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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal.

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Erinnerungen an Heinrich Leo.

Mit der Geschichte der italienischen Staaten (einem Theile der Ge¬
schichte der europäischen Staaten, herausgegeben von Heeren und Ankere) Ham¬
burg 1829 -- 1832 begründete Leo seinen Ruf als einer der ersten Historiker.
Die Specialgcschichtc der Staaten ist in die allgemeine Geschichte Italiens hinein¬
gezogen, namentlich das reiche Leben der italienischen Städte-Republiken des
Mittelalters dargelegt und der italienische Volkscharakter historisch entwickelt.
Wie seinem geschichtlichen Sinn das Mittelalter zusagte, zeigt das 1830 erschienene
Lehrbuch der Geschichte des Mittelalters. Es war der erste Versuch,
die Geschichte des Mittelalters in ihrem universalhistorischen Zusammenhange
darzustellen. Er wollte (nach der Vorrede) das Buch beurtheilt wissen, nicht wie
eine rein objectiv gehaltne Darstellung, sondern wie eine solche, der zugleich ein
ganz subjectives Verhältniß, nämlich das des Wirkcnwollens auf die Ansicht
jüngrer Männer, zu Grunde liegt. Man wird, wenn man es mit unbefangnen
Verstände durchgehen will, eine gleichmäßig durch das ganze Buch hindurch
gehaltne religiöse, philosophische und politische Ueberzeugung bewahrt finden;
und um diese war es ihm wesentlich zu thun. Die Geschichte des Mittelalters
ist dem Verfasser nur die Geschichte der Richtungen, durch deren Gegeneinander-
wirken und Eingreifen in das Leben der einzelnen Völkerstämme die Staaten
der neuern Zeit und der Geist, welcher sie belebt, gebildet worden sind. Mit
scharfem Geiste ist hier eine neue Grundlage für die Auffassung mittelalterlicher
Zustände gegeben. Machte doch die in der Jugendzeit gewonnene Stimmung
Leo besonders geeignet, die Seiten des mittelalterlichen Lebens zu verstehen und
darzustellen, welche vielen Protestanten ganz unfaßbar sind. Weil er sich deshalb
in seinen eigenthümlichen Ansichten mehrfach katholische" Anschauungen näherte,
braucht man ihn noch nicht katholisirender Tendenzen zu zeihen. Deal gerade
in dieser Zeit der Abfassung des Werks hatte er durch ernstchristlichen Umgang
mit Professor Tholuck und dem damaligen Stadtgerichtsdireetvr von Gerlach
die Ueberzeugung gewonnen, daß die Entwicklung der lutherischen Richtung in
einer Schultheologie und in den spätern Symbolen vom Uebel sei, daß mau
sich an die objectivste Darstellung der lutherische" Richtung in ihren Anfängen,
an die Augsburgische Confession, allein zu halten habe und zwar an deren ur¬
sprüngliche Bestimmung, sich mit der alten Kirche, welche die geistliche Succession
für sich hat, zu verständigen und auszugleichen. Nicht die rechtfertigende, sondern
die den Menschen sittlich erneuernde Gnade war ihm der Mittelpunkt des Christen¬
thums und der Schwerpunkt der Reformation die Aufrichtung der augustinischen
Lehre von der Sünde und Gnade.

Zur Abfassung der Zwölf Bücher niederländischer Geschichten (Halle,
1832, zwei Bände) fühlte er sich veranlaßt, weil die frühere Zeit der Nieder-


Erinnerungen an Heinrich Leo.

Mit der Geschichte der italienischen Staaten (einem Theile der Ge¬
schichte der europäischen Staaten, herausgegeben von Heeren und Ankere) Ham¬
burg 1829 — 1832 begründete Leo seinen Ruf als einer der ersten Historiker.
Die Specialgcschichtc der Staaten ist in die allgemeine Geschichte Italiens hinein¬
gezogen, namentlich das reiche Leben der italienischen Städte-Republiken des
Mittelalters dargelegt und der italienische Volkscharakter historisch entwickelt.
Wie seinem geschichtlichen Sinn das Mittelalter zusagte, zeigt das 1830 erschienene
Lehrbuch der Geschichte des Mittelalters. Es war der erste Versuch,
die Geschichte des Mittelalters in ihrem universalhistorischen Zusammenhange
darzustellen. Er wollte (nach der Vorrede) das Buch beurtheilt wissen, nicht wie
eine rein objectiv gehaltne Darstellung, sondern wie eine solche, der zugleich ein
ganz subjectives Verhältniß, nämlich das des Wirkcnwollens auf die Ansicht
jüngrer Männer, zu Grunde liegt. Man wird, wenn man es mit unbefangnen
Verstände durchgehen will, eine gleichmäßig durch das ganze Buch hindurch
gehaltne religiöse, philosophische und politische Ueberzeugung bewahrt finden;
und um diese war es ihm wesentlich zu thun. Die Geschichte des Mittelalters
ist dem Verfasser nur die Geschichte der Richtungen, durch deren Gegeneinander-
wirken und Eingreifen in das Leben der einzelnen Völkerstämme die Staaten
der neuern Zeit und der Geist, welcher sie belebt, gebildet worden sind. Mit
scharfem Geiste ist hier eine neue Grundlage für die Auffassung mittelalterlicher
Zustände gegeben. Machte doch die in der Jugendzeit gewonnene Stimmung
Leo besonders geeignet, die Seiten des mittelalterlichen Lebens zu verstehen und
darzustellen, welche vielen Protestanten ganz unfaßbar sind. Weil er sich deshalb
in seinen eigenthümlichen Ansichten mehrfach katholische» Anschauungen näherte,
braucht man ihn noch nicht katholisirender Tendenzen zu zeihen. Deal gerade
in dieser Zeit der Abfassung des Werks hatte er durch ernstchristlichen Umgang
mit Professor Tholuck und dem damaligen Stadtgerichtsdireetvr von Gerlach
die Ueberzeugung gewonnen, daß die Entwicklung der lutherischen Richtung in
einer Schultheologie und in den spätern Symbolen vom Uebel sei, daß mau
sich an die objectivste Darstellung der lutherische» Richtung in ihren Anfängen,
an die Augsburgische Confession, allein zu halten habe und zwar an deren ur¬
sprüngliche Bestimmung, sich mit der alten Kirche, welche die geistliche Succession
für sich hat, zu verständigen und auszugleichen. Nicht die rechtfertigende, sondern
die den Menschen sittlich erneuernde Gnade war ihm der Mittelpunkt des Christen¬
thums und der Schwerpunkt der Reformation die Aufrichtung der augustinischen
Lehre von der Sünde und Gnade.

Zur Abfassung der Zwölf Bücher niederländischer Geschichten (Halle,
1832, zwei Bände) fühlte er sich veranlaßt, weil die frühere Zeit der Nieder-


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[0219] Erinnerungen an Heinrich Leo. Mit der Geschichte der italienischen Staaten (einem Theile der Ge¬ schichte der europäischen Staaten, herausgegeben von Heeren und Ankere) Ham¬ burg 1829 — 1832 begründete Leo seinen Ruf als einer der ersten Historiker. Die Specialgcschichtc der Staaten ist in die allgemeine Geschichte Italiens hinein¬ gezogen, namentlich das reiche Leben der italienischen Städte-Republiken des Mittelalters dargelegt und der italienische Volkscharakter historisch entwickelt. Wie seinem geschichtlichen Sinn das Mittelalter zusagte, zeigt das 1830 erschienene Lehrbuch der Geschichte des Mittelalters. Es war der erste Versuch, die Geschichte des Mittelalters in ihrem universalhistorischen Zusammenhange darzustellen. Er wollte (nach der Vorrede) das Buch beurtheilt wissen, nicht wie eine rein objectiv gehaltne Darstellung, sondern wie eine solche, der zugleich ein ganz subjectives Verhältniß, nämlich das des Wirkcnwollens auf die Ansicht jüngrer Männer, zu Grunde liegt. Man wird, wenn man es mit unbefangnen Verstände durchgehen will, eine gleichmäßig durch das ganze Buch hindurch gehaltne religiöse, philosophische und politische Ueberzeugung bewahrt finden; und um diese war es ihm wesentlich zu thun. Die Geschichte des Mittelalters ist dem Verfasser nur die Geschichte der Richtungen, durch deren Gegeneinander- wirken und Eingreifen in das Leben der einzelnen Völkerstämme die Staaten der neuern Zeit und der Geist, welcher sie belebt, gebildet worden sind. Mit scharfem Geiste ist hier eine neue Grundlage für die Auffassung mittelalterlicher Zustände gegeben. Machte doch die in der Jugendzeit gewonnene Stimmung Leo besonders geeignet, die Seiten des mittelalterlichen Lebens zu verstehen und darzustellen, welche vielen Protestanten ganz unfaßbar sind. Weil er sich deshalb in seinen eigenthümlichen Ansichten mehrfach katholische» Anschauungen näherte, braucht man ihn noch nicht katholisirender Tendenzen zu zeihen. Deal gerade in dieser Zeit der Abfassung des Werks hatte er durch ernstchristlichen Umgang mit Professor Tholuck und dem damaligen Stadtgerichtsdireetvr von Gerlach die Ueberzeugung gewonnen, daß die Entwicklung der lutherischen Richtung in einer Schultheologie und in den spätern Symbolen vom Uebel sei, daß mau sich an die objectivste Darstellung der lutherische» Richtung in ihren Anfängen, an die Augsburgische Confession, allein zu halten habe und zwar an deren ur¬ sprüngliche Bestimmung, sich mit der alten Kirche, welche die geistliche Succession für sich hat, zu verständigen und auszugleichen. Nicht die rechtfertigende, sondern die den Menschen sittlich erneuernde Gnade war ihm der Mittelpunkt des Christen¬ thums und der Schwerpunkt der Reformation die Aufrichtung der augustinischen Lehre von der Sünde und Gnade. Zur Abfassung der Zwölf Bücher niederländischer Geschichten (Halle, 1832, zwei Bände) fühlte er sich veranlaßt, weil die frühere Zeit der Nieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157699/219>, abgerufen am 28.07.2024.