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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Rußland und die Reform.

dagegen sich ohne weiteres zusammenfinden, in den Dienst des Radicalismus ge¬
nommen werden und die tollsten Ausschreitungen begehen , . . Nothwendig wäre
dann freilich, daß die Regierung sich zu wirklicher Decentralisation und zur Ueber-
tragung eines Theils ihrer Befugnisse an die kleinern Kreise entschlösse, daß es
sich nicht um eine Selbstverwaltung im modernen Wortverstande, sondern um ein
mit autonomistischeu Attributen ausgestattetes Selfgovernment handelte, das bei den
Betheiligten Freude an der eignen Thätigkeit und dus Bewußtsein wirklicher Be¬
deutung aufkommen ließe. In weitere Aussicht konnte dann die Bildung eines aus
localen Delegationen zusammengesetzten Centralkörpers genommen werden, der den
Vortheil böte, auf der gediegnen und festen Grundlage greifbarer Größe", im Jnnern
eousolidirter Körperschaften zu ruhen, und dessen Bestandtheile das natürliche Be¬
streben hätten, sich unmittelbar, ohne Einmischung Dritter ins Einvernehmen zu setzen.
Machte man mit antvnvmistischeu Zugeständnissen an die kleinern Kreise Ernst, und
ließe mau es darauf ankommen, daß den Wünschen derselben anch solche büreau-
kratische Gewohnheiten geopfert würden, welche das Herkommen und die Theorie
gegen sich haben, so würde den thatenlustigeu Elementen mindestens für ein
Jahrzehnt die nöthige Beschäftigung geboten und für die Regierung inzwischen
Zeit und Gelegenheit zur Sammlung ihrer Kräfte und zur Befestigung der¬
jenigen Zügel gewonnen sein, die hente zerreißen, sobald sie schärfer angezogen
werden."

Dieser Plan läßt sich gewiß hören. Er sieht sehr einfach und leicht durch¬
führbar aus, er hat ein durchaus praktisches Gepräge und sehr solide Grundlagen.
Er scheint sich als die relativ gefahrloseste Lösung der russischen Verfassungsfrage
zu empfehlen. Leider aber ist sehr unwahrscheinlich, daß man ihn adoptiren wird.
Ihm widerstrebt der centralistische Zug der Zeit, gegen ihn sprechen die Besorg¬
nisse der herrschenden liberalen Schule vor einer föderalistischen Auflösung der Staats¬
einheit, die Gewohnheiten einer auf ihre Allgewalt eifersüchtig bedachten Bureaukratie,
endlich das tiefeingewnrzelte und allerdings in betreff Polens nicht grundlose Mi߬
trauen gegen den Separatismus der Grenzländer; gegen ihn bäumen sich die national-
radiealen Politiker Rußlands mit aller Macht auf. Denn "wohlwissend, daß eine
ernsthaft unternommne Decentralisation das einzige Mittel wäre, mit dessen Hilfe
die .souveräne allgemeine russische Lnudesversamiülung/ entbehrlich gemacht und
dem Radicalismus die sichere Beute entrissen werden könnte, treffen Moskaner
und Petersburger Doctrinäre der verschiedensten Farben in dem Wunsche zu¬
sammen, durch Einstampfung der den Grenzländern verblichnen organischen Ein¬
richtungen die Dynastie jeden Rückhalts gegen deu nationalen Sturm und Drang
zu berauben und die tabuis, rs,8s, zu schaffen, auf welche der Semski Sobor gebant
werden soll."

Der Verfasser schließt seiue Betrachtung mit folgender Prophezeiung, die
sehr düster, vielleicht zu düster ist, im allgemeinen aber viel Wahrscheinliches hat:
"Wäre Aussicht dafür vorhanden, daß die von der Regierung Alexanders III. zu


Rußland und die Reform.

dagegen sich ohne weiteres zusammenfinden, in den Dienst des Radicalismus ge¬
nommen werden und die tollsten Ausschreitungen begehen , . . Nothwendig wäre
dann freilich, daß die Regierung sich zu wirklicher Decentralisation und zur Ueber-
tragung eines Theils ihrer Befugnisse an die kleinern Kreise entschlösse, daß es
sich nicht um eine Selbstverwaltung im modernen Wortverstande, sondern um ein
mit autonomistischeu Attributen ausgestattetes Selfgovernment handelte, das bei den
Betheiligten Freude an der eignen Thätigkeit und dus Bewußtsein wirklicher Be¬
deutung aufkommen ließe. In weitere Aussicht konnte dann die Bildung eines aus
localen Delegationen zusammengesetzten Centralkörpers genommen werden, der den
Vortheil böte, auf der gediegnen und festen Grundlage greifbarer Größe», im Jnnern
eousolidirter Körperschaften zu ruhen, und dessen Bestandtheile das natürliche Be¬
streben hätten, sich unmittelbar, ohne Einmischung Dritter ins Einvernehmen zu setzen.
Machte man mit antvnvmistischeu Zugeständnissen an die kleinern Kreise Ernst, und
ließe mau es darauf ankommen, daß den Wünschen derselben anch solche büreau-
kratische Gewohnheiten geopfert würden, welche das Herkommen und die Theorie
gegen sich haben, so würde den thatenlustigeu Elementen mindestens für ein
Jahrzehnt die nöthige Beschäftigung geboten und für die Regierung inzwischen
Zeit und Gelegenheit zur Sammlung ihrer Kräfte und zur Befestigung der¬
jenigen Zügel gewonnen sein, die hente zerreißen, sobald sie schärfer angezogen
werden."

Dieser Plan läßt sich gewiß hören. Er sieht sehr einfach und leicht durch¬
führbar aus, er hat ein durchaus praktisches Gepräge und sehr solide Grundlagen.
Er scheint sich als die relativ gefahrloseste Lösung der russischen Verfassungsfrage
zu empfehlen. Leider aber ist sehr unwahrscheinlich, daß man ihn adoptiren wird.
Ihm widerstrebt der centralistische Zug der Zeit, gegen ihn sprechen die Besorg¬
nisse der herrschenden liberalen Schule vor einer föderalistischen Auflösung der Staats¬
einheit, die Gewohnheiten einer auf ihre Allgewalt eifersüchtig bedachten Bureaukratie,
endlich das tiefeingewnrzelte und allerdings in betreff Polens nicht grundlose Mi߬
trauen gegen den Separatismus der Grenzländer; gegen ihn bäumen sich die national-
radiealen Politiker Rußlands mit aller Macht auf. Denn „wohlwissend, daß eine
ernsthaft unternommne Decentralisation das einzige Mittel wäre, mit dessen Hilfe
die .souveräne allgemeine russische Lnudesversamiülung/ entbehrlich gemacht und
dem Radicalismus die sichere Beute entrissen werden könnte, treffen Moskaner
und Petersburger Doctrinäre der verschiedensten Farben in dem Wunsche zu¬
sammen, durch Einstampfung der den Grenzländern verblichnen organischen Ein¬
richtungen die Dynastie jeden Rückhalts gegen deu nationalen Sturm und Drang
zu berauben und die tabuis, rs,8s, zu schaffen, auf welche der Semski Sobor gebant
werden soll."

Der Verfasser schließt seiue Betrachtung mit folgender Prophezeiung, die
sehr düster, vielleicht zu düster ist, im allgemeinen aber viel Wahrscheinliches hat:
„Wäre Aussicht dafür vorhanden, daß die von der Regierung Alexanders III. zu


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[0312] Rußland und die Reform. dagegen sich ohne weiteres zusammenfinden, in den Dienst des Radicalismus ge¬ nommen werden und die tollsten Ausschreitungen begehen , . . Nothwendig wäre dann freilich, daß die Regierung sich zu wirklicher Decentralisation und zur Ueber- tragung eines Theils ihrer Befugnisse an die kleinern Kreise entschlösse, daß es sich nicht um eine Selbstverwaltung im modernen Wortverstande, sondern um ein mit autonomistischeu Attributen ausgestattetes Selfgovernment handelte, das bei den Betheiligten Freude an der eignen Thätigkeit und dus Bewußtsein wirklicher Be¬ deutung aufkommen ließe. In weitere Aussicht konnte dann die Bildung eines aus localen Delegationen zusammengesetzten Centralkörpers genommen werden, der den Vortheil böte, auf der gediegnen und festen Grundlage greifbarer Größe», im Jnnern eousolidirter Körperschaften zu ruhen, und dessen Bestandtheile das natürliche Be¬ streben hätten, sich unmittelbar, ohne Einmischung Dritter ins Einvernehmen zu setzen. Machte man mit antvnvmistischeu Zugeständnissen an die kleinern Kreise Ernst, und ließe mau es darauf ankommen, daß den Wünschen derselben anch solche büreau- kratische Gewohnheiten geopfert würden, welche das Herkommen und die Theorie gegen sich haben, so würde den thatenlustigeu Elementen mindestens für ein Jahrzehnt die nöthige Beschäftigung geboten und für die Regierung inzwischen Zeit und Gelegenheit zur Sammlung ihrer Kräfte und zur Befestigung der¬ jenigen Zügel gewonnen sein, die hente zerreißen, sobald sie schärfer angezogen werden." Dieser Plan läßt sich gewiß hören. Er sieht sehr einfach und leicht durch¬ führbar aus, er hat ein durchaus praktisches Gepräge und sehr solide Grundlagen. Er scheint sich als die relativ gefahrloseste Lösung der russischen Verfassungsfrage zu empfehlen. Leider aber ist sehr unwahrscheinlich, daß man ihn adoptiren wird. Ihm widerstrebt der centralistische Zug der Zeit, gegen ihn sprechen die Besorg¬ nisse der herrschenden liberalen Schule vor einer föderalistischen Auflösung der Staats¬ einheit, die Gewohnheiten einer auf ihre Allgewalt eifersüchtig bedachten Bureaukratie, endlich das tiefeingewnrzelte und allerdings in betreff Polens nicht grundlose Mi߬ trauen gegen den Separatismus der Grenzländer; gegen ihn bäumen sich die national- radiealen Politiker Rußlands mit aller Macht auf. Denn „wohlwissend, daß eine ernsthaft unternommne Decentralisation das einzige Mittel wäre, mit dessen Hilfe die .souveräne allgemeine russische Lnudesversamiülung/ entbehrlich gemacht und dem Radicalismus die sichere Beute entrissen werden könnte, treffen Moskaner und Petersburger Doctrinäre der verschiedensten Farben in dem Wunsche zu¬ sammen, durch Einstampfung der den Grenzländern verblichnen organischen Ein¬ richtungen die Dynastie jeden Rückhalts gegen deu nationalen Sturm und Drang zu berauben und die tabuis, rs,8s, zu schaffen, auf welche der Semski Sobor gebant werden soll." Der Verfasser schließt seiue Betrachtung mit folgender Prophezeiung, die sehr düster, vielleicht zu düster ist, im allgemeinen aber viel Wahrscheinliches hat: „Wäre Aussicht dafür vorhanden, daß die von der Regierung Alexanders III. zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/312>, abgerufen am 23.07.2024.