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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Calderon.

Lycas dagegen, der Oberfeldherr zu Lande, stellt sich auf die Seite des neuen
Herrschers. Semiramis zieht sich in tiefste Vcrlivrgeuheit zurück und läßt keinen
Meuschen vor sich. Ninyas, seiner äußern Erscheinung nach das täuschende Eben¬
bild, in allem übrigen das directe Widerspiel der Mutter, eröffnet seine Herr¬
schaft mit einer Reihe neuer Maßregeln und Anordnungen. Phryxus wird seiner
Stellung entsetzt und diese seinem Bruder Lycas zuertheilt, Lidvr, der den jungen
Herrscher vor dem Unbestand des Glückes warnt, aus seinem schmachvollen Zu¬
stande befreit. Ninyas liebt Asträa, eine der Frauen der Semiramis, die zugleich
von Phryxus umworben wird, aber ihre Liebe dem Ehrgeiz zum Opfer bringt --
ein Beispiel für die Eigenthümlichkeit des Dichters, ähnlich wie Shakespeare den
Hauptpersonen Nebenfiguren zur Seite zu stellen, in denen einzelne Züge der
Haupthelden ihre Parallele finden. Dem Ninyas wird die Nachricht, daß Iran
zur Befreiung seines Vaters Lidor heranrücke. Phryxus hat eine nächtliche
Unterredung im Parke mit Semiramis, die ihm ihre Absicht mittheilt, in Männer-
kleidern die Rolle ihres Sohnes zu spielen; diesen zu beseitigen fordert sie Phryxus'
Beistand, der den schlafenden jungen König ins Gemach seiner Mutter trägt,
die inzwischen seine Kleider anlegt. Die List glückt und Semiramis sieht sich
von neuem im Besitz der ersehnten Macht. Die ersten Schritte, die sie thut,
und mit denen sie alles, was kurz vorher ihr Sohn angeordnet, umstößt, rufen
allgemeines Erstaunen hervor: Lycas fällt in Ungnade, auf Phryxus häufen sich
Gunst und Ehren, und Asträa muß ihm die Hand reichen. Lidor wird einge¬
kerkert, er entkommt jedoch und stellt sich an die Spitze des zu seiner Befreiung
nahenden Heeres. Semiramis wird im Felde besiegt und stirbt verwundet unter
schrecklichen Visionen, hervorgerufen durch das Kcttenrasfeln des Chako, der von
ihr zum Loose Lidors verurtheilt, in der allgemeinen Verwirrung sich frei ge¬
macht hat. Die Babylonier suchen nach dem Tode des vermeinten Königs die
letzte Rettung bei Semiramis, an deren Stelle ihnen Ninyas entgegentritt. Lidor
bezeugt ihm seine Dankbarkeit durch sofortige Einstellung des Kampfes.

Auf die tragische Wucht der überwältigenden Hauptscenen, die meisterhaft
durchgeführte psychologische Zeichnung, die auch den Nebenpersonen zu Theil
wird, auf die Hereinziehung kölnischer Elemente, durch die auch hier wie im
"Wunderthütigen Magus" und anderwärts das Tragische eine wirksame Folie er¬
hält, auf die vortreffliche Steigerung, die innerhalb jedes einzelnen Theils und
zwischen beiden stattfindet, kann nur im allgemeinen hingewiesen werden. Es
sei bemerkt, daß Goethe, der die "Tochter der Luft" für das herrlichste von
Calderons Stücken erklärte, demselben eine eigne längre Abhandlung widmete.*)



"Ueber Kunst und Alterthum," 3. Heft des 3. Bandes (1821). In einem Briefe an
Zelter vom 6. Februar 1827 nennt Koethe die "Tochter der Luft" ein nrandioscs Werk.
Calderon.

Lycas dagegen, der Oberfeldherr zu Lande, stellt sich auf die Seite des neuen
Herrschers. Semiramis zieht sich in tiefste Vcrlivrgeuheit zurück und läßt keinen
Meuschen vor sich. Ninyas, seiner äußern Erscheinung nach das täuschende Eben¬
bild, in allem übrigen das directe Widerspiel der Mutter, eröffnet seine Herr¬
schaft mit einer Reihe neuer Maßregeln und Anordnungen. Phryxus wird seiner
Stellung entsetzt und diese seinem Bruder Lycas zuertheilt, Lidvr, der den jungen
Herrscher vor dem Unbestand des Glückes warnt, aus seinem schmachvollen Zu¬
stande befreit. Ninyas liebt Asträa, eine der Frauen der Semiramis, die zugleich
von Phryxus umworben wird, aber ihre Liebe dem Ehrgeiz zum Opfer bringt —
ein Beispiel für die Eigenthümlichkeit des Dichters, ähnlich wie Shakespeare den
Hauptpersonen Nebenfiguren zur Seite zu stellen, in denen einzelne Züge der
Haupthelden ihre Parallele finden. Dem Ninyas wird die Nachricht, daß Iran
zur Befreiung seines Vaters Lidor heranrücke. Phryxus hat eine nächtliche
Unterredung im Parke mit Semiramis, die ihm ihre Absicht mittheilt, in Männer-
kleidern die Rolle ihres Sohnes zu spielen; diesen zu beseitigen fordert sie Phryxus'
Beistand, der den schlafenden jungen König ins Gemach seiner Mutter trägt,
die inzwischen seine Kleider anlegt. Die List glückt und Semiramis sieht sich
von neuem im Besitz der ersehnten Macht. Die ersten Schritte, die sie thut,
und mit denen sie alles, was kurz vorher ihr Sohn angeordnet, umstößt, rufen
allgemeines Erstaunen hervor: Lycas fällt in Ungnade, auf Phryxus häufen sich
Gunst und Ehren, und Asträa muß ihm die Hand reichen. Lidor wird einge¬
kerkert, er entkommt jedoch und stellt sich an die Spitze des zu seiner Befreiung
nahenden Heeres. Semiramis wird im Felde besiegt und stirbt verwundet unter
schrecklichen Visionen, hervorgerufen durch das Kcttenrasfeln des Chako, der von
ihr zum Loose Lidors verurtheilt, in der allgemeinen Verwirrung sich frei ge¬
macht hat. Die Babylonier suchen nach dem Tode des vermeinten Königs die
letzte Rettung bei Semiramis, an deren Stelle ihnen Ninyas entgegentritt. Lidor
bezeugt ihm seine Dankbarkeit durch sofortige Einstellung des Kampfes.

Auf die tragische Wucht der überwältigenden Hauptscenen, die meisterhaft
durchgeführte psychologische Zeichnung, die auch den Nebenpersonen zu Theil
wird, auf die Hereinziehung kölnischer Elemente, durch die auch hier wie im
„Wunderthütigen Magus" und anderwärts das Tragische eine wirksame Folie er¬
hält, auf die vortreffliche Steigerung, die innerhalb jedes einzelnen Theils und
zwischen beiden stattfindet, kann nur im allgemeinen hingewiesen werden. Es
sei bemerkt, daß Goethe, der die „Tochter der Luft" für das herrlichste von
Calderons Stücken erklärte, demselben eine eigne längre Abhandlung widmete.*)



„Ueber Kunst und Alterthum," 3. Heft des 3. Bandes (1821). In einem Briefe an
Zelter vom 6. Februar 1827 nennt Koethe die „Tochter der Luft" ein nrandioscs Werk.
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[0318] Calderon. Lycas dagegen, der Oberfeldherr zu Lande, stellt sich auf die Seite des neuen Herrschers. Semiramis zieht sich in tiefste Vcrlivrgeuheit zurück und läßt keinen Meuschen vor sich. Ninyas, seiner äußern Erscheinung nach das täuschende Eben¬ bild, in allem übrigen das directe Widerspiel der Mutter, eröffnet seine Herr¬ schaft mit einer Reihe neuer Maßregeln und Anordnungen. Phryxus wird seiner Stellung entsetzt und diese seinem Bruder Lycas zuertheilt, Lidvr, der den jungen Herrscher vor dem Unbestand des Glückes warnt, aus seinem schmachvollen Zu¬ stande befreit. Ninyas liebt Asträa, eine der Frauen der Semiramis, die zugleich von Phryxus umworben wird, aber ihre Liebe dem Ehrgeiz zum Opfer bringt — ein Beispiel für die Eigenthümlichkeit des Dichters, ähnlich wie Shakespeare den Hauptpersonen Nebenfiguren zur Seite zu stellen, in denen einzelne Züge der Haupthelden ihre Parallele finden. Dem Ninyas wird die Nachricht, daß Iran zur Befreiung seines Vaters Lidor heranrücke. Phryxus hat eine nächtliche Unterredung im Parke mit Semiramis, die ihm ihre Absicht mittheilt, in Männer- kleidern die Rolle ihres Sohnes zu spielen; diesen zu beseitigen fordert sie Phryxus' Beistand, der den schlafenden jungen König ins Gemach seiner Mutter trägt, die inzwischen seine Kleider anlegt. Die List glückt und Semiramis sieht sich von neuem im Besitz der ersehnten Macht. Die ersten Schritte, die sie thut, und mit denen sie alles, was kurz vorher ihr Sohn angeordnet, umstößt, rufen allgemeines Erstaunen hervor: Lycas fällt in Ungnade, auf Phryxus häufen sich Gunst und Ehren, und Asträa muß ihm die Hand reichen. Lidor wird einge¬ kerkert, er entkommt jedoch und stellt sich an die Spitze des zu seiner Befreiung nahenden Heeres. Semiramis wird im Felde besiegt und stirbt verwundet unter schrecklichen Visionen, hervorgerufen durch das Kcttenrasfeln des Chako, der von ihr zum Loose Lidors verurtheilt, in der allgemeinen Verwirrung sich frei ge¬ macht hat. Die Babylonier suchen nach dem Tode des vermeinten Königs die letzte Rettung bei Semiramis, an deren Stelle ihnen Ninyas entgegentritt. Lidor bezeugt ihm seine Dankbarkeit durch sofortige Einstellung des Kampfes. Auf die tragische Wucht der überwältigenden Hauptscenen, die meisterhaft durchgeführte psychologische Zeichnung, die auch den Nebenpersonen zu Theil wird, auf die Hereinziehung kölnischer Elemente, durch die auch hier wie im „Wunderthütigen Magus" und anderwärts das Tragische eine wirksame Folie er¬ hält, auf die vortreffliche Steigerung, die innerhalb jedes einzelnen Theils und zwischen beiden stattfindet, kann nur im allgemeinen hingewiesen werden. Es sei bemerkt, daß Goethe, der die „Tochter der Luft" für das herrlichste von Calderons Stücken erklärte, demselben eine eigne längre Abhandlung widmete.*) „Ueber Kunst und Alterthum," 3. Heft des 3. Bandes (1821). In einem Briefe an Zelter vom 6. Februar 1827 nennt Koethe die „Tochter der Luft" ein nrandioscs Werk.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/318>, abgerufen am 23.07.2024.