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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Gin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

in diese Bahn gefolgt ist, die eigentliche Wende, welcher beide geniale Denker in der
Gesellschaftslehre zum Durchbruche verholfen haben, besteht, kurz gesagt, in dem
Versuche des streng wissenschaftlichen Nachweises, daß in der gleichen Weise,
wie sich auf Grund von feststehenden, aber freilich nicht weiter erklärbaren
Naturgesetzen, aus dem Reiche des Unorganischen das des Organischen erhebt,
so aus dem Reiche des Organischen nach denselben Naturgesetzen wiederum das
des Organisch-socialen in der Menschheit als einheitlichem Individuum sich
erhebe, und zwar in der Art, daß hiermit nun die Gesammtnatur ihren voll¬
endeten Abschluß erhalte oder vielmehr erhalten werde. Denn beide Forscher
lassen die Welt, wie schon angegeben, jenem Ziele in darwinistischer Entwicklung
zustreben. Die menschliche Gesellschaft also, meinen sie, entwickle sich nach der
realen Analogie eines menschlichen Organismus. Der Hauptvergleichungspunkt
-- wenn wir zur Verdeutlichung hier einmal das besonders von Lilienfeld ver¬
abscheute Wort "Vergleich" einschicken dürfen -- ist der, daß, wie der Einzel¬
organismus aus Zellen und der Zwischenzellensubstanz besteht, so der Organismus
der menschlichen Gesellschaft, so zu sagen, aus Menschenzellen und der Zwischen-
zellsubstanz der Güterwelt bestehe.

So geistreich nun beide Männer dies ausführen, so weichen sie doch da¬
bei in ihrer Auffassung gleich hier nicht unbeträchtlich von einander ab. Für
Schäffle ist die Familie die Urzelle, für Lilienfeld die einzelne Person. So¬
dann aber legt ersterer viel detaillirter den "Körper" seiner Analogie zu Grunde;
dem Knochengewebe z. B. entspricht bei ihm das Niederlassungswesen, den
schützenden Epidermal - Epithelialgeweben die äußern und innern Schutzein¬
richtungen, den Gefäßgeweben die Erwerbs - und Einkommensorganisation, dem
Muskelgewebe das Geschäft. Käme jemand auf Grund dieser Darstellung mit
neugierigen Fragen, was denn nun das Herz oder der Magen oder das rechte
Bein der Menschheit sei, so konnte man vielleicht London als das den Blutlauf
des internationalen Güterverkehrs vermittelnde Herz fassen oder in Rom den
alles verschlingenden Magen erblicken wollen, aber zu Ende käme man auf
diesem Wege doch nicht, und Schäffle würde dagegen auch geltend machen, einmal,
daß ja alles noch im Werden sei, sodann, daß es ja ein wohl analoger, aber
doch durchaus eigenartiger Organismus sei, um den sich hier handle. Indeß
ist uns dennoch dieser Punkt von Bedeutung. Den einzelnen Thier- oder
Menschenkörper fassen wir als Organismus, weil wir von jedem einzelnen Theile
desselben die ihm zum Dienste des Ganzen zugewiesene Function nachzuweisen
vermögen. Bei der Menschheit ist das nicht möglich. Stellen wir die Frage
selbst viel allgemeiner und fragen: Sind die einzelnen Staaten im Gesammt-
organismus der Menschheit Organe oder sind sie selber Personen, welche erst
in ihrer Wahrheit den Menschheitsorgcmismns zur Persönlichkeit erheben? Denn


Gin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

in diese Bahn gefolgt ist, die eigentliche Wende, welcher beide geniale Denker in der
Gesellschaftslehre zum Durchbruche verholfen haben, besteht, kurz gesagt, in dem
Versuche des streng wissenschaftlichen Nachweises, daß in der gleichen Weise,
wie sich auf Grund von feststehenden, aber freilich nicht weiter erklärbaren
Naturgesetzen, aus dem Reiche des Unorganischen das des Organischen erhebt,
so aus dem Reiche des Organischen nach denselben Naturgesetzen wiederum das
des Organisch-socialen in der Menschheit als einheitlichem Individuum sich
erhebe, und zwar in der Art, daß hiermit nun die Gesammtnatur ihren voll¬
endeten Abschluß erhalte oder vielmehr erhalten werde. Denn beide Forscher
lassen die Welt, wie schon angegeben, jenem Ziele in darwinistischer Entwicklung
zustreben. Die menschliche Gesellschaft also, meinen sie, entwickle sich nach der
realen Analogie eines menschlichen Organismus. Der Hauptvergleichungspunkt
— wenn wir zur Verdeutlichung hier einmal das besonders von Lilienfeld ver¬
abscheute Wort „Vergleich" einschicken dürfen — ist der, daß, wie der Einzel¬
organismus aus Zellen und der Zwischenzellensubstanz besteht, so der Organismus
der menschlichen Gesellschaft, so zu sagen, aus Menschenzellen und der Zwischen-
zellsubstanz der Güterwelt bestehe.

So geistreich nun beide Männer dies ausführen, so weichen sie doch da¬
bei in ihrer Auffassung gleich hier nicht unbeträchtlich von einander ab. Für
Schäffle ist die Familie die Urzelle, für Lilienfeld die einzelne Person. So¬
dann aber legt ersterer viel detaillirter den „Körper" seiner Analogie zu Grunde;
dem Knochengewebe z. B. entspricht bei ihm das Niederlassungswesen, den
schützenden Epidermal - Epithelialgeweben die äußern und innern Schutzein¬
richtungen, den Gefäßgeweben die Erwerbs - und Einkommensorganisation, dem
Muskelgewebe das Geschäft. Käme jemand auf Grund dieser Darstellung mit
neugierigen Fragen, was denn nun das Herz oder der Magen oder das rechte
Bein der Menschheit sei, so konnte man vielleicht London als das den Blutlauf
des internationalen Güterverkehrs vermittelnde Herz fassen oder in Rom den
alles verschlingenden Magen erblicken wollen, aber zu Ende käme man auf
diesem Wege doch nicht, und Schäffle würde dagegen auch geltend machen, einmal,
daß ja alles noch im Werden sei, sodann, daß es ja ein wohl analoger, aber
doch durchaus eigenartiger Organismus sei, um den sich hier handle. Indeß
ist uns dennoch dieser Punkt von Bedeutung. Den einzelnen Thier- oder
Menschenkörper fassen wir als Organismus, weil wir von jedem einzelnen Theile
desselben die ihm zum Dienste des Ganzen zugewiesene Function nachzuweisen
vermögen. Bei der Menschheit ist das nicht möglich. Stellen wir die Frage
selbst viel allgemeiner und fragen: Sind die einzelnen Staaten im Gesammt-
organismus der Menschheit Organe oder sind sie selber Personen, welche erst
in ihrer Wahrheit den Menschheitsorgcmismns zur Persönlichkeit erheben? Denn


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[0071] Gin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre. in diese Bahn gefolgt ist, die eigentliche Wende, welcher beide geniale Denker in der Gesellschaftslehre zum Durchbruche verholfen haben, besteht, kurz gesagt, in dem Versuche des streng wissenschaftlichen Nachweises, daß in der gleichen Weise, wie sich auf Grund von feststehenden, aber freilich nicht weiter erklärbaren Naturgesetzen, aus dem Reiche des Unorganischen das des Organischen erhebt, so aus dem Reiche des Organischen nach denselben Naturgesetzen wiederum das des Organisch-socialen in der Menschheit als einheitlichem Individuum sich erhebe, und zwar in der Art, daß hiermit nun die Gesammtnatur ihren voll¬ endeten Abschluß erhalte oder vielmehr erhalten werde. Denn beide Forscher lassen die Welt, wie schon angegeben, jenem Ziele in darwinistischer Entwicklung zustreben. Die menschliche Gesellschaft also, meinen sie, entwickle sich nach der realen Analogie eines menschlichen Organismus. Der Hauptvergleichungspunkt — wenn wir zur Verdeutlichung hier einmal das besonders von Lilienfeld ver¬ abscheute Wort „Vergleich" einschicken dürfen — ist der, daß, wie der Einzel¬ organismus aus Zellen und der Zwischenzellensubstanz besteht, so der Organismus der menschlichen Gesellschaft, so zu sagen, aus Menschenzellen und der Zwischen- zellsubstanz der Güterwelt bestehe. So geistreich nun beide Männer dies ausführen, so weichen sie doch da¬ bei in ihrer Auffassung gleich hier nicht unbeträchtlich von einander ab. Für Schäffle ist die Familie die Urzelle, für Lilienfeld die einzelne Person. So¬ dann aber legt ersterer viel detaillirter den „Körper" seiner Analogie zu Grunde; dem Knochengewebe z. B. entspricht bei ihm das Niederlassungswesen, den schützenden Epidermal - Epithelialgeweben die äußern und innern Schutzein¬ richtungen, den Gefäßgeweben die Erwerbs - und Einkommensorganisation, dem Muskelgewebe das Geschäft. Käme jemand auf Grund dieser Darstellung mit neugierigen Fragen, was denn nun das Herz oder der Magen oder das rechte Bein der Menschheit sei, so konnte man vielleicht London als das den Blutlauf des internationalen Güterverkehrs vermittelnde Herz fassen oder in Rom den alles verschlingenden Magen erblicken wollen, aber zu Ende käme man auf diesem Wege doch nicht, und Schäffle würde dagegen auch geltend machen, einmal, daß ja alles noch im Werden sei, sodann, daß es ja ein wohl analoger, aber doch durchaus eigenartiger Organismus sei, um den sich hier handle. Indeß ist uns dennoch dieser Punkt von Bedeutung. Den einzelnen Thier- oder Menschenkörper fassen wir als Organismus, weil wir von jedem einzelnen Theile desselben die ihm zum Dienste des Ganzen zugewiesene Function nachzuweisen vermögen. Bei der Menschheit ist das nicht möglich. Stellen wir die Frage selbst viel allgemeiner und fragen: Sind die einzelnen Staaten im Gesammt- organismus der Menschheit Organe oder sind sie selber Personen, welche erst in ihrer Wahrheit den Menschheitsorgcmismns zur Persönlichkeit erheben? Denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/71>, abgerufen am 28.12.2024.