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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jul'kleinen eines Buches.

Leibniz schuf kein eigentliches System; und als seine Schüler, in erster Linie
Wolff, nach seinem Tode daran gingen, seine Gedanken systematisch auszubauen,
da zerfiel unter ihren Händen anch jene Vereinigung von speculativer und empirischer
Erkenntniß wieder, und was schließlich als Resultat ihrer systematisirenden Ar¬
beit dastand, die sogenannte Leilmiz-wolffische Philosophie, das trug im wesent¬
lichen wieder ein rationales mathematisches Gewand, Dieses System also war
das in Deutschland herrschende, als Kant seine philosophische Thätigkeit begann,
und er selbst war ein Anhänger dieser Philosophie; Jahre lang legte er seinen
Vorlesungen Compendien zu Grunde, die ans der Wvlffische" Schule hervorge¬
gangen waren. Was ihn an diesem Dogmatismus endlich irre werden ließ, war
das Studium der Humeschen Schriften. "Ich gestehe frei," schreibt er in der
Vorrede zu den Prolegomena, "die Erinnerung des David Hume war eben das¬
jenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unter¬
brach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz
andre Richtung gab." Hume hatte lange vor Kant schon eingesehen, daß die
Mittel, mit denen die dogmatische Philosophie die Erkenntniß der Dinge erstrebte,
zu dieser Absicht nicht hinreichen, daß weder die bloße Erfahrung noch der reine
Verstand jene Erkenntniß zu erreichen vermöge. Aber diese Einsicht hatte bei
ihm kein andres Resultat gehabt, als den Skepticismus; er sah die Unmöglich¬
keit der Erkenntniß auf dem bisher betretnen Wege und verzweifelte deshalb um
Erkennen überhaupt. "Er brachte," wie Kant sagt, "kein Licht in diese Art von
Erkenntniß, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht
hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte."
Diesen empfänglichen Zunder sollte der von Hume geschlagne Funke erst in Kant
selbst finden, aber hier sollte er dann anch ein Feuer entzünden, das den alte"
morschen Bau der bisherigen Philosophie in kurzem zerstörte.

Den ebeu geschilderten Systemen also setzt Kant seine Philosophie als die
kritische entgegen, welche die Möglichkeit der Erkenntniß weder kritiklos voraus¬
setzt, wie der Dogmatismus, noch auch einfach bestreitet, wie der Skepticismus,
sondern sie kritisch zu untersuchen und auf ihre Bedingungen hin zu prüfen
unternimmt. Was die bisherige Philosophie zu sein beanspruchte, Erkenntniß
der Dinge, das grade niaHt Kant zum Gegenstande des Philosophirens. Er
hat damit der Philosophie ein vollständig neues Object und zugleich die Stellung
einer selbständigen, gesicherten Wissenschaft gegeben, was sie bisher eigentlich nicht
war. Denn auf dem Gebiete der Metaphysik, als Erkenntniß der übernatürlichen
Dinge, hatte sie durch die vereinten Angriffe des Skepticismus wie des Empirismus
so wie so ihren Credit schon fast vollständig eingebüßt, und ihre Tage waren hier
gezählt; es blieb ihr also mir noch die Würde einer Erfahrungswissenschaft, und


Zum Jul'kleinen eines Buches.

Leibniz schuf kein eigentliches System; und als seine Schüler, in erster Linie
Wolff, nach seinem Tode daran gingen, seine Gedanken systematisch auszubauen,
da zerfiel unter ihren Händen anch jene Vereinigung von speculativer und empirischer
Erkenntniß wieder, und was schließlich als Resultat ihrer systematisirenden Ar¬
beit dastand, die sogenannte Leilmiz-wolffische Philosophie, das trug im wesent¬
lichen wieder ein rationales mathematisches Gewand, Dieses System also war
das in Deutschland herrschende, als Kant seine philosophische Thätigkeit begann,
und er selbst war ein Anhänger dieser Philosophie; Jahre lang legte er seinen
Vorlesungen Compendien zu Grunde, die ans der Wvlffische» Schule hervorge¬
gangen waren. Was ihn an diesem Dogmatismus endlich irre werden ließ, war
das Studium der Humeschen Schriften. „Ich gestehe frei," schreibt er in der
Vorrede zu den Prolegomena, „die Erinnerung des David Hume war eben das¬
jenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unter¬
brach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz
andre Richtung gab." Hume hatte lange vor Kant schon eingesehen, daß die
Mittel, mit denen die dogmatische Philosophie die Erkenntniß der Dinge erstrebte,
zu dieser Absicht nicht hinreichen, daß weder die bloße Erfahrung noch der reine
Verstand jene Erkenntniß zu erreichen vermöge. Aber diese Einsicht hatte bei
ihm kein andres Resultat gehabt, als den Skepticismus; er sah die Unmöglich¬
keit der Erkenntniß auf dem bisher betretnen Wege und verzweifelte deshalb um
Erkennen überhaupt. „Er brachte," wie Kant sagt, „kein Licht in diese Art von
Erkenntniß, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht
hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte."
Diesen empfänglichen Zunder sollte der von Hume geschlagne Funke erst in Kant
selbst finden, aber hier sollte er dann anch ein Feuer entzünden, das den alte»
morschen Bau der bisherigen Philosophie in kurzem zerstörte.

Den ebeu geschilderten Systemen also setzt Kant seine Philosophie als die
kritische entgegen, welche die Möglichkeit der Erkenntniß weder kritiklos voraus¬
setzt, wie der Dogmatismus, noch auch einfach bestreitet, wie der Skepticismus,
sondern sie kritisch zu untersuchen und auf ihre Bedingungen hin zu prüfen
unternimmt. Was die bisherige Philosophie zu sein beanspruchte, Erkenntniß
der Dinge, das grade niaHt Kant zum Gegenstande des Philosophirens. Er
hat damit der Philosophie ein vollständig neues Object und zugleich die Stellung
einer selbständigen, gesicherten Wissenschaft gegeben, was sie bisher eigentlich nicht
war. Denn auf dem Gebiete der Metaphysik, als Erkenntniß der übernatürlichen
Dinge, hatte sie durch die vereinten Angriffe des Skepticismus wie des Empirismus
so wie so ihren Credit schon fast vollständig eingebüßt, und ihre Tage waren hier
gezählt; es blieb ihr also mir noch die Würde einer Erfahrungswissenschaft, und


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[0544] Zum Jul'kleinen eines Buches. Leibniz schuf kein eigentliches System; und als seine Schüler, in erster Linie Wolff, nach seinem Tode daran gingen, seine Gedanken systematisch auszubauen, da zerfiel unter ihren Händen anch jene Vereinigung von speculativer und empirischer Erkenntniß wieder, und was schließlich als Resultat ihrer systematisirenden Ar¬ beit dastand, die sogenannte Leilmiz-wolffische Philosophie, das trug im wesent¬ lichen wieder ein rationales mathematisches Gewand, Dieses System also war das in Deutschland herrschende, als Kant seine philosophische Thätigkeit begann, und er selbst war ein Anhänger dieser Philosophie; Jahre lang legte er seinen Vorlesungen Compendien zu Grunde, die ans der Wvlffische» Schule hervorge¬ gangen waren. Was ihn an diesem Dogmatismus endlich irre werden ließ, war das Studium der Humeschen Schriften. „Ich gestehe frei," schreibt er in der Vorrede zu den Prolegomena, „die Erinnerung des David Hume war eben das¬ jenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unter¬ brach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab." Hume hatte lange vor Kant schon eingesehen, daß die Mittel, mit denen die dogmatische Philosophie die Erkenntniß der Dinge erstrebte, zu dieser Absicht nicht hinreichen, daß weder die bloße Erfahrung noch der reine Verstand jene Erkenntniß zu erreichen vermöge. Aber diese Einsicht hatte bei ihm kein andres Resultat gehabt, als den Skepticismus; er sah die Unmöglich¬ keit der Erkenntniß auf dem bisher betretnen Wege und verzweifelte deshalb um Erkennen überhaupt. „Er brachte," wie Kant sagt, „kein Licht in diese Art von Erkenntniß, aber er schlug doch einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte." Diesen empfänglichen Zunder sollte der von Hume geschlagne Funke erst in Kant selbst finden, aber hier sollte er dann anch ein Feuer entzünden, das den alte» morschen Bau der bisherigen Philosophie in kurzem zerstörte. Den ebeu geschilderten Systemen also setzt Kant seine Philosophie als die kritische entgegen, welche die Möglichkeit der Erkenntniß weder kritiklos voraus¬ setzt, wie der Dogmatismus, noch auch einfach bestreitet, wie der Skepticismus, sondern sie kritisch zu untersuchen und auf ihre Bedingungen hin zu prüfen unternimmt. Was die bisherige Philosophie zu sein beanspruchte, Erkenntniß der Dinge, das grade niaHt Kant zum Gegenstande des Philosophirens. Er hat damit der Philosophie ein vollständig neues Object und zugleich die Stellung einer selbständigen, gesicherten Wissenschaft gegeben, was sie bisher eigentlich nicht war. Denn auf dem Gebiete der Metaphysik, als Erkenntniß der übernatürlichen Dinge, hatte sie durch die vereinten Angriffe des Skepticismus wie des Empirismus so wie so ihren Credit schon fast vollständig eingebüßt, und ihre Tage waren hier gezählt; es blieb ihr also mir noch die Würde einer Erfahrungswissenschaft, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/544>, abgerufen am 23.07.2024.