlichkeit darzustellen
was bei dem ungemein reichen Inhalte seines Werkes im Rahmen eines kurzen
Aufsatzes nicht möglich sein würde. Wir wollen nur im allgemeinen die Haupt-
resultate andeuten, zu denen seine Untersuchung gelangt und durch die sich seine
Philosophie von allen bisherigen Versuchen ähnlicher Art unterscheidet.

Kant will die Möglichkeit der Erkenntniß dadurch nachweisen, daß er auf
die Quelle unsrer Vorstellungen zurückgeht. Diese Quelle findet er im mensch¬
lichen Selbstbewußtsein, in der spontanen Selbstthätigkeit des Ich. Zwar ist
uns aller Stoff der Erkenntniß von außen gegeben, aber dieser aposteriorische


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[0546] Zum Jubiläum eines Buches. denn die Ausdehnung ist schon im Begriff des Körpers mit enthalten, kann von demselben gnr nicht verneint werden, ohne daß dieser Begriff selbst aufgehoben wird. Dagegen ist das Urtheil: dieser Körper ist schwer, ein shnthetisches, weil hier ein neues, im Begriff des Körpers nicht schon enthältnes Prädicat zu dem¬ selben hinzugefügt wird. Da die analytischen Urtheile unsre Borstellung nicht erweitern, also eigentlich gar keine Erkenntniß ausmachen, so fallen sie außer¬ halb des Rahmens der Kantischen Untersuchung. Aber auch die synthetischen Urtheile haben nicht etwa alle gleichen Erkenntnißwerth. Dieselben sind nämlich entweder Erfahrnngsnrtheile, die, wie das oben angeführte Beispiel, aus der Wahrnehmung gezogen sind, und in diesem. Falle nennt Kant sie Urtheile a xoswnori; oder sie sind uns unabhängig von aller Erfahrung und vor der¬ selben gegeben, also Urtheile g, priori, wie z. B. der Satz, daß die gerade Linie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist, oder der andre, daß alles, was geschieht, eine Ursache hat. Nun behauptet Kant, daß Nothwendigkeit lind strenge Allgemeinheit den Erfahrungssätzen niemals zukommen, da wir ja nie alle einzelnen Fälle zu beobachten imstande seien, sondern solche könne nur von apriorischen Sätzen ausgesagt werden. So besteht also nach ihm alle wirkliche Erkenntniß nur in synthetischen Urtheilen ^ priori, und eben deshalb giebt er jener Frage nach der Möglichkeit der Erkenntniß, wie wir sie oben als das von ihm der Philosophie gestellte Problem ersahen, die speciellere Fassung: Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? Nun sind die Dinge, auf die sich unsre Erkenntniß überhaupt richten kann, entweder sinnliche oder übersinnliche; erstre sind Gegen¬ stand der Mathematik und Naturwissenschaft, letztre der Metaphysik. Es kann daher die obige Frage auch in die drei Fragen zerlegt werden: Wie ist reine Mathematik, wie ist reine Naturwissenschaft, wie ist Metaphysik möglich? Es kam uns im Vorstehenden darauf an, darzulegen, was Kant mit der „Kritik der reinen Vernunft" eigentlich wollte, das Problem aufzuzeigen, das er sich stellte, und den Fortschritt, den schon die Erkenntniß dieses Problems in in der Geschichte der Philosophie bedeutet. Es kann nicht unsre Absicht sein, nun auch seine Lösung de/s Problems mit gleicher Ausführlichkeit darzustellen was bei dem ungemein reichen Inhalte seines Werkes im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nicht möglich sein würde. Wir wollen nur im allgemeinen die Haupt- resultate andeuten, zu denen seine Untersuchung gelangt und durch die sich seine Philosophie von allen bisherigen Versuchen ähnlicher Art unterscheidet. Kant will die Möglichkeit der Erkenntniß dadurch nachweisen, daß er auf die Quelle unsrer Vorstellungen zurückgeht. Diese Quelle findet er im mensch¬ lichen Selbstbewußtsein, in der spontanen Selbstthätigkeit des Ich. Zwar ist uns aller Stoff der Erkenntniß von außen gegeben, aber dieser aposteriorische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/546>, abgerufen am 23.07.2024.