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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Fürst Bismarck und Berlin.

jetzt genannten für den Plan. Die Unabhängigkeit der Voden und die Rede¬
freiheit ist in Mittelstädten besser gewahrt als in einer großen Stadt mit mehr
als einer Million Einwohner. Man hat das 1848 gesehen, wo die Radicalen,
die Demokraten, welche jetzt Fortschrittspartei heißen, die Gewalt an sich gerissen
hatten und Volkshnufen die ihnen mißliebigen Abgeordneten bedrohten, ja einmal
förmlich belagerten und sie das Schicksal Aucrswalds und Lichnowskys befürchten
ließen. Die Reichstagsmitglieder haben ferner dort nicht die Kothwürfe der
Berliner Schmutzpresse zu scheuen. Wie viele von ihnen sind fest gegen solchen
Zeitungspvbel? Wie viele würden in revolutionären Zeiten, die in Berlin wieder¬
kehren können, fest sein gegen Einschüchterung durch Bedrohung ihres Lebens?
In kleinern Orten sind sie weit leichter zu schützen als dort, wo die Fvrtschritts-
leute mit ihren Vettern, den Socialisten, einst das enge Bündnis; schließen werden,
ans das beider letzte Ziele hinweisen, und das beider Verwandte vor zehn
Jahren vor dem Altar der Commune in Paris wirklich schlössen. Wenn diese
beiden Parteien aber in Berlin einig sind, so bilden die Ordnungsfreunde und
die Monarchischgesinnten die Minorität und können selbst, wenn sie alle ihre
Kräfte aufbieten, sich und ihre Meinung nicht zur Geltung bringen. Auch anderswo
hat man das begriffen. In den Vereinigten Staaten versammelt sich der Con-
greß nicht in Newhorl, Philadelphia, Se. Louis oder Chicago, sondern in
Washington, einer mäßig großen und für gewöhnlich stillen Stadt, und gleicher¬
weise tagen die Legislaturen sämmtlicher Einzelstaaten in Mittelstädten, ja in
kleinen Orten. Sehr gute Gründe sprachen für das Verbleiben der französischen
Kammern in Versailles, und es müßte mit wunderbaren Dingen zugehen, wenn
ihre Rückkehr nach Paris sich nicht einmal rächte. Schon die Verlegung des
Reichstagsgebäudes nach Potsdam würde gegen Unzuträglichkeiten der erwähnten
Art eine gewisse Bürgschaft bieten.

Endlich würden, wenn der Reichstag nicht in Berlin domicilirt wäre, nicht
so erstaunlich viele Berliner drin sitzen. Nehmen wir das Verzeichnis; der Mit¬
glieder zur Hand, so sinds nicht weniger als 46. Die Präsenzziffer schwankt
dicht unter 200, und von denen sind die Sechsundvierzig wahrscheinlich immer
zugegen. Dann aber kommen wir zu dem ungeheuerlichen Verhältnisse, daß die
einzige Stadt Berlin nicht weniger als ein Fünftel, ja fast ein Viertel der effectiv
wirksamen Vertretung Deutschlands mit Einschluß Elsaß-Lothringens liefert, und
wenn man die höchste Präsenzziffer von etwa 310 nimmt, bleiben immer Is Pro¬
cent Berliner. Ans jede Million der Seelenzahl des deutschen Reiches kommt
mehr als ein Bewohner der Millionenstadt an der Spree, und wenn der Ueber-
druß um den Reichstagsverhnndlungen, der bei vielen Abgeordneten dnrch den
Zwang erzeugt wird, zwei- und mehrstündige Reden der Herren Richter und


Fürst Bismarck und Berlin.

jetzt genannten für den Plan. Die Unabhängigkeit der Voden und die Rede¬
freiheit ist in Mittelstädten besser gewahrt als in einer großen Stadt mit mehr
als einer Million Einwohner. Man hat das 1848 gesehen, wo die Radicalen,
die Demokraten, welche jetzt Fortschrittspartei heißen, die Gewalt an sich gerissen
hatten und Volkshnufen die ihnen mißliebigen Abgeordneten bedrohten, ja einmal
förmlich belagerten und sie das Schicksal Aucrswalds und Lichnowskys befürchten
ließen. Die Reichstagsmitglieder haben ferner dort nicht die Kothwürfe der
Berliner Schmutzpresse zu scheuen. Wie viele von ihnen sind fest gegen solchen
Zeitungspvbel? Wie viele würden in revolutionären Zeiten, die in Berlin wieder¬
kehren können, fest sein gegen Einschüchterung durch Bedrohung ihres Lebens?
In kleinern Orten sind sie weit leichter zu schützen als dort, wo die Fvrtschritts-
leute mit ihren Vettern, den Socialisten, einst das enge Bündnis; schließen werden,
ans das beider letzte Ziele hinweisen, und das beider Verwandte vor zehn
Jahren vor dem Altar der Commune in Paris wirklich schlössen. Wenn diese
beiden Parteien aber in Berlin einig sind, so bilden die Ordnungsfreunde und
die Monarchischgesinnten die Minorität und können selbst, wenn sie alle ihre
Kräfte aufbieten, sich und ihre Meinung nicht zur Geltung bringen. Auch anderswo
hat man das begriffen. In den Vereinigten Staaten versammelt sich der Con-
greß nicht in Newhorl, Philadelphia, Se. Louis oder Chicago, sondern in
Washington, einer mäßig großen und für gewöhnlich stillen Stadt, und gleicher¬
weise tagen die Legislaturen sämmtlicher Einzelstaaten in Mittelstädten, ja in
kleinen Orten. Sehr gute Gründe sprachen für das Verbleiben der französischen
Kammern in Versailles, und es müßte mit wunderbaren Dingen zugehen, wenn
ihre Rückkehr nach Paris sich nicht einmal rächte. Schon die Verlegung des
Reichstagsgebäudes nach Potsdam würde gegen Unzuträglichkeiten der erwähnten
Art eine gewisse Bürgschaft bieten.

Endlich würden, wenn der Reichstag nicht in Berlin domicilirt wäre, nicht
so erstaunlich viele Berliner drin sitzen. Nehmen wir das Verzeichnis; der Mit¬
glieder zur Hand, so sinds nicht weniger als 46. Die Präsenzziffer schwankt
dicht unter 200, und von denen sind die Sechsundvierzig wahrscheinlich immer
zugegen. Dann aber kommen wir zu dem ungeheuerlichen Verhältnisse, daß die
einzige Stadt Berlin nicht weniger als ein Fünftel, ja fast ein Viertel der effectiv
wirksamen Vertretung Deutschlands mit Einschluß Elsaß-Lothringens liefert, und
wenn man die höchste Präsenzziffer von etwa 310 nimmt, bleiben immer Is Pro¬
cent Berliner. Ans jede Million der Seelenzahl des deutschen Reiches kommt
mehr als ein Bewohner der Millionenstadt an der Spree, und wenn der Ueber-
druß um den Reichstagsverhnndlungen, der bei vielen Abgeordneten dnrch den
Zwang erzeugt wird, zwei- und mehrstündige Reden der Herren Richter und


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[0299] Fürst Bismarck und Berlin. jetzt genannten für den Plan. Die Unabhängigkeit der Voden und die Rede¬ freiheit ist in Mittelstädten besser gewahrt als in einer großen Stadt mit mehr als einer Million Einwohner. Man hat das 1848 gesehen, wo die Radicalen, die Demokraten, welche jetzt Fortschrittspartei heißen, die Gewalt an sich gerissen hatten und Volkshnufen die ihnen mißliebigen Abgeordneten bedrohten, ja einmal förmlich belagerten und sie das Schicksal Aucrswalds und Lichnowskys befürchten ließen. Die Reichstagsmitglieder haben ferner dort nicht die Kothwürfe der Berliner Schmutzpresse zu scheuen. Wie viele von ihnen sind fest gegen solchen Zeitungspvbel? Wie viele würden in revolutionären Zeiten, die in Berlin wieder¬ kehren können, fest sein gegen Einschüchterung durch Bedrohung ihres Lebens? In kleinern Orten sind sie weit leichter zu schützen als dort, wo die Fvrtschritts- leute mit ihren Vettern, den Socialisten, einst das enge Bündnis; schließen werden, ans das beider letzte Ziele hinweisen, und das beider Verwandte vor zehn Jahren vor dem Altar der Commune in Paris wirklich schlössen. Wenn diese beiden Parteien aber in Berlin einig sind, so bilden die Ordnungsfreunde und die Monarchischgesinnten die Minorität und können selbst, wenn sie alle ihre Kräfte aufbieten, sich und ihre Meinung nicht zur Geltung bringen. Auch anderswo hat man das begriffen. In den Vereinigten Staaten versammelt sich der Con- greß nicht in Newhorl, Philadelphia, Se. Louis oder Chicago, sondern in Washington, einer mäßig großen und für gewöhnlich stillen Stadt, und gleicher¬ weise tagen die Legislaturen sämmtlicher Einzelstaaten in Mittelstädten, ja in kleinen Orten. Sehr gute Gründe sprachen für das Verbleiben der französischen Kammern in Versailles, und es müßte mit wunderbaren Dingen zugehen, wenn ihre Rückkehr nach Paris sich nicht einmal rächte. Schon die Verlegung des Reichstagsgebäudes nach Potsdam würde gegen Unzuträglichkeiten der erwähnten Art eine gewisse Bürgschaft bieten. Endlich würden, wenn der Reichstag nicht in Berlin domicilirt wäre, nicht so erstaunlich viele Berliner drin sitzen. Nehmen wir das Verzeichnis; der Mit¬ glieder zur Hand, so sinds nicht weniger als 46. Die Präsenzziffer schwankt dicht unter 200, und von denen sind die Sechsundvierzig wahrscheinlich immer zugegen. Dann aber kommen wir zu dem ungeheuerlichen Verhältnisse, daß die einzige Stadt Berlin nicht weniger als ein Fünftel, ja fast ein Viertel der effectiv wirksamen Vertretung Deutschlands mit Einschluß Elsaß-Lothringens liefert, und wenn man die höchste Präsenzziffer von etwa 310 nimmt, bleiben immer Is Pro¬ cent Berliner. Ans jede Million der Seelenzahl des deutschen Reiches kommt mehr als ein Bewohner der Millionenstadt an der Spree, und wenn der Ueber- druß um den Reichstagsverhnndlungen, der bei vielen Abgeordneten dnrch den Zwang erzeugt wird, zwei- und mehrstündige Reden der Herren Richter und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/299>, abgerufen am 23.07.2024.