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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Zum Jubiläum eines Lundes,

er sollte den Werth einer so aufgeklärten Verwaltung für die Freiheit der Wissen¬
schaft noch mehr schätzen lernen, als im Juli 1788, zwei Jahre nach dem Tode
des großen Königs, Frhr, 0, Zedlitz vom Ministerium zurücktreten mußte und
an seine Stelle ein fanatischer Theologe, der frühere Prediger Johann Christian
Wölluer trat. Eine der ersten Verwaltnngsmaßregcln dieses Mannes war der Er¬
laß jenes Glaubcnsbefehlcs, des berüchtigten Wöllnerschen ReligionSediets, welches
allen Religionslehrern zur strengen Pflicht machte, genau nach dem in den Symbolen
festgesetzten Kirchenglauben zu lehren, widrigenfalls sie Entsetzung vom Amte zu
gewärtigen hätten. Zwar blieb Kant einstweilen noch unangefochten; nachdem
er aber im Jahre 1793 seine Schrift- "Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft" veröffentlicht hatte, die großes Aufsehen machte und schnell
eine weite Verbreitung erlangte, erhielt er im October 1794 eine sehr ungnädige
Cabinetsordre, in welcher er zur Verantwortung darüber aufgefordert wurde,
daß er seine Philosophie zur Herabwürdigung mancher Hauptlehren des Christen¬
thums mißbrauche, und welche die Erwartung aussprach, daß er "sich künftig¬
hin nicht dergleichen werde zu Schulden kommen lassen." Zugleich wurden sämmtliche
theologische und philosophische Docenten der Universität Königsberg verpflichtet,
über Kants "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" keine Vor¬
lesungen zu halten, Kant empfand diese Behandlung seitens der Behörde als eine
bittre Verletzung, Daß er, ein Mann der lautersten Gesinnung, ein so aufrichtiger
Verehrer der christlichen Religion, ein Lehrer von seltner Pflichttreue, gewisser¬
maßen als ein gemeingefährliches Individuum angesehen wurde, das hat den
siebzigjährigen Greis tief gebeugt und ihm die bisherige Freudigkeit seines Geistes
für immer benommen. Wenn in diesen widerwärtigen Schicksalen etwas ihn auf¬
zurichten und zu erfreuen geeignet war, so war es die allgemeine Anerkennung,
die ihm von allen Seiten zu theil ward, und der Ruhm, mit dem sein Name
schon damals weit über Deutschlands Grenzen hinaus genannt wurde.

Was nun ist es in seiner Lehre, das ihm diese Anerkennung einbrachte und
wodurch vor allem sein Hauptwerk, die "Kritik der reinen Vernunft," zu einer
so epochemachenden Erscheinung in der Geschichte der Philosophie geworden ist?
Kant nannte seine Lehre kritische Philosophie oder Kriticismus und stellte
sie schon dnrch diese Bezeichnung in Gegensatz zu allein bisherigen Philosophiren.
Alle Philosophie vor Kant war nämlich entweder dogmatisch oder skeptisch,
je nach der Ansicht, welche die Philvsophirenden von der philosophischen Er¬
kenntniß selbst hatten. Die einen setzten bei -ihrem Bestreben, die Dinge zu er¬
kennen -- und Erkenntniß der Dinge im weitesten Umfange wollte die Philosophie
ja eben sein -- die Möglichkeit einer solchen Erkenntniß einfach voraus, hielten
sie für etwas selbstverständliches, das eines Beweises gar nicht bedürfe; die


Zum Jubiläum eines Lundes,

er sollte den Werth einer so aufgeklärten Verwaltung für die Freiheit der Wissen¬
schaft noch mehr schätzen lernen, als im Juli 1788, zwei Jahre nach dem Tode
des großen Königs, Frhr, 0, Zedlitz vom Ministerium zurücktreten mußte und
an seine Stelle ein fanatischer Theologe, der frühere Prediger Johann Christian
Wölluer trat. Eine der ersten Verwaltnngsmaßregcln dieses Mannes war der Er¬
laß jenes Glaubcnsbefehlcs, des berüchtigten Wöllnerschen ReligionSediets, welches
allen Religionslehrern zur strengen Pflicht machte, genau nach dem in den Symbolen
festgesetzten Kirchenglauben zu lehren, widrigenfalls sie Entsetzung vom Amte zu
gewärtigen hätten. Zwar blieb Kant einstweilen noch unangefochten; nachdem
er aber im Jahre 1793 seine Schrift- „Religion innerhalb der Grenzen der
bloßen Vernunft" veröffentlicht hatte, die großes Aufsehen machte und schnell
eine weite Verbreitung erlangte, erhielt er im October 1794 eine sehr ungnädige
Cabinetsordre, in welcher er zur Verantwortung darüber aufgefordert wurde,
daß er seine Philosophie zur Herabwürdigung mancher Hauptlehren des Christen¬
thums mißbrauche, und welche die Erwartung aussprach, daß er „sich künftig¬
hin nicht dergleichen werde zu Schulden kommen lassen." Zugleich wurden sämmtliche
theologische und philosophische Docenten der Universität Königsberg verpflichtet,
über Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" keine Vor¬
lesungen zu halten, Kant empfand diese Behandlung seitens der Behörde als eine
bittre Verletzung, Daß er, ein Mann der lautersten Gesinnung, ein so aufrichtiger
Verehrer der christlichen Religion, ein Lehrer von seltner Pflichttreue, gewisser¬
maßen als ein gemeingefährliches Individuum angesehen wurde, das hat den
siebzigjährigen Greis tief gebeugt und ihm die bisherige Freudigkeit seines Geistes
für immer benommen. Wenn in diesen widerwärtigen Schicksalen etwas ihn auf¬
zurichten und zu erfreuen geeignet war, so war es die allgemeine Anerkennung,
die ihm von allen Seiten zu theil ward, und der Ruhm, mit dem sein Name
schon damals weit über Deutschlands Grenzen hinaus genannt wurde.

Was nun ist es in seiner Lehre, das ihm diese Anerkennung einbrachte und
wodurch vor allem sein Hauptwerk, die „Kritik der reinen Vernunft," zu einer
so epochemachenden Erscheinung in der Geschichte der Philosophie geworden ist?
Kant nannte seine Lehre kritische Philosophie oder Kriticismus und stellte
sie schon dnrch diese Bezeichnung in Gegensatz zu allein bisherigen Philosophiren.
Alle Philosophie vor Kant war nämlich entweder dogmatisch oder skeptisch,
je nach der Ansicht, welche die Philvsophirenden von der philosophischen Er¬
kenntniß selbst hatten. Die einen setzten bei -ihrem Bestreben, die Dinge zu er¬
kennen — und Erkenntniß der Dinge im weitesten Umfange wollte die Philosophie
ja eben sein — die Möglichkeit einer solchen Erkenntniß einfach voraus, hielten
sie für etwas selbstverständliches, das eines Beweises gar nicht bedürfe; die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/542>, abgerufen am 23.07.2024.