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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Der Streit um Tunis.

im Jahre 1300 der Hcdschra ein Ende zu nehmen bestimmt ist, und wir leben
im Jahre 1298. Die Weissagung irrt ohne Zweifel. Das Gegentheil ist im
Anzüge begriffen, die jetzt in Fluß gekommne Bewegung wird den französischen
Einfluß am Nordrande Afrikas weiter ausbreiten, es kann zu einem Protectorat
Frankreichs über Tunis, es kann zu einem ähnlichen Verhältniß wie in Bosnien
kommen, und selbst eine förmliche Besitznahme von Tunis durch das französische
Heer ist kein Ding der Unmöglichkeit. Wenigstens würde Italien einen solchen
Schritt allein und selbst in Verbindung mit England kaum hindern können.
Es wird sich in Rom kein Ministerium bilden lassen, welches den französischen
Ansprüchen auf jede Gefahr hin entgegenzutreten den Muth hätte. Italien weiß,
daß es bei feiner Lage und Gestalt, um eine Großmacht zu sein, nicht bloß zu
scheinen, dominirenden Einfluß im Mittelmeer, mindestens einen dem französischen
an Gewicht gleichen haben muß. Es verwendet außerordentlich große Summen
auf die Herstellung einer Panzerflotte, die jedem Nebenbuhler gewachsen ist, aber
die Regierung hat offenbar nicht erwartet, daß der Augenblick sobald eintreten
werde, in welchem es sich fügen oder sich zu großen Entschlüssen aufraffen muß.

Der Anlaß, welcher die in Tunis schwebende Frage zur brennenden machen
sollte, lag in folgenden Umständen und Ereignissen. Im nordwestlichen Tunis
haust ein Stamm, der sich Krmnir, richtiger Chmir, nennt. Es sind räuberische Ge-
birgsleute, welche schon oft Plündernugszüge von ihrem Gebiete aus nach Algerien,
namentlich nach der Gegend von La Calle und nach den Bleibergwerken bei Kef
Um Tebul unternahmen und zugleich die Eisenbahn unsicher machten, die von
der Gesellschaft Voua Guelma gebaut wird und, wenn sie vollendet, von der
Grenze der Colonie Algerien nach der Stadt Tunis führen wird. Die Strecke,
welche im Westen von Tunis hinläuft, ist bereits früher verwüstet wordeu, und
die Zerstörer bedrohten schon die Station Gcirdimai und die dortigen französischen
Eisellbahnbeamten mit ihrem Besuch, ohne daß die Gesellschaft Schutz bei dem
Bey zu erlangen vermochte. Neuerdings stahlen die Chmir auf der Station
Wed Maliz den Eisenbahnuuternehmern Pferde und bald darauf die Balken des
Gerüstes, auf dem man die Brücke bei der Station Suk El Kumis repariren
wollte. Auch bei diesen Fällen versagte die Regierung des Beys die nachgesuchte
Bestrafung der Uebelthäter. Hierdurch ermuthigt, unternahmen letztere im März
einen großen Raubzug aus algerisches Gebiet. Die Stämme der tunesischen
Alet Sebra und der Alet nahet, welche in Algerien wohnen, beide aber zu
den Chmir gehörig, hatten sich zu demselben vereinigt. Bei der Vertheilung
der gemachten Beute entstand zwischen den beiden Streit, bei dem zwei Zelte
der nahet verbrannt lind einer derselben getödtet wurde. Um dem Zank ein
Ende zu machen, forderte der Kalb der algerischen Stämme die Schechs der


Der Streit um Tunis.

im Jahre 1300 der Hcdschra ein Ende zu nehmen bestimmt ist, und wir leben
im Jahre 1298. Die Weissagung irrt ohne Zweifel. Das Gegentheil ist im
Anzüge begriffen, die jetzt in Fluß gekommne Bewegung wird den französischen
Einfluß am Nordrande Afrikas weiter ausbreiten, es kann zu einem Protectorat
Frankreichs über Tunis, es kann zu einem ähnlichen Verhältniß wie in Bosnien
kommen, und selbst eine förmliche Besitznahme von Tunis durch das französische
Heer ist kein Ding der Unmöglichkeit. Wenigstens würde Italien einen solchen
Schritt allein und selbst in Verbindung mit England kaum hindern können.
Es wird sich in Rom kein Ministerium bilden lassen, welches den französischen
Ansprüchen auf jede Gefahr hin entgegenzutreten den Muth hätte. Italien weiß,
daß es bei feiner Lage und Gestalt, um eine Großmacht zu sein, nicht bloß zu
scheinen, dominirenden Einfluß im Mittelmeer, mindestens einen dem französischen
an Gewicht gleichen haben muß. Es verwendet außerordentlich große Summen
auf die Herstellung einer Panzerflotte, die jedem Nebenbuhler gewachsen ist, aber
die Regierung hat offenbar nicht erwartet, daß der Augenblick sobald eintreten
werde, in welchem es sich fügen oder sich zu großen Entschlüssen aufraffen muß.

Der Anlaß, welcher die in Tunis schwebende Frage zur brennenden machen
sollte, lag in folgenden Umständen und Ereignissen. Im nordwestlichen Tunis
haust ein Stamm, der sich Krmnir, richtiger Chmir, nennt. Es sind räuberische Ge-
birgsleute, welche schon oft Plündernugszüge von ihrem Gebiete aus nach Algerien,
namentlich nach der Gegend von La Calle und nach den Bleibergwerken bei Kef
Um Tebul unternahmen und zugleich die Eisenbahn unsicher machten, die von
der Gesellschaft Voua Guelma gebaut wird und, wenn sie vollendet, von der
Grenze der Colonie Algerien nach der Stadt Tunis führen wird. Die Strecke,
welche im Westen von Tunis hinläuft, ist bereits früher verwüstet wordeu, und
die Zerstörer bedrohten schon die Station Gcirdimai und die dortigen französischen
Eisellbahnbeamten mit ihrem Besuch, ohne daß die Gesellschaft Schutz bei dem
Bey zu erlangen vermochte. Neuerdings stahlen die Chmir auf der Station
Wed Maliz den Eisenbahnuuternehmern Pferde und bald darauf die Balken des
Gerüstes, auf dem man die Brücke bei der Station Suk El Kumis repariren
wollte. Auch bei diesen Fällen versagte die Regierung des Beys die nachgesuchte
Bestrafung der Uebelthäter. Hierdurch ermuthigt, unternahmen letztere im März
einen großen Raubzug aus algerisches Gebiet. Die Stämme der tunesischen
Alet Sebra und der Alet nahet, welche in Algerien wohnen, beide aber zu
den Chmir gehörig, hatten sich zu demselben vereinigt. Bei der Vertheilung
der gemachten Beute entstand zwischen den beiden Streit, bei dem zwei Zelte
der nahet verbrannt lind einer derselben getödtet wurde. Um dem Zank ein
Ende zu machen, forderte der Kalb der algerischen Stämme die Schechs der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/267>, abgerufen am 29.09.2024.