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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Llemento im Staate.

ohne genügende Controle emporwuchern und Veranlassung zur Entfaltung destrue-
tiver Ideen im Volke geben würden. Zur Entwicklung der Beamtenwillkür, auch
in den hohen Ehrenstellen und Aemtern, ist aber eine Zeit wie die unsre besonders
geeignet, denn diese Zeit hat mit dem russischen Nihilismus die Geringschätzung
der Autorität und die Verherrlichung des Materialismus gemein, und kann
grade deshalb leicht zu der unwürdigen Ansicht der russischen Beamten kommen,
den Staat nur für eine gute Milchkuh zu halten.

Unsre Untersuchung führt zu folgendem Resultate: Jedes Unrecht ruft in
der Brust des sittlichen Menschen Widerstand gegen dasselbe wach. Dieser Wider¬
stand ist an sich eine hohe staatsbürgerliche Tugend, denn je mehr Leute im
Staate gegen das Unrecht auftreten, um so eher wird dasselbe unmöglich gemacht;
je mehr Leute, was dasselbe ist, das Gesetzliche wollen und thatkräftig unter¬
stützen, um so kräftiger ist der Staat. Staat sein heißt sittliche Einzelwillen
zur Verfügung haben, welche das Gesetzliche wollen, oder was dasselbe ist, welche
gegen das Ungesetzliche Widerstand leisten. Aus dieser hohen menschlichen Eigen¬
schaft ist der Staat zuerst entstanden. Der Staat ist die sinnlich in Gesetzen
verwirklichte objectivirte Sittlichkeit, welche vordem nur Sittlichkeit eines einzelnen
war. Der Staat kaun nun dein Sittlichen, was der einzelne nicht kann, kraft
der gesetzlichen Nöthigung allgemeine Geltung und Nachachtung verschaffen. Auf
diese Weise wird die fortgeschrittene Sittlichkeit des einzelnen zum allmählichen
Gemeingute aller durch das Gesetz. Die gesetzliche Mitarbeit des einzelnett an
der Rechtsidee des Staates folgt daher aus dem Begriff des letztern von selbst.
Da der einzelne in seinem Handeln dem Irrthum und der Schuld unterworfen
ist, so muß dies auch beim Staate zutreffen, weil er der praktisch sinnliche
Ausdruck des sittlichen Willens von einzelne" ist. Wodurch wird nun der Wider¬
stand des einzelnen gegen das Unrecht, das der Staat oder seine Beamten aus
Irrthum oder Schuld begehen, ungesetzlich und destructiv? Abgesehen von jenen
ungesetzlichen Bestrebungen, welche aus der Bosheit des Menschen, als eines
sittlichfreien Wesens, das auch das Böse wählen kann, entspringen, fanden wir
noch einen andern Grund, die Verzweiflung am Recht, wenn nämlich der einzelne
daran verzweifelt, auf gesetzlichem Wege gegen das Unrecht ankämpfen zu können.*)



An den unbedeutendsten Vorgängen des täglichen Lebens kann "lau die Geltung beider
Grunde beobachten. Wenn z, B. in einem Eisenbahncouvv für Nichtraucher jemand dennoch
raucht, so erweckt dies bei deu Mitreisenden den Eindruck der Ungesetzlichkeit. Bemerkt min
gar der Bähnbcalntc auf eine Beschwerde, daß er das Rauchen dem Betreffenden gestattet
habe, ivcil es sein Vetter oder Freund sei, so entsteht das Gefühl des Unrechts, welches vom
Gesetz selbst scheinbar in Recht verwandelt werden soll. Die ungesetzliche Nepresalie äußert
sich sofort bei den Mitreisenden, welche nun auch (mit Unrecht) zu rauchen beginnen.
Die destructiven Llemento im Staate.

ohne genügende Controle emporwuchern und Veranlassung zur Entfaltung destrue-
tiver Ideen im Volke geben würden. Zur Entwicklung der Beamtenwillkür, auch
in den hohen Ehrenstellen und Aemtern, ist aber eine Zeit wie die unsre besonders
geeignet, denn diese Zeit hat mit dem russischen Nihilismus die Geringschätzung
der Autorität und die Verherrlichung des Materialismus gemein, und kann
grade deshalb leicht zu der unwürdigen Ansicht der russischen Beamten kommen,
den Staat nur für eine gute Milchkuh zu halten.

Unsre Untersuchung führt zu folgendem Resultate: Jedes Unrecht ruft in
der Brust des sittlichen Menschen Widerstand gegen dasselbe wach. Dieser Wider¬
stand ist an sich eine hohe staatsbürgerliche Tugend, denn je mehr Leute im
Staate gegen das Unrecht auftreten, um so eher wird dasselbe unmöglich gemacht;
je mehr Leute, was dasselbe ist, das Gesetzliche wollen und thatkräftig unter¬
stützen, um so kräftiger ist der Staat. Staat sein heißt sittliche Einzelwillen
zur Verfügung haben, welche das Gesetzliche wollen, oder was dasselbe ist, welche
gegen das Ungesetzliche Widerstand leisten. Aus dieser hohen menschlichen Eigen¬
schaft ist der Staat zuerst entstanden. Der Staat ist die sinnlich in Gesetzen
verwirklichte objectivirte Sittlichkeit, welche vordem nur Sittlichkeit eines einzelnen
war. Der Staat kaun nun dein Sittlichen, was der einzelne nicht kann, kraft
der gesetzlichen Nöthigung allgemeine Geltung und Nachachtung verschaffen. Auf
diese Weise wird die fortgeschrittene Sittlichkeit des einzelnen zum allmählichen
Gemeingute aller durch das Gesetz. Die gesetzliche Mitarbeit des einzelnett an
der Rechtsidee des Staates folgt daher aus dem Begriff des letztern von selbst.
Da der einzelne in seinem Handeln dem Irrthum und der Schuld unterworfen
ist, so muß dies auch beim Staate zutreffen, weil er der praktisch sinnliche
Ausdruck des sittlichen Willens von einzelne» ist. Wodurch wird nun der Wider¬
stand des einzelnen gegen das Unrecht, das der Staat oder seine Beamten aus
Irrthum oder Schuld begehen, ungesetzlich und destructiv? Abgesehen von jenen
ungesetzlichen Bestrebungen, welche aus der Bosheit des Menschen, als eines
sittlichfreien Wesens, das auch das Böse wählen kann, entspringen, fanden wir
noch einen andern Grund, die Verzweiflung am Recht, wenn nämlich der einzelne
daran verzweifelt, auf gesetzlichem Wege gegen das Unrecht ankämpfen zu können.*)



An den unbedeutendsten Vorgängen des täglichen Lebens kann »lau die Geltung beider
Grunde beobachten. Wenn z, B. in einem Eisenbahncouvv für Nichtraucher jemand dennoch
raucht, so erweckt dies bei deu Mitreisenden den Eindruck der Ungesetzlichkeit. Bemerkt min
gar der Bähnbcalntc auf eine Beschwerde, daß er das Rauchen dem Betreffenden gestattet
habe, ivcil es sein Vetter oder Freund sei, so entsteht das Gefühl des Unrechts, welches vom
Gesetz selbst scheinbar in Recht verwandelt werden soll. Die ungesetzliche Nepresalie äußert
sich sofort bei den Mitreisenden, welche nun auch (mit Unrecht) zu rauchen beginnen.
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[0360] Die destructiven Llemento im Staate. ohne genügende Controle emporwuchern und Veranlassung zur Entfaltung destrue- tiver Ideen im Volke geben würden. Zur Entwicklung der Beamtenwillkür, auch in den hohen Ehrenstellen und Aemtern, ist aber eine Zeit wie die unsre besonders geeignet, denn diese Zeit hat mit dem russischen Nihilismus die Geringschätzung der Autorität und die Verherrlichung des Materialismus gemein, und kann grade deshalb leicht zu der unwürdigen Ansicht der russischen Beamten kommen, den Staat nur für eine gute Milchkuh zu halten. Unsre Untersuchung führt zu folgendem Resultate: Jedes Unrecht ruft in der Brust des sittlichen Menschen Widerstand gegen dasselbe wach. Dieser Wider¬ stand ist an sich eine hohe staatsbürgerliche Tugend, denn je mehr Leute im Staate gegen das Unrecht auftreten, um so eher wird dasselbe unmöglich gemacht; je mehr Leute, was dasselbe ist, das Gesetzliche wollen und thatkräftig unter¬ stützen, um so kräftiger ist der Staat. Staat sein heißt sittliche Einzelwillen zur Verfügung haben, welche das Gesetzliche wollen, oder was dasselbe ist, welche gegen das Ungesetzliche Widerstand leisten. Aus dieser hohen menschlichen Eigen¬ schaft ist der Staat zuerst entstanden. Der Staat ist die sinnlich in Gesetzen verwirklichte objectivirte Sittlichkeit, welche vordem nur Sittlichkeit eines einzelnen war. Der Staat kaun nun dein Sittlichen, was der einzelne nicht kann, kraft der gesetzlichen Nöthigung allgemeine Geltung und Nachachtung verschaffen. Auf diese Weise wird die fortgeschrittene Sittlichkeit des einzelnen zum allmählichen Gemeingute aller durch das Gesetz. Die gesetzliche Mitarbeit des einzelnett an der Rechtsidee des Staates folgt daher aus dem Begriff des letztern von selbst. Da der einzelne in seinem Handeln dem Irrthum und der Schuld unterworfen ist, so muß dies auch beim Staate zutreffen, weil er der praktisch sinnliche Ausdruck des sittlichen Willens von einzelne» ist. Wodurch wird nun der Wider¬ stand des einzelnen gegen das Unrecht, das der Staat oder seine Beamten aus Irrthum oder Schuld begehen, ungesetzlich und destructiv? Abgesehen von jenen ungesetzlichen Bestrebungen, welche aus der Bosheit des Menschen, als eines sittlichfreien Wesens, das auch das Böse wählen kann, entspringen, fanden wir noch einen andern Grund, die Verzweiflung am Recht, wenn nämlich der einzelne daran verzweifelt, auf gesetzlichem Wege gegen das Unrecht ankämpfen zu können.*) An den unbedeutendsten Vorgängen des täglichen Lebens kann »lau die Geltung beider Grunde beobachten. Wenn z, B. in einem Eisenbahncouvv für Nichtraucher jemand dennoch raucht, so erweckt dies bei deu Mitreisenden den Eindruck der Ungesetzlichkeit. Bemerkt min gar der Bähnbcalntc auf eine Beschwerde, daß er das Rauchen dem Betreffenden gestattet habe, ivcil es sein Vetter oder Freund sei, so entsteht das Gefühl des Unrechts, welches vom Gesetz selbst scheinbar in Recht verwandelt werden soll. Die ungesetzliche Nepresalie äußert sich sofort bei den Mitreisenden, welche nun auch (mit Unrecht) zu rauchen beginnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/360>, abgerufen am 01.01.2025.