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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Ich frage hier wieder: Wo liegt der Schlüssel zur Deutung jener rüthsel-
haften, bangen Unentschlossenheit? Wie vor allem erklärt es sich, daß Emilia
sich endlich um doch von dem Prinzen, wenn auch nicht ohne Sträuben, fort¬
führen läßt? Warum reißt sie sich nicht aus seinen Armen los? eilt zurück,
ihrer Mutter, ihrem Verlobten entgegen? Man wird sagen: der plötzliche Schreck
hat sie der Besinnung beraubt, man wird sich ans Clandias Worte berufen:
"Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts. Ihrer ersten
Eindrücke nie mächtig." Nun Wohl, das ließe sich höre". Aber eins sollte
man dabei nicht übersehen, daß auch der Prinz Emilias Angst ganz anders
zu deuten weiß. Als sie mit den Worten: "Zu Ihren Füßen, gnädiger Herr"
vor ihm niederfällt, sagt er, sie aufhebend: "Ich bin äußerst beschämt. Ja,
Emilia, ich verdiene diesen stummen Borwurf. Mein Betragen diesen Morgen
ist nicht zu rechtfertigen." Wer will daran zweifeln, daß der Prinz recht ge¬
sehen?

Hier ist der Ort, wo der Dichter von der Schauspielerin, welche die Rolle
der Emilia darstellt, die höchste Leistung fordert. Der Worte, welche er seiner
Heldin in den Mund gelegt hat, sind wenige, und diese unzusammenhängend. Der
Auftritt in der Kirche, wie der Prinz ihn geschildert, wiederholt sich vollkommen.
Stumm, niedergeschlagen, zitternd steht Emilia vor ihm da. Das Spiel der
Mienen muß hier um so beredter sein, es muß besonders in dem Augen¬
blicke, da sich Emilia in wortlosen Widerstreben von dem Prinzen in seine
Gemächer fühlen läßt, eine deutliche Sprache reden. Den Sturm widerstreitender
Empfindungen, der in diesem Augenblicke Emilias Brust durchtvbt, wagte der
Dichter nicht in Worte zu fassen, er überließ es der Schauspielerin, daß sie
"mit ihm, sür ihn denke" und in ihren Bewegungen, ihren Zügen, ihrem Blicke
die verborgnen Leidenschaften des Innern widerspiegle. An dieser Stelle muß
es dem Zuschauer -- wenn überhaupt, denn es ist die einzige Seene, wo er
Emilia dem Prinzen gegenübersteht -- klar werden, welch eine bestrickende Gewalt
der Prinz über Emilia ausübt, wie ihr vor seinem Blicke die Klarheit ruhiger
Ueberlegung fehlt, die Festigkeit sittlicher Willenskraft schwindet.

In dieser Scene hat das Drama seinen Höhepunkt erreicht, hier ist die
Schwäche Emilias gegenüber dem Prinzen am unverhülltesten hervorgebrochen.
Aber die Tochter des Obersten Galotti ist nicht so ganz ihren Empfindungen
unterworfen, wie es scheinen könnte. Wenn nur der erste Ansturm vorüber
ist, so wird sie der entfesselten Gefühle wieder Meisterin sein. Nicht umsonst
sagt Claudia vou ihr, daß sie "nach der geringsten Ueberlegung in alles sich
finde, auf alles gefaßt sei." Daher sinkt sie zwar noch der Mutter bei ihrem
ersten Erscheinen ohnmächtig in die Arme, aber sobald sie in ihren nassen


Ich frage hier wieder: Wo liegt der Schlüssel zur Deutung jener rüthsel-
haften, bangen Unentschlossenheit? Wie vor allem erklärt es sich, daß Emilia
sich endlich um doch von dem Prinzen, wenn auch nicht ohne Sträuben, fort¬
führen läßt? Warum reißt sie sich nicht aus seinen Armen los? eilt zurück,
ihrer Mutter, ihrem Verlobten entgegen? Man wird sagen: der plötzliche Schreck
hat sie der Besinnung beraubt, man wird sich ans Clandias Worte berufen:
„Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts. Ihrer ersten
Eindrücke nie mächtig." Nun Wohl, das ließe sich höre». Aber eins sollte
man dabei nicht übersehen, daß auch der Prinz Emilias Angst ganz anders
zu deuten weiß. Als sie mit den Worten: „Zu Ihren Füßen, gnädiger Herr"
vor ihm niederfällt, sagt er, sie aufhebend: „Ich bin äußerst beschämt. Ja,
Emilia, ich verdiene diesen stummen Borwurf. Mein Betragen diesen Morgen
ist nicht zu rechtfertigen." Wer will daran zweifeln, daß der Prinz recht ge¬
sehen?

Hier ist der Ort, wo der Dichter von der Schauspielerin, welche die Rolle
der Emilia darstellt, die höchste Leistung fordert. Der Worte, welche er seiner
Heldin in den Mund gelegt hat, sind wenige, und diese unzusammenhängend. Der
Auftritt in der Kirche, wie der Prinz ihn geschildert, wiederholt sich vollkommen.
Stumm, niedergeschlagen, zitternd steht Emilia vor ihm da. Das Spiel der
Mienen muß hier um so beredter sein, es muß besonders in dem Augen¬
blicke, da sich Emilia in wortlosen Widerstreben von dem Prinzen in seine
Gemächer fühlen läßt, eine deutliche Sprache reden. Den Sturm widerstreitender
Empfindungen, der in diesem Augenblicke Emilias Brust durchtvbt, wagte der
Dichter nicht in Worte zu fassen, er überließ es der Schauspielerin, daß sie
„mit ihm, sür ihn denke" und in ihren Bewegungen, ihren Zügen, ihrem Blicke
die verborgnen Leidenschaften des Innern widerspiegle. An dieser Stelle muß
es dem Zuschauer — wenn überhaupt, denn es ist die einzige Seene, wo er
Emilia dem Prinzen gegenübersteht — klar werden, welch eine bestrickende Gewalt
der Prinz über Emilia ausübt, wie ihr vor seinem Blicke die Klarheit ruhiger
Ueberlegung fehlt, die Festigkeit sittlicher Willenskraft schwindet.

In dieser Scene hat das Drama seinen Höhepunkt erreicht, hier ist die
Schwäche Emilias gegenüber dem Prinzen am unverhülltesten hervorgebrochen.
Aber die Tochter des Obersten Galotti ist nicht so ganz ihren Empfindungen
unterworfen, wie es scheinen könnte. Wenn nur der erste Ansturm vorüber
ist, so wird sie der entfesselten Gefühle wieder Meisterin sein. Nicht umsonst
sagt Claudia vou ihr, daß sie „nach der geringsten Ueberlegung in alles sich
finde, auf alles gefaßt sei." Daher sinkt sie zwar noch der Mutter bei ihrem
ersten Erscheinen ohnmächtig in die Arme, aber sobald sie in ihren nassen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/344>, abgerufen am 27.12.2024.