Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Polens Wiedergeburt.

die deutsche demokratische Presse über die Stellung, welche Preußen zu demselben
einnahm! Seitdem hat man besser sehen gelernt, wenn auch nicht überall. In
weiten Kreisen ist begriffen worden, daß keine der westlichen Großmächte an einer
dauernden Wiederherstellung eines Königreichs Polen ein wirkliches Interesse
haben kann, selbst Frankreich nicht, um wenigsten aber Deutschland und Oester¬
reich. Und ebenso hat man fast allgemein eingesehen, daß die Polen so wenig
Anspruch auf Anerkennung ihres vermeintlichen Rechts zu selbständiger Existenz
besitzen wie die Jrlünder. Indeß giebt es noch immer Phantasten, die Polen
noch nicht für verloren halten, und manche Nüchterne könnten unter Umständen
wieder auf ihre alten Meinungen zurückkommen; denn gewisse Irrthümer recur-
riren wie das Wechselfieber.

Insofern ist es gut, wenn gelegentlich daran erinnert wird, wie es in Wahr¬
heit um jenes Interesse und jenes Recht steht, und so halten wir ein eben er¬
schienenes Buch über die genannte Frage nicht für überflüssig. Es nennt sich
"Polen und die Großmächte" (Leipzig, W. Friedrich) und sagt uns in den
beiden Abhandlungen, in die es zerfällt, zwar nichts Neues, das Bekannte aber
in gefälliger Sprache und mit Einflechtung hübscher Charakteristiken und Anek¬
doten. Der erste Abschnitt, "Nach dem Rhein!" betitelt, zeigt, wie Napoleon
den Aufstand von 1863 in der Absicht hervorrief und unterstützte, um Gelegen¬
heit zu einem Angriff auf Preußen zu finden, aber in Bismarck seinem Meister
begegnete, der zweite, "Nach Lemnrien!" überschrieben, ist eine fast durchgehends
witzige Persiflage der Ansicht, Polen müsse von den Mächten aus Gründen
des Rechts wiederhergestellt werden. Vieles darin ist ungemein komisch, und
dn wir der Meinung sind, daß die Methode des rickönclo clivörs vsrum zu Zeiten
ernster Beweisführung vorzuziehen ist, so wollen wir dem Verfasser mit einer
Analyse seines Scherzes folgen.

Wir befinden uns -- am 30. Februar -- im preußischen Abgeordneten-
hause. Der Pole Lipowicki und Genossen habe", unterstützt vom Centrum, den
Partieularistcn und der äußersten Linken, den Antrag eingebracht: Der Cultus-
minister Falk möge den Roman der Frau Marlitt: "Das Geheimniß der alten
Mamsell" als Lesebuch in alle Schulen des preußischen Staates einführen, wobei
sie auf die moralische Tendenz des Buches hinweisen, nach welcher ein Unrecht
niemals verjährt, so daß man unrecht erworbnes Gut nicht behalten darf, sondern
es, wenn auch noch so spät, dem rechtmäßigen Eigenthümer zurückerstatten muß.
Um diesem heiligen und ewigen ^firineipe gerecht zu werden, müsse man Polen
wiederherstellen; denn die jetzt zu Preußen gehörigen ehemals polnischen Land¬
striche seien durch Eroberung, also durch rohe Gewalt erworben. Ueber diesen
Antrag entspinnt sich ein lebhafter Kampf, der lange mit abwechselndem Glücke


Polens Wiedergeburt.

die deutsche demokratische Presse über die Stellung, welche Preußen zu demselben
einnahm! Seitdem hat man besser sehen gelernt, wenn auch nicht überall. In
weiten Kreisen ist begriffen worden, daß keine der westlichen Großmächte an einer
dauernden Wiederherstellung eines Königreichs Polen ein wirkliches Interesse
haben kann, selbst Frankreich nicht, um wenigsten aber Deutschland und Oester¬
reich. Und ebenso hat man fast allgemein eingesehen, daß die Polen so wenig
Anspruch auf Anerkennung ihres vermeintlichen Rechts zu selbständiger Existenz
besitzen wie die Jrlünder. Indeß giebt es noch immer Phantasten, die Polen
noch nicht für verloren halten, und manche Nüchterne könnten unter Umständen
wieder auf ihre alten Meinungen zurückkommen; denn gewisse Irrthümer recur-
riren wie das Wechselfieber.

Insofern ist es gut, wenn gelegentlich daran erinnert wird, wie es in Wahr¬
heit um jenes Interesse und jenes Recht steht, und so halten wir ein eben er¬
schienenes Buch über die genannte Frage nicht für überflüssig. Es nennt sich
„Polen und die Großmächte" (Leipzig, W. Friedrich) und sagt uns in den
beiden Abhandlungen, in die es zerfällt, zwar nichts Neues, das Bekannte aber
in gefälliger Sprache und mit Einflechtung hübscher Charakteristiken und Anek¬
doten. Der erste Abschnitt, „Nach dem Rhein!" betitelt, zeigt, wie Napoleon
den Aufstand von 1863 in der Absicht hervorrief und unterstützte, um Gelegen¬
heit zu einem Angriff auf Preußen zu finden, aber in Bismarck seinem Meister
begegnete, der zweite, „Nach Lemnrien!" überschrieben, ist eine fast durchgehends
witzige Persiflage der Ansicht, Polen müsse von den Mächten aus Gründen
des Rechts wiederhergestellt werden. Vieles darin ist ungemein komisch, und
dn wir der Meinung sind, daß die Methode des rickönclo clivörs vsrum zu Zeiten
ernster Beweisführung vorzuziehen ist, so wollen wir dem Verfasser mit einer
Analyse seines Scherzes folgen.

Wir befinden uns — am 30. Februar — im preußischen Abgeordneten-
hause. Der Pole Lipowicki und Genossen habe», unterstützt vom Centrum, den
Partieularistcn und der äußersten Linken, den Antrag eingebracht: Der Cultus-
minister Falk möge den Roman der Frau Marlitt: „Das Geheimniß der alten
Mamsell" als Lesebuch in alle Schulen des preußischen Staates einführen, wobei
sie auf die moralische Tendenz des Buches hinweisen, nach welcher ein Unrecht
niemals verjährt, so daß man unrecht erworbnes Gut nicht behalten darf, sondern
es, wenn auch noch so spät, dem rechtmäßigen Eigenthümer zurückerstatten muß.
Um diesem heiligen und ewigen ^firineipe gerecht zu werden, müsse man Polen
wiederherstellen; denn die jetzt zu Preußen gehörigen ehemals polnischen Land¬
striche seien durch Eroberung, also durch rohe Gewalt erworben. Ueber diesen
Antrag entspinnt sich ein lebhafter Kampf, der lange mit abwechselndem Glücke


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0514" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150086"/>
          <fw type="header" place="top"> Polens Wiedergeburt.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1717" prev="#ID_1716"> die deutsche demokratische Presse über die Stellung, welche Preußen zu demselben<lb/>
einnahm! Seitdem hat man besser sehen gelernt, wenn auch nicht überall. In<lb/>
weiten Kreisen ist begriffen worden, daß keine der westlichen Großmächte an einer<lb/>
dauernden Wiederherstellung eines Königreichs Polen ein wirkliches Interesse<lb/>
haben kann, selbst Frankreich nicht, um wenigsten aber Deutschland und Oester¬<lb/>
reich. Und ebenso hat man fast allgemein eingesehen, daß die Polen so wenig<lb/>
Anspruch auf Anerkennung ihres vermeintlichen Rechts zu selbständiger Existenz<lb/>
besitzen wie die Jrlünder. Indeß giebt es noch immer Phantasten, die Polen<lb/>
noch nicht für verloren halten, und manche Nüchterne könnten unter Umständen<lb/>
wieder auf ihre alten Meinungen zurückkommen; denn gewisse Irrthümer recur-<lb/>
riren wie das Wechselfieber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1718"> Insofern ist es gut, wenn gelegentlich daran erinnert wird, wie es in Wahr¬<lb/>
heit um jenes Interesse und jenes Recht steht, und so halten wir ein eben er¬<lb/>
schienenes Buch über die genannte Frage nicht für überflüssig. Es nennt sich<lb/>
&#x201E;Polen und die Großmächte" (Leipzig, W. Friedrich) und sagt uns in den<lb/>
beiden Abhandlungen, in die es zerfällt, zwar nichts Neues, das Bekannte aber<lb/>
in gefälliger Sprache und mit Einflechtung hübscher Charakteristiken und Anek¬<lb/>
doten. Der erste Abschnitt, &#x201E;Nach dem Rhein!" betitelt, zeigt, wie Napoleon<lb/>
den Aufstand von 1863 in der Absicht hervorrief und unterstützte, um Gelegen¬<lb/>
heit zu einem Angriff auf Preußen zu finden, aber in Bismarck seinem Meister<lb/>
begegnete, der zweite, &#x201E;Nach Lemnrien!" überschrieben, ist eine fast durchgehends<lb/>
witzige Persiflage der Ansicht, Polen müsse von den Mächten aus Gründen<lb/>
des Rechts wiederhergestellt werden. Vieles darin ist ungemein komisch, und<lb/>
dn wir der Meinung sind, daß die Methode des rickönclo clivörs vsrum zu Zeiten<lb/>
ernster Beweisführung vorzuziehen ist, so wollen wir dem Verfasser mit einer<lb/>
Analyse seines Scherzes folgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1719" next="#ID_1720"> Wir befinden uns &#x2014; am 30. Februar &#x2014; im preußischen Abgeordneten-<lb/>
hause. Der Pole Lipowicki und Genossen habe», unterstützt vom Centrum, den<lb/>
Partieularistcn und der äußersten Linken, den Antrag eingebracht: Der Cultus-<lb/>
minister Falk möge den Roman der Frau Marlitt: &#x201E;Das Geheimniß der alten<lb/>
Mamsell" als Lesebuch in alle Schulen des preußischen Staates einführen, wobei<lb/>
sie auf die moralische Tendenz des Buches hinweisen, nach welcher ein Unrecht<lb/>
niemals verjährt, so daß man unrecht erworbnes Gut nicht behalten darf, sondern<lb/>
es, wenn auch noch so spät, dem rechtmäßigen Eigenthümer zurückerstatten muß.<lb/>
Um diesem heiligen und ewigen ^firineipe gerecht zu werden, müsse man Polen<lb/>
wiederherstellen; denn die jetzt zu Preußen gehörigen ehemals polnischen Land¬<lb/>
striche seien durch Eroberung, also durch rohe Gewalt erworben. Ueber diesen<lb/>
Antrag entspinnt sich ein lebhafter Kampf, der lange mit abwechselndem Glücke</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0514] Polens Wiedergeburt. die deutsche demokratische Presse über die Stellung, welche Preußen zu demselben einnahm! Seitdem hat man besser sehen gelernt, wenn auch nicht überall. In weiten Kreisen ist begriffen worden, daß keine der westlichen Großmächte an einer dauernden Wiederherstellung eines Königreichs Polen ein wirkliches Interesse haben kann, selbst Frankreich nicht, um wenigsten aber Deutschland und Oester¬ reich. Und ebenso hat man fast allgemein eingesehen, daß die Polen so wenig Anspruch auf Anerkennung ihres vermeintlichen Rechts zu selbständiger Existenz besitzen wie die Jrlünder. Indeß giebt es noch immer Phantasten, die Polen noch nicht für verloren halten, und manche Nüchterne könnten unter Umständen wieder auf ihre alten Meinungen zurückkommen; denn gewisse Irrthümer recur- riren wie das Wechselfieber. Insofern ist es gut, wenn gelegentlich daran erinnert wird, wie es in Wahr¬ heit um jenes Interesse und jenes Recht steht, und so halten wir ein eben er¬ schienenes Buch über die genannte Frage nicht für überflüssig. Es nennt sich „Polen und die Großmächte" (Leipzig, W. Friedrich) und sagt uns in den beiden Abhandlungen, in die es zerfällt, zwar nichts Neues, das Bekannte aber in gefälliger Sprache und mit Einflechtung hübscher Charakteristiken und Anek¬ doten. Der erste Abschnitt, „Nach dem Rhein!" betitelt, zeigt, wie Napoleon den Aufstand von 1863 in der Absicht hervorrief und unterstützte, um Gelegen¬ heit zu einem Angriff auf Preußen zu finden, aber in Bismarck seinem Meister begegnete, der zweite, „Nach Lemnrien!" überschrieben, ist eine fast durchgehends witzige Persiflage der Ansicht, Polen müsse von den Mächten aus Gründen des Rechts wiederhergestellt werden. Vieles darin ist ungemein komisch, und dn wir der Meinung sind, daß die Methode des rickönclo clivörs vsrum zu Zeiten ernster Beweisführung vorzuziehen ist, so wollen wir dem Verfasser mit einer Analyse seines Scherzes folgen. Wir befinden uns — am 30. Februar — im preußischen Abgeordneten- hause. Der Pole Lipowicki und Genossen habe», unterstützt vom Centrum, den Partieularistcn und der äußersten Linken, den Antrag eingebracht: Der Cultus- minister Falk möge den Roman der Frau Marlitt: „Das Geheimniß der alten Mamsell" als Lesebuch in alle Schulen des preußischen Staates einführen, wobei sie auf die moralische Tendenz des Buches hinweisen, nach welcher ein Unrecht niemals verjährt, so daß man unrecht erworbnes Gut nicht behalten darf, sondern es, wenn auch noch so spät, dem rechtmäßigen Eigenthümer zurückerstatten muß. Um diesem heiligen und ewigen ^firineipe gerecht zu werden, müsse man Polen wiederherstellen; denn die jetzt zu Preußen gehörigen ehemals polnischen Land¬ striche seien durch Eroberung, also durch rohe Gewalt erworben. Ueber diesen Antrag entspinnt sich ein lebhafter Kampf, der lange mit abwechselndem Glücke

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/514
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/514>, abgerufen am 23.07.2024.