Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Ltroit um Tunis

lich nur der Obersteuereinnehmer, maßgebenden Einfluß verschaffte, stand an der
Spitze der Regierung, Er wurde endlich durch den Bey Murad ganz verdrängt,
dessen Haus über hundert Jahre herrschte und seine Macht durch Eroberungen auf
dem afrikanischen Festlande und durch Ausrüstung von Piratenschiffen ansehnlich
vermehrte.

Die jetzige Dynastie begann mit dem Krctenser Ali Turki im Jahre 1691.
Erst als die Franzosen sich Algiers bemächtigt hatten, erhielt Tunis größre
politische Wichtigkeit. 1830 mußte es sich jenen gegenüber zur Abschaffung des
Seeraubs und der Selaverei verstehen. Später unterstützte der Bey Sidi Hussein
den Aufstand Abd El Katers und kam dadurch in Conflict mit den Franzosen.
Auch sein Nachfolger Sidi Mustafa war diesen nach Kräften ein Widersacher.
Der folgende Bey, Sidi Achmed dagegen wendete sich, als die Pforte Miene
machte, Tunis von sich abhängiger zu machen, Frankreich zu, unternahm 1846
sogar eine Reise nach Paris und begann mit Hilfe seines Ministers, des italienischen
Chevaliers Ruffv, sein Land und seineu Hof nach europäischem Vorbilde einzu¬
richten. Er baute viel und vermehrte sein Heer beträchtlich, gerieth aber durch
letztres in Streit mit der Pforte, die ihn zur Reduction seiner Truppen und
zu alljährlicher Recheuschaftsablegung über den Stand der unter ihm stark in
Verfall gerathnen Finanzen des Landes zwang. Unter seinem Sohne und Nach¬
folger Sidi Mohammed, der von 1855 bis 1869 regierte, gab 1857 der Aus¬
bruch einer Judenverfolgung den europäischen Consuln Anlaß zum Einschreiten,
was zu eiuer liberalen Gesetzgebung und zu Verwaltungsreformen führte. Der jetzige
Bey, Mohammed Es Sadok Pascha, gab den Tüncher 1861 sogar eine constitu-
tionelle Verfassung, die natürlich nichts als Parade und Posse war und schon
im Mai 1864 auf Verlangen der Bevölkerung selbst wieder aufgehoben wurde.
Ackerbau und Handel haben nnter ihm Fortschritte gemacht, aber auch die Zer¬
rüttung der Finanzen ist mit jedem Jahre ärger geworden, und der Bey konnte
endlich seinen Gläubigern, die vorzüglich Franzosen waren, keine Zinsen mehr
zahlen. Dies veranlaßte ein Einschreiten Frankreichs, welches nun die ganze
Finanzverwaltung des Landes in seine Hände zu bringen bemüht war. Indeß
wurde dies dadurch abgewendet, daß uuter Mitwirkung andrer Mächte, nament¬
lich Englands und Italiens, eine Art europäischer Controle über die Einnahmen
und Ausgaben des Bey hergestellt und durch Abtretung der Zolleinuahmen für
die Verzinsung der auf 125 Millionen Franes reducirten Staatsschulden ge¬
sorgt wurde.

Das Rechtsverhältniß zwischen dem Bey und der Pforte ist folgendes. Das
Beylik oder die Regentschaft Tunis steht seit länger als dreihundert Jahren
unter türkischer Oberhoheit. Der Sultan hat die Stellung dieses Landes dnrch


Der Ltroit um Tunis

lich nur der Obersteuereinnehmer, maßgebenden Einfluß verschaffte, stand an der
Spitze der Regierung, Er wurde endlich durch den Bey Murad ganz verdrängt,
dessen Haus über hundert Jahre herrschte und seine Macht durch Eroberungen auf
dem afrikanischen Festlande und durch Ausrüstung von Piratenschiffen ansehnlich
vermehrte.

Die jetzige Dynastie begann mit dem Krctenser Ali Turki im Jahre 1691.
Erst als die Franzosen sich Algiers bemächtigt hatten, erhielt Tunis größre
politische Wichtigkeit. 1830 mußte es sich jenen gegenüber zur Abschaffung des
Seeraubs und der Selaverei verstehen. Später unterstützte der Bey Sidi Hussein
den Aufstand Abd El Katers und kam dadurch in Conflict mit den Franzosen.
Auch sein Nachfolger Sidi Mustafa war diesen nach Kräften ein Widersacher.
Der folgende Bey, Sidi Achmed dagegen wendete sich, als die Pforte Miene
machte, Tunis von sich abhängiger zu machen, Frankreich zu, unternahm 1846
sogar eine Reise nach Paris und begann mit Hilfe seines Ministers, des italienischen
Chevaliers Ruffv, sein Land und seineu Hof nach europäischem Vorbilde einzu¬
richten. Er baute viel und vermehrte sein Heer beträchtlich, gerieth aber durch
letztres in Streit mit der Pforte, die ihn zur Reduction seiner Truppen und
zu alljährlicher Recheuschaftsablegung über den Stand der unter ihm stark in
Verfall gerathnen Finanzen des Landes zwang. Unter seinem Sohne und Nach¬
folger Sidi Mohammed, der von 1855 bis 1869 regierte, gab 1857 der Aus¬
bruch einer Judenverfolgung den europäischen Consuln Anlaß zum Einschreiten,
was zu eiuer liberalen Gesetzgebung und zu Verwaltungsreformen führte. Der jetzige
Bey, Mohammed Es Sadok Pascha, gab den Tüncher 1861 sogar eine constitu-
tionelle Verfassung, die natürlich nichts als Parade und Posse war und schon
im Mai 1864 auf Verlangen der Bevölkerung selbst wieder aufgehoben wurde.
Ackerbau und Handel haben nnter ihm Fortschritte gemacht, aber auch die Zer¬
rüttung der Finanzen ist mit jedem Jahre ärger geworden, und der Bey konnte
endlich seinen Gläubigern, die vorzüglich Franzosen waren, keine Zinsen mehr
zahlen. Dies veranlaßte ein Einschreiten Frankreichs, welches nun die ganze
Finanzverwaltung des Landes in seine Hände zu bringen bemüht war. Indeß
wurde dies dadurch abgewendet, daß uuter Mitwirkung andrer Mächte, nament¬
lich Englands und Italiens, eine Art europäischer Controle über die Einnahmen
und Ausgaben des Bey hergestellt und durch Abtretung der Zolleinuahmen für
die Verzinsung der auf 125 Millionen Franes reducirten Staatsschulden ge¬
sorgt wurde.

Das Rechtsverhältniß zwischen dem Bey und der Pforte ist folgendes. Das
Beylik oder die Regentschaft Tunis steht seit länger als dreihundert Jahren
unter türkischer Oberhoheit. Der Sultan hat die Stellung dieses Landes dnrch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149836"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Ltroit um Tunis</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_916" prev="#ID_915"> lich nur der Obersteuereinnehmer, maßgebenden Einfluß verschaffte, stand an der<lb/>
Spitze der Regierung, Er wurde endlich durch den Bey Murad ganz verdrängt,<lb/>
dessen Haus über hundert Jahre herrschte und seine Macht durch Eroberungen auf<lb/>
dem afrikanischen Festlande und durch Ausrüstung von Piratenschiffen ansehnlich<lb/>
vermehrte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_917"> Die jetzige Dynastie begann mit dem Krctenser Ali Turki im Jahre 1691.<lb/>
Erst als die Franzosen sich Algiers bemächtigt hatten, erhielt Tunis größre<lb/>
politische Wichtigkeit. 1830 mußte es sich jenen gegenüber zur Abschaffung des<lb/>
Seeraubs und der Selaverei verstehen. Später unterstützte der Bey Sidi Hussein<lb/>
den Aufstand Abd El Katers und kam dadurch in Conflict mit den Franzosen.<lb/>
Auch sein Nachfolger Sidi Mustafa war diesen nach Kräften ein Widersacher.<lb/>
Der folgende Bey, Sidi Achmed dagegen wendete sich, als die Pforte Miene<lb/>
machte, Tunis von sich abhängiger zu machen, Frankreich zu, unternahm 1846<lb/>
sogar eine Reise nach Paris und begann mit Hilfe seines Ministers, des italienischen<lb/>
Chevaliers Ruffv, sein Land und seineu Hof nach europäischem Vorbilde einzu¬<lb/>
richten. Er baute viel und vermehrte sein Heer beträchtlich, gerieth aber durch<lb/>
letztres in Streit mit der Pforte, die ihn zur Reduction seiner Truppen und<lb/>
zu alljährlicher Recheuschaftsablegung über den Stand der unter ihm stark in<lb/>
Verfall gerathnen Finanzen des Landes zwang. Unter seinem Sohne und Nach¬<lb/>
folger Sidi Mohammed, der von 1855 bis 1869 regierte, gab 1857 der Aus¬<lb/>
bruch einer Judenverfolgung den europäischen Consuln Anlaß zum Einschreiten,<lb/>
was zu eiuer liberalen Gesetzgebung und zu Verwaltungsreformen führte. Der jetzige<lb/>
Bey, Mohammed Es Sadok Pascha, gab den Tüncher 1861 sogar eine constitu-<lb/>
tionelle Verfassung, die natürlich nichts als Parade und Posse war und schon<lb/>
im Mai 1864 auf Verlangen der Bevölkerung selbst wieder aufgehoben wurde.<lb/>
Ackerbau und Handel haben nnter ihm Fortschritte gemacht, aber auch die Zer¬<lb/>
rüttung der Finanzen ist mit jedem Jahre ärger geworden, und der Bey konnte<lb/>
endlich seinen Gläubigern, die vorzüglich Franzosen waren, keine Zinsen mehr<lb/>
zahlen. Dies veranlaßte ein Einschreiten Frankreichs, welches nun die ganze<lb/>
Finanzverwaltung des Landes in seine Hände zu bringen bemüht war. Indeß<lb/>
wurde dies dadurch abgewendet, daß uuter Mitwirkung andrer Mächte, nament¬<lb/>
lich Englands und Italiens, eine Art europäischer Controle über die Einnahmen<lb/>
und Ausgaben des Bey hergestellt und durch Abtretung der Zolleinuahmen für<lb/>
die Verzinsung der auf 125 Millionen Franes reducirten Staatsschulden ge¬<lb/>
sorgt wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_918" next="#ID_919"> Das Rechtsverhältniß zwischen dem Bey und der Pforte ist folgendes. Das<lb/>
Beylik oder die Regentschaft Tunis steht seit länger als dreihundert Jahren<lb/>
unter türkischer Oberhoheit. Der Sultan hat die Stellung dieses Landes dnrch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] Der Ltroit um Tunis lich nur der Obersteuereinnehmer, maßgebenden Einfluß verschaffte, stand an der Spitze der Regierung, Er wurde endlich durch den Bey Murad ganz verdrängt, dessen Haus über hundert Jahre herrschte und seine Macht durch Eroberungen auf dem afrikanischen Festlande und durch Ausrüstung von Piratenschiffen ansehnlich vermehrte. Die jetzige Dynastie begann mit dem Krctenser Ali Turki im Jahre 1691. Erst als die Franzosen sich Algiers bemächtigt hatten, erhielt Tunis größre politische Wichtigkeit. 1830 mußte es sich jenen gegenüber zur Abschaffung des Seeraubs und der Selaverei verstehen. Später unterstützte der Bey Sidi Hussein den Aufstand Abd El Katers und kam dadurch in Conflict mit den Franzosen. Auch sein Nachfolger Sidi Mustafa war diesen nach Kräften ein Widersacher. Der folgende Bey, Sidi Achmed dagegen wendete sich, als die Pforte Miene machte, Tunis von sich abhängiger zu machen, Frankreich zu, unternahm 1846 sogar eine Reise nach Paris und begann mit Hilfe seines Ministers, des italienischen Chevaliers Ruffv, sein Land und seineu Hof nach europäischem Vorbilde einzu¬ richten. Er baute viel und vermehrte sein Heer beträchtlich, gerieth aber durch letztres in Streit mit der Pforte, die ihn zur Reduction seiner Truppen und zu alljährlicher Recheuschaftsablegung über den Stand der unter ihm stark in Verfall gerathnen Finanzen des Landes zwang. Unter seinem Sohne und Nach¬ folger Sidi Mohammed, der von 1855 bis 1869 regierte, gab 1857 der Aus¬ bruch einer Judenverfolgung den europäischen Consuln Anlaß zum Einschreiten, was zu eiuer liberalen Gesetzgebung und zu Verwaltungsreformen führte. Der jetzige Bey, Mohammed Es Sadok Pascha, gab den Tüncher 1861 sogar eine constitu- tionelle Verfassung, die natürlich nichts als Parade und Posse war und schon im Mai 1864 auf Verlangen der Bevölkerung selbst wieder aufgehoben wurde. Ackerbau und Handel haben nnter ihm Fortschritte gemacht, aber auch die Zer¬ rüttung der Finanzen ist mit jedem Jahre ärger geworden, und der Bey konnte endlich seinen Gläubigern, die vorzüglich Franzosen waren, keine Zinsen mehr zahlen. Dies veranlaßte ein Einschreiten Frankreichs, welches nun die ganze Finanzverwaltung des Landes in seine Hände zu bringen bemüht war. Indeß wurde dies dadurch abgewendet, daß uuter Mitwirkung andrer Mächte, nament¬ lich Englands und Italiens, eine Art europäischer Controle über die Einnahmen und Ausgaben des Bey hergestellt und durch Abtretung der Zolleinuahmen für die Verzinsung der auf 125 Millionen Franes reducirten Staatsschulden ge¬ sorgt wurde. Das Rechtsverhältniß zwischen dem Bey und der Pforte ist folgendes. Das Beylik oder die Regentschaft Tunis steht seit länger als dreihundert Jahren unter türkischer Oberhoheit. Der Sultan hat die Stellung dieses Landes dnrch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/264>, abgerufen am 29.09.2024.