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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamentansmus in England.

ließ sich nicht wegdeuteln, und wenn ein angsterfüllter Minister zurückging und
nochmals ansschnute, ob er nicht an Ende ein Schlupfloch in der Wortfassnng
finden und möglicherweise im Stande sein möchte, seine Pflicht ohne Belagerung
Sebastvpols zu erfüllen, begegnete er der sorgfältig ausgedrückten Verneinung, die
ihn in vier kahlen Worten belehrte, daß er sie ,mit keinen andern Mitteln'
erfüllen könne.

Ehe sieben Tage vom Manifeste des 15. verflossen waren, hatte das Land auf
deu Zuruf laut Antwort gegeben, und am 22. Juni sprach die große Zeitung,
benachrichtigt von dem festen Willen des Volkes und wenig bekümmert um die Be¬
fürchtungen der Vorsichtigen und um die Gewissensbedenken der Guten, es aus,
daß .Sebastvpol der Schlußstein des Bogens' sei, ,der das Schwarze Meer von
den Dvnaumündungcn bis zu den Grenzen Mingreliens überspanne', und daß ,ein
erfolgreiches Unternehmen gegen den Platz die wesentliche Bedingung dauernden
Friedens' sei. Und obwohl diese Aeußerung sich zum Theil auf eine falsche An¬
sicht gründete -- auf die Ansicht, daß die Belagerung von Silistria aufgehoben
worden -- schien es, als ob alle Welt sich beeilte, die Dinge in Einklang mit der
Zeitung zu bringen; denn binnen zwanzig Stunden nach der Veröffentlichung vom
22. Juni gehorchte die Wahrheit der Stimme falscher Gerüchte*) und folgte im
Kielwasser der Times."

Wir kehren nun zu den Resultaten der Bücherschau Betrachtung des Zcitungs-
wesens im allgemeinen zurück. Die wichtigsten Theile einer Zeitung werden von
einer kleinen Anzahl von Personen ausgearbeitet. Alles, was heute geschieht,
soll morgen besprochen werden. Wer wäre einer solchen Aufgabe völlig gewachsen,
und doch muß sie erfüllt werden. Die Folge ist eine gewisse Einförmigkeit in der
Auffassung der Dinge, von der selbst ein großes Talent sich kaum freihalten kann.
"Die Flugschrift der alten Zeit wurde geschrieben, wenn das Herz voll war, der
Leitartikel, ihr Nachkomme, wird besorgt, wenn die Glocke schlägt oder der Beutel
leer ist." Die Mannichfaltigkeit der Blätter gleicht diesen Uebelstand keineswegs
aus. Die Polemik zwischen zwei Blättern führt selten zu einem schachmatt des
einen. Beide haben Gründe, beide beweisen, jedes sucht sich unter deu Behauptungen
des Gegners die aus, welche am leichtesten zu widerlegen sind, jedes behält Recht,
wenn nicht offenkundige Thatsachen die Entscheidung geben, Fehl- und Trugschlüsse
kommen in Menge vor. Diese halb nachlässige, halb unehrliche Art des Raisonne-
ments wird endlich erst bei dem Journalisten, dann bei dein Leser zur Gewohn¬
heit. Zweitens lesen die meisten nothgedrungen nur eine Zeitung, so daß sie
die Gegenstände nur von einer Seite kennen lernen, und so befördert und befestigt
die Presse Scheidungen nach verschiedenen Dimensionen innerhalb derselben Schicht,
noch mehr aber zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft. "Die Londoner
Tagesblätter sind meist für die .respectabeln' Klassen berechnet. Ihr Inhalt wird
den andern Klassen wenigstens beiläufig bekannt durch Auszüge und Widerlegungen
der radicalen Wochenschriften. Umgekehrt aber wird von den letztern in der respcctnbcln
Presse keine Notiz genommen .... Nur in Zeiten gesellschaftlicher Ervbcben fischt
einmal ein Respectabler ein solches Blatt auf, entsetzt sich über den fremdartigen
Jdeenkreis und ersucht den Redacteur seiner Leibzeitnng unter Uebersendung des
Curiosums, ihm den Gedanken weiter auszuspinnen." Die periodischen Blätter,
die, als Bucher schrieb, von allen Klassen gelesen wurden, hielten sich von der



*) Die Belagerung von Silistria wurde in den ersten Morgenstunden des 23. Juni
wirklich aufgehoben.
Grenzlwte" I. 1881. 42
Der Parlamentansmus in England.

ließ sich nicht wegdeuteln, und wenn ein angsterfüllter Minister zurückging und
nochmals ansschnute, ob er nicht an Ende ein Schlupfloch in der Wortfassnng
finden und möglicherweise im Stande sein möchte, seine Pflicht ohne Belagerung
Sebastvpols zu erfüllen, begegnete er der sorgfältig ausgedrückten Verneinung, die
ihn in vier kahlen Worten belehrte, daß er sie ,mit keinen andern Mitteln'
erfüllen könne.

Ehe sieben Tage vom Manifeste des 15. verflossen waren, hatte das Land auf
deu Zuruf laut Antwort gegeben, und am 22. Juni sprach die große Zeitung,
benachrichtigt von dem festen Willen des Volkes und wenig bekümmert um die Be¬
fürchtungen der Vorsichtigen und um die Gewissensbedenken der Guten, es aus,
daß .Sebastvpol der Schlußstein des Bogens' sei, ,der das Schwarze Meer von
den Dvnaumündungcn bis zu den Grenzen Mingreliens überspanne', und daß ,ein
erfolgreiches Unternehmen gegen den Platz die wesentliche Bedingung dauernden
Friedens' sei. Und obwohl diese Aeußerung sich zum Theil auf eine falsche An¬
sicht gründete — auf die Ansicht, daß die Belagerung von Silistria aufgehoben
worden — schien es, als ob alle Welt sich beeilte, die Dinge in Einklang mit der
Zeitung zu bringen; denn binnen zwanzig Stunden nach der Veröffentlichung vom
22. Juni gehorchte die Wahrheit der Stimme falscher Gerüchte*) und folgte im
Kielwasser der Times."

Wir kehren nun zu den Resultaten der Bücherschau Betrachtung des Zcitungs-
wesens im allgemeinen zurück. Die wichtigsten Theile einer Zeitung werden von
einer kleinen Anzahl von Personen ausgearbeitet. Alles, was heute geschieht,
soll morgen besprochen werden. Wer wäre einer solchen Aufgabe völlig gewachsen,
und doch muß sie erfüllt werden. Die Folge ist eine gewisse Einförmigkeit in der
Auffassung der Dinge, von der selbst ein großes Talent sich kaum freihalten kann.
„Die Flugschrift der alten Zeit wurde geschrieben, wenn das Herz voll war, der
Leitartikel, ihr Nachkomme, wird besorgt, wenn die Glocke schlägt oder der Beutel
leer ist." Die Mannichfaltigkeit der Blätter gleicht diesen Uebelstand keineswegs
aus. Die Polemik zwischen zwei Blättern führt selten zu einem schachmatt des
einen. Beide haben Gründe, beide beweisen, jedes sucht sich unter deu Behauptungen
des Gegners die aus, welche am leichtesten zu widerlegen sind, jedes behält Recht,
wenn nicht offenkundige Thatsachen die Entscheidung geben, Fehl- und Trugschlüsse
kommen in Menge vor. Diese halb nachlässige, halb unehrliche Art des Raisonne-
ments wird endlich erst bei dem Journalisten, dann bei dein Leser zur Gewohn¬
heit. Zweitens lesen die meisten nothgedrungen nur eine Zeitung, so daß sie
die Gegenstände nur von einer Seite kennen lernen, und so befördert und befestigt
die Presse Scheidungen nach verschiedenen Dimensionen innerhalb derselben Schicht,
noch mehr aber zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft. „Die Londoner
Tagesblätter sind meist für die .respectabeln' Klassen berechnet. Ihr Inhalt wird
den andern Klassen wenigstens beiläufig bekannt durch Auszüge und Widerlegungen
der radicalen Wochenschriften. Umgekehrt aber wird von den letztern in der respcctnbcln
Presse keine Notiz genommen .... Nur in Zeiten gesellschaftlicher Ervbcben fischt
einmal ein Respectabler ein solches Blatt auf, entsetzt sich über den fremdartigen
Jdeenkreis und ersucht den Redacteur seiner Leibzeitnng unter Uebersendung des
Curiosums, ihm den Gedanken weiter auszuspinnen." Die periodischen Blätter,
die, als Bucher schrieb, von allen Klassen gelesen wurden, hielten sich von der



*) Die Belagerung von Silistria wurde in den ersten Morgenstunden des 23. Juni
wirklich aufgehoben.
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[0321] Der Parlamentansmus in England. ließ sich nicht wegdeuteln, und wenn ein angsterfüllter Minister zurückging und nochmals ansschnute, ob er nicht an Ende ein Schlupfloch in der Wortfassnng finden und möglicherweise im Stande sein möchte, seine Pflicht ohne Belagerung Sebastvpols zu erfüllen, begegnete er der sorgfältig ausgedrückten Verneinung, die ihn in vier kahlen Worten belehrte, daß er sie ,mit keinen andern Mitteln' erfüllen könne. Ehe sieben Tage vom Manifeste des 15. verflossen waren, hatte das Land auf deu Zuruf laut Antwort gegeben, und am 22. Juni sprach die große Zeitung, benachrichtigt von dem festen Willen des Volkes und wenig bekümmert um die Be¬ fürchtungen der Vorsichtigen und um die Gewissensbedenken der Guten, es aus, daß .Sebastvpol der Schlußstein des Bogens' sei, ,der das Schwarze Meer von den Dvnaumündungcn bis zu den Grenzen Mingreliens überspanne', und daß ,ein erfolgreiches Unternehmen gegen den Platz die wesentliche Bedingung dauernden Friedens' sei. Und obwohl diese Aeußerung sich zum Theil auf eine falsche An¬ sicht gründete — auf die Ansicht, daß die Belagerung von Silistria aufgehoben worden — schien es, als ob alle Welt sich beeilte, die Dinge in Einklang mit der Zeitung zu bringen; denn binnen zwanzig Stunden nach der Veröffentlichung vom 22. Juni gehorchte die Wahrheit der Stimme falscher Gerüchte*) und folgte im Kielwasser der Times." Wir kehren nun zu den Resultaten der Bücherschau Betrachtung des Zcitungs- wesens im allgemeinen zurück. Die wichtigsten Theile einer Zeitung werden von einer kleinen Anzahl von Personen ausgearbeitet. Alles, was heute geschieht, soll morgen besprochen werden. Wer wäre einer solchen Aufgabe völlig gewachsen, und doch muß sie erfüllt werden. Die Folge ist eine gewisse Einförmigkeit in der Auffassung der Dinge, von der selbst ein großes Talent sich kaum freihalten kann. „Die Flugschrift der alten Zeit wurde geschrieben, wenn das Herz voll war, der Leitartikel, ihr Nachkomme, wird besorgt, wenn die Glocke schlägt oder der Beutel leer ist." Die Mannichfaltigkeit der Blätter gleicht diesen Uebelstand keineswegs aus. Die Polemik zwischen zwei Blättern führt selten zu einem schachmatt des einen. Beide haben Gründe, beide beweisen, jedes sucht sich unter deu Behauptungen des Gegners die aus, welche am leichtesten zu widerlegen sind, jedes behält Recht, wenn nicht offenkundige Thatsachen die Entscheidung geben, Fehl- und Trugschlüsse kommen in Menge vor. Diese halb nachlässige, halb unehrliche Art des Raisonne- ments wird endlich erst bei dem Journalisten, dann bei dein Leser zur Gewohn¬ heit. Zweitens lesen die meisten nothgedrungen nur eine Zeitung, so daß sie die Gegenstände nur von einer Seite kennen lernen, und so befördert und befestigt die Presse Scheidungen nach verschiedenen Dimensionen innerhalb derselben Schicht, noch mehr aber zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft. „Die Londoner Tagesblätter sind meist für die .respectabeln' Klassen berechnet. Ihr Inhalt wird den andern Klassen wenigstens beiläufig bekannt durch Auszüge und Widerlegungen der radicalen Wochenschriften. Umgekehrt aber wird von den letztern in der respcctnbcln Presse keine Notiz genommen .... Nur in Zeiten gesellschaftlicher Ervbcben fischt einmal ein Respectabler ein solches Blatt auf, entsetzt sich über den fremdartigen Jdeenkreis und ersucht den Redacteur seiner Leibzeitnng unter Uebersendung des Curiosums, ihm den Gedanken weiter auszuspinnen." Die periodischen Blätter, die, als Bucher schrieb, von allen Klassen gelesen wurden, hielten sich von der *) Die Belagerung von Silistria wurde in den ersten Morgenstunden des 23. Juni wirklich aufgehoben. Grenzlwte» I. 1881. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/321>, abgerufen am 29.12.2024.