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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Die bulgarische Krisis.

in der Opposition gegen die Turkenherrschaft hervorgethan, und es fragte sich nur,
ob sie sich auch bewähren würden, wo es Positive Leistungen galt, wo Organiscitions-
tälent, politische Schöpferkraft erfordert war. Die aber war ihnen nur in sehr
mäßigem Grade beschieden, und dazu kam, daß sich sehr bald eine systematische
Opposition gegen das neue Cabinet ausbildete, eine Opposition, welche fortwährend
zunahm, da die Minister zögerten, die Maßregeln dagegen zu ergreifen, welche die
Umstände geboten, und die man in ältern Staaten ohne Zweifel sofort angewendet
haben würde. Die, welche sich als Häupter der nttraliberalcn Partei betrachteten,
hielten sich für bestimmt, an das Staatsruder zu treten, und Bulgarien war, soweit
es überhaupt an politischen Dingen Interesse hatte, bald in zlvei Lager getheilt,
die, welche bereits die Macht besaßen, und die, welche sie zu besitzen wünschten. Es
war die reine Aemter- und Stellcnjagd, wenn von feiten der Radicalen gegen die
Regierung Sturm gelaufen wurde. Jnbetreff des politischen Credo war zwischen
den beiden Parteien kann ein andrer Unterschied zu entdecken, als der, daß die
Ultras die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien sofort herbeiführen möchten,
wogegen die Moderirten die Trennung der beiden Länder zwar auch für ein himmel¬
schreiendes Unrecht halten, aber doch begriffen haben, daß die europäischen Mächte
das von ihnen Geschaffne von den Bulgaren nicht umgestalten lassen werden, und
daß letztre sich bis auf weitres in das Unabänderliche zu fügen haben. Das Pro¬
gramm der Opposition war aber, wie gesagt, rein persönlichen Inhalts, es lautete
dem Ministerium gegenüber kurz: Steht auf, damit wir uns setzen können. Mit
diesem Ziele vor Augen bezeichnete man jede Verfügung, jeden Act des Cabinets
als unconstitntivncll. Eine der klügsten und zeitgemäßestcu Maßregeln der Minister
z. B. war die Niedcrsetznng einer gemischten Commission zur Wiedereinführung der
geflüchtet"" muslimischen Bevölkerung des Landes in ihre frühern Besitzungen. Die
Opposition griff diese ebenso vernünftige als von der Gerechtigkeit gebotne Ma߬
regel mit förmlicher Wuth an und betrieb ihre Wühlerei im Lande bis zu dem
Grade, daß die Bevölkerung in verschiednen Bezirken die Steuern verweigerte, Ver¬
minderung, ja völlige Abschaffung der Abgaben forderte und daran das Verlangen
nach Einziehung alles Grundeigenthums der Muhamedaner knüpfte.

Endlich fanden im October 1879 die Wahlen für die gesetzgebende Versammlung
statt. Nach Artikel 86 der Verfassung sind die Abgeordneten auf directem Wege
und in dem Verhältnisse zu wählen, daß einer auf 10 000 Seelen der Bevölkerung
kommt. Die Wähler müssen mindestens 21 Jahre alt sein, und jeder Bulgar, der älter
als 30 Jahre ist, sich des Besitzes seiner politischen und bürgerlichen Rechte erfreut
und lesen und schreiben kann, darf Abgeordneter werden. Es herrscht also das all¬
gemeine und fast unbeschränkte Wahlrecht -- eine bewundernswerthe Einrichtung,
die einem Volke, welches eben erst aus fünfhundertjähriger Sclaverei entlassen worden
und kaum halb der Barbarei entrückt ist, die Rechte und Freiheiten beilegt, welche
viele hochgebildete Nationen noch nicht besitzen. Es war fast selbstverständlich, daß
die Radicalen bei den Wahlen einen beinahe vollständigen Sieg erfochten, und die


Die bulgarische Krisis.

in der Opposition gegen die Turkenherrschaft hervorgethan, und es fragte sich nur,
ob sie sich auch bewähren würden, wo es Positive Leistungen galt, wo Organiscitions-
tälent, politische Schöpferkraft erfordert war. Die aber war ihnen nur in sehr
mäßigem Grade beschieden, und dazu kam, daß sich sehr bald eine systematische
Opposition gegen das neue Cabinet ausbildete, eine Opposition, welche fortwährend
zunahm, da die Minister zögerten, die Maßregeln dagegen zu ergreifen, welche die
Umstände geboten, und die man in ältern Staaten ohne Zweifel sofort angewendet
haben würde. Die, welche sich als Häupter der nttraliberalcn Partei betrachteten,
hielten sich für bestimmt, an das Staatsruder zu treten, und Bulgarien war, soweit
es überhaupt an politischen Dingen Interesse hatte, bald in zlvei Lager getheilt,
die, welche bereits die Macht besaßen, und die, welche sie zu besitzen wünschten. Es
war die reine Aemter- und Stellcnjagd, wenn von feiten der Radicalen gegen die
Regierung Sturm gelaufen wurde. Jnbetreff des politischen Credo war zwischen
den beiden Parteien kann ein andrer Unterschied zu entdecken, als der, daß die
Ultras die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien sofort herbeiführen möchten,
wogegen die Moderirten die Trennung der beiden Länder zwar auch für ein himmel¬
schreiendes Unrecht halten, aber doch begriffen haben, daß die europäischen Mächte
das von ihnen Geschaffne von den Bulgaren nicht umgestalten lassen werden, und
daß letztre sich bis auf weitres in das Unabänderliche zu fügen haben. Das Pro¬
gramm der Opposition war aber, wie gesagt, rein persönlichen Inhalts, es lautete
dem Ministerium gegenüber kurz: Steht auf, damit wir uns setzen können. Mit
diesem Ziele vor Augen bezeichnete man jede Verfügung, jeden Act des Cabinets
als unconstitntivncll. Eine der klügsten und zeitgemäßestcu Maßregeln der Minister
z. B. war die Niedcrsetznng einer gemischten Commission zur Wiedereinführung der
geflüchtet«» muslimischen Bevölkerung des Landes in ihre frühern Besitzungen. Die
Opposition griff diese ebenso vernünftige als von der Gerechtigkeit gebotne Ma߬
regel mit förmlicher Wuth an und betrieb ihre Wühlerei im Lande bis zu dem
Grade, daß die Bevölkerung in verschiednen Bezirken die Steuern verweigerte, Ver¬
minderung, ja völlige Abschaffung der Abgaben forderte und daran das Verlangen
nach Einziehung alles Grundeigenthums der Muhamedaner knüpfte.

Endlich fanden im October 1879 die Wahlen für die gesetzgebende Versammlung
statt. Nach Artikel 86 der Verfassung sind die Abgeordneten auf directem Wege
und in dem Verhältnisse zu wählen, daß einer auf 10 000 Seelen der Bevölkerung
kommt. Die Wähler müssen mindestens 21 Jahre alt sein, und jeder Bulgar, der älter
als 30 Jahre ist, sich des Besitzes seiner politischen und bürgerlichen Rechte erfreut
und lesen und schreiben kann, darf Abgeordneter werden. Es herrscht also das all¬
gemeine und fast unbeschränkte Wahlrecht — eine bewundernswerthe Einrichtung,
die einem Volke, welches eben erst aus fünfhundertjähriger Sclaverei entlassen worden
und kaum halb der Barbarei entrückt ist, die Rechte und Freiheiten beilegt, welche
viele hochgebildete Nationen noch nicht besitzen. Es war fast selbstverständlich, daß
die Radicalen bei den Wahlen einen beinahe vollständigen Sieg erfochten, und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/535>, abgerufen am 26.08.2024.