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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Rußland und die Reform.

is der jetzige Zar den durch Ermordung seines Vaters erledigten
Thron bestiegen, erließ der gegenwärtige Leiter des Auswärtigen
Amtes in Petersburg, Herr v. Giers, ein Rundschreiben an die Ver¬
treter Rußlands an den auswärtigen Höfen, worin es über die zu¬
künftige innere Politik Alexanders des Dritten hieß: "Der Kaiser
wird sich zunächst der Sache der innern Staatspolitik widmen, welche mit den Er¬
folgen der Civilisation sowie mit socialen und ökonomischen Fragen in engem Zu¬
sammenhange stehen, Fragen, die jetzt den Gegenstand besondrer Sorgfalt bei sämmt¬
lichen Regierungen bilden."

Das war sehr allgemein gesprochen, und da sich infolge dessen Viel hineinlegen
ließ, so legte die westeuropäische Presse je nach dem Standpunkte, den ihre einzelnen
Organe einnahmen, allerlei hinein, die liberale natürlich allerlei Liberales. Manche
Blätter, die Rottet und Welcker mit Nutzen studirt hatten, wußten, daß die Uebel,
die Rußland im letzten Jahrzehnt henngesucht, nur mit einer Verfassung nach eng¬
lischem oder belgischen Muster beschworen werden konnten, daß sich der Nihilismus
und das, woran unser östlicher Nachbar sonst krankt, allein mit dem Constitutioncüis-
mus heilen ließ.

Die Wiener "Presse" ließ sich, wie folgt, vernehmen: "Wenn sich die Re¬
gierung dem Rundschreiben des Herrn v. Giers zufolge .zunächst' der innern Staats-
entwicklnng widmet, so wird sich eine constitutionelle alsbald als unabweisliche Noth¬
wendigkeit ergeben. Das drängende Bedürfniß ist einmal in den Geistern vor¬
handen, es giebt keine Wahl mehr. Die Regierung muß wenigstens den gebildeten,
zur Zeit allein stimmfähigen und maßgebenden Theil ihres Volks befriedigen. Ru߬
land wird in den nächsten Jahren eine constitutionelle Umbildung erfahren und
das wird auf alle Theile des Staatswesens einwirken." Das Blatt bezeichnete dann


Grmzlwtt'it II. 1881. 88


Rußland und die Reform.

is der jetzige Zar den durch Ermordung seines Vaters erledigten
Thron bestiegen, erließ der gegenwärtige Leiter des Auswärtigen
Amtes in Petersburg, Herr v. Giers, ein Rundschreiben an die Ver¬
treter Rußlands an den auswärtigen Höfen, worin es über die zu¬
künftige innere Politik Alexanders des Dritten hieß: „Der Kaiser
wird sich zunächst der Sache der innern Staatspolitik widmen, welche mit den Er¬
folgen der Civilisation sowie mit socialen und ökonomischen Fragen in engem Zu¬
sammenhange stehen, Fragen, die jetzt den Gegenstand besondrer Sorgfalt bei sämmt¬
lichen Regierungen bilden."

Das war sehr allgemein gesprochen, und da sich infolge dessen Viel hineinlegen
ließ, so legte die westeuropäische Presse je nach dem Standpunkte, den ihre einzelnen
Organe einnahmen, allerlei hinein, die liberale natürlich allerlei Liberales. Manche
Blätter, die Rottet und Welcker mit Nutzen studirt hatten, wußten, daß die Uebel,
die Rußland im letzten Jahrzehnt henngesucht, nur mit einer Verfassung nach eng¬
lischem oder belgischen Muster beschworen werden konnten, daß sich der Nihilismus
und das, woran unser östlicher Nachbar sonst krankt, allein mit dem Constitutioncüis-
mus heilen ließ.

Die Wiener „Presse" ließ sich, wie folgt, vernehmen: „Wenn sich die Re¬
gierung dem Rundschreiben des Herrn v. Giers zufolge .zunächst' der innern Staats-
entwicklnng widmet, so wird sich eine constitutionelle alsbald als unabweisliche Noth¬
wendigkeit ergeben. Das drängende Bedürfniß ist einmal in den Geistern vor¬
handen, es giebt keine Wahl mehr. Die Regierung muß wenigstens den gebildeten,
zur Zeit allein stimmfähigen und maßgebenden Theil ihres Volks befriedigen. Ru߬
land wird in den nächsten Jahren eine constitutionelle Umbildung erfahren und
das wird auf alle Theile des Staatswesens einwirken." Das Blatt bezeichnete dann


Grmzlwtt'it II. 1881. 88
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[0301] [Abbildung] Rußland und die Reform. is der jetzige Zar den durch Ermordung seines Vaters erledigten Thron bestiegen, erließ der gegenwärtige Leiter des Auswärtigen Amtes in Petersburg, Herr v. Giers, ein Rundschreiben an die Ver¬ treter Rußlands an den auswärtigen Höfen, worin es über die zu¬ künftige innere Politik Alexanders des Dritten hieß: „Der Kaiser wird sich zunächst der Sache der innern Staatspolitik widmen, welche mit den Er¬ folgen der Civilisation sowie mit socialen und ökonomischen Fragen in engem Zu¬ sammenhange stehen, Fragen, die jetzt den Gegenstand besondrer Sorgfalt bei sämmt¬ lichen Regierungen bilden." Das war sehr allgemein gesprochen, und da sich infolge dessen Viel hineinlegen ließ, so legte die westeuropäische Presse je nach dem Standpunkte, den ihre einzelnen Organe einnahmen, allerlei hinein, die liberale natürlich allerlei Liberales. Manche Blätter, die Rottet und Welcker mit Nutzen studirt hatten, wußten, daß die Uebel, die Rußland im letzten Jahrzehnt henngesucht, nur mit einer Verfassung nach eng¬ lischem oder belgischen Muster beschworen werden konnten, daß sich der Nihilismus und das, woran unser östlicher Nachbar sonst krankt, allein mit dem Constitutioncüis- mus heilen ließ. Die Wiener „Presse" ließ sich, wie folgt, vernehmen: „Wenn sich die Re¬ gierung dem Rundschreiben des Herrn v. Giers zufolge .zunächst' der innern Staats- entwicklnng widmet, so wird sich eine constitutionelle alsbald als unabweisliche Noth¬ wendigkeit ergeben. Das drängende Bedürfniß ist einmal in den Geistern vor¬ handen, es giebt keine Wahl mehr. Die Regierung muß wenigstens den gebildeten, zur Zeit allein stimmfähigen und maßgebenden Theil ihres Volks befriedigen. Ru߬ land wird in den nächsten Jahren eine constitutionelle Umbildung erfahren und das wird auf alle Theile des Staatswesens einwirken." Das Blatt bezeichnete dann Grmzlwtt'it II. 1881. 88

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/301>, abgerufen am 23.07.2024.