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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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xessingstudien.

Freiheit, Emilias Tod ist nichts anderes als Folge und Sühne zugleich der
Schuld, welche sie auf sich geladen hat. Alles wird daher von dem Erweise
dieser Schuld abhängen. Fällt Emilia als ein schuldlos bejammernswertes
Opfer der Leidenschaft des Prinzen und der Arglist Marinellis oder zieht sie
ein verdientes Schicksal auf sich herab? Und dazu die zweite Frage, welche sich
zu einem Theil aus der erste" mit Nothwendigkeit ergiebt, zu einem andern aber
auch selbständiger Natur ist: Hat Odoardo, der Vater Emilias, ein Recht seine
Tochter zu ermorden? Mit der Beantwortung dieser beiden Fragen, maßgebend
-- je nachdem die Antwort bejahend oder verneinend ausfällt -- für die Berech¬
tigung der Katastrophe, ist auch die Frage nach dem Werth oder Unwerth des
ganzen Stückes entschieden. Falle die Katastrophe, d. h. erweist sich der Charakter
der Heldin als ein untragischer und die That Odoardos als eine unberechtigte,
so ist unleugbar die Gesammtanlagc des Stückes verfehlt; man mag es noch
fernerhin loben wegen einzelner Schönheiten, unter die classischen Muster der
deutscheu Bühne wird es nicht mehr gerechnet werden können. Im andern Falle
aber weiß ich nicht, woher man die Berechtigung nehmen will, von verletztem
sittlichem Gefühl zu sprechen, wo eher von sittlicher Versöhnung und Erhebung
durch die Sühnung der Schuld die Rede sein sollte? In diesem Falle vielmehr
wird Lessing es erfiillt haben, was er in der Dramaturgie so schön von dein
Dichter fordert: seine Emilia wird ein "Ganzes sein, das völlig sich rundet,
wo eines aus dem andern sich völlig erklärt, wo keine Schwierigkeit aufstößt,
derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer
ihm in den: allgemeine" Plane der Dinge suchen müsse"."

Es ist klar, daß die tragische Schuld Emilias -- wenn irgendwo -- in
ihren: Verhältniß zum Prinzen zu suche" ist. Kein Geringerer als Goethe war es,
der zuerst aus diesem Punkte das Verständniß des ganzen Stückes herleiten wollte.
Nur tadelte er, daß die Liebe des Mädchens zum Prinzen nirgends ausgesprochen
sei, sondern nur "subintelligirt" werde.*) Diesen Gedanken haben später
andre aufgenommen und im einzelnen mehr oder minder glücklich ausgeführt.**)
Auch hier soll, nachdem die Stimmen dieser Männer gegenüber der allgemein
herrschenden Ansicht verhallt siud, kein andrer Versuch gemacht werden als ans
den Andeutungen, welche der Dichter über die Stellung der Heldin zum Prinzen
gegeben hat, die Berechtigung der Katastrophe zu entwickeln. Um aber über




*) Aeußerung vom 8. März 1812 in Riemers Mittheilungen über Goethe. II, 66g.
**) H. Th. Rötscher, Cvclus dramat. Charaktere II (1846) in einer feinsinnigen Charakte¬
ristik des Prinzen; D. W. Locbcll, G. E. Lessing. Aus Bonner Vorlesungen herausge¬
geben von Koberstein (1865); F. D. Rötting in einem Wismarer Schulprogramm v. 1873;
Mich. BcrnnyS nimmt in dem angeführten Aufsatz (Morgenblatt, 1864) eine Mittelstellung ein.
xessingstudien.

Freiheit, Emilias Tod ist nichts anderes als Folge und Sühne zugleich der
Schuld, welche sie auf sich geladen hat. Alles wird daher von dem Erweise
dieser Schuld abhängen. Fällt Emilia als ein schuldlos bejammernswertes
Opfer der Leidenschaft des Prinzen und der Arglist Marinellis oder zieht sie
ein verdientes Schicksal auf sich herab? Und dazu die zweite Frage, welche sich
zu einem Theil aus der erste» mit Nothwendigkeit ergiebt, zu einem andern aber
auch selbständiger Natur ist: Hat Odoardo, der Vater Emilias, ein Recht seine
Tochter zu ermorden? Mit der Beantwortung dieser beiden Fragen, maßgebend
— je nachdem die Antwort bejahend oder verneinend ausfällt — für die Berech¬
tigung der Katastrophe, ist auch die Frage nach dem Werth oder Unwerth des
ganzen Stückes entschieden. Falle die Katastrophe, d. h. erweist sich der Charakter
der Heldin als ein untragischer und die That Odoardos als eine unberechtigte,
so ist unleugbar die Gesammtanlagc des Stückes verfehlt; man mag es noch
fernerhin loben wegen einzelner Schönheiten, unter die classischen Muster der
deutscheu Bühne wird es nicht mehr gerechnet werden können. Im andern Falle
aber weiß ich nicht, woher man die Berechtigung nehmen will, von verletztem
sittlichem Gefühl zu sprechen, wo eher von sittlicher Versöhnung und Erhebung
durch die Sühnung der Schuld die Rede sein sollte? In diesem Falle vielmehr
wird Lessing es erfiillt haben, was er in der Dramaturgie so schön von dein
Dichter fordert: seine Emilia wird ein „Ganzes sein, das völlig sich rundet,
wo eines aus dem andern sich völlig erklärt, wo keine Schwierigkeit aufstößt,
derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer
ihm in den: allgemeine» Plane der Dinge suchen müsse»."

Es ist klar, daß die tragische Schuld Emilias — wenn irgendwo — in
ihren: Verhältniß zum Prinzen zu suche» ist. Kein Geringerer als Goethe war es,
der zuerst aus diesem Punkte das Verständniß des ganzen Stückes herleiten wollte.
Nur tadelte er, daß die Liebe des Mädchens zum Prinzen nirgends ausgesprochen
sei, sondern nur „subintelligirt" werde.*) Diesen Gedanken haben später
andre aufgenommen und im einzelnen mehr oder minder glücklich ausgeführt.**)
Auch hier soll, nachdem die Stimmen dieser Männer gegenüber der allgemein
herrschenden Ansicht verhallt siud, kein andrer Versuch gemacht werden als ans
den Andeutungen, welche der Dichter über die Stellung der Heldin zum Prinzen
gegeben hat, die Berechtigung der Katastrophe zu entwickeln. Um aber über




*) Aeußerung vom 8. März 1812 in Riemers Mittheilungen über Goethe. II, 66g.
**) H. Th. Rötscher, Cvclus dramat. Charaktere II (1846) in einer feinsinnigen Charakte¬
ristik des Prinzen; D. W. Locbcll, G. E. Lessing. Aus Bonner Vorlesungen herausge¬
geben von Koberstein (1865); F. D. Rötting in einem Wismarer Schulprogramm v. 1873;
Mich. BcrnnyS nimmt in dem angeführten Aufsatz (Morgenblatt, 1864) eine Mittelstellung ein.
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[0306] xessingstudien. Freiheit, Emilias Tod ist nichts anderes als Folge und Sühne zugleich der Schuld, welche sie auf sich geladen hat. Alles wird daher von dem Erweise dieser Schuld abhängen. Fällt Emilia als ein schuldlos bejammernswertes Opfer der Leidenschaft des Prinzen und der Arglist Marinellis oder zieht sie ein verdientes Schicksal auf sich herab? Und dazu die zweite Frage, welche sich zu einem Theil aus der erste» mit Nothwendigkeit ergiebt, zu einem andern aber auch selbständiger Natur ist: Hat Odoardo, der Vater Emilias, ein Recht seine Tochter zu ermorden? Mit der Beantwortung dieser beiden Fragen, maßgebend — je nachdem die Antwort bejahend oder verneinend ausfällt — für die Berech¬ tigung der Katastrophe, ist auch die Frage nach dem Werth oder Unwerth des ganzen Stückes entschieden. Falle die Katastrophe, d. h. erweist sich der Charakter der Heldin als ein untragischer und die That Odoardos als eine unberechtigte, so ist unleugbar die Gesammtanlagc des Stückes verfehlt; man mag es noch fernerhin loben wegen einzelner Schönheiten, unter die classischen Muster der deutscheu Bühne wird es nicht mehr gerechnet werden können. Im andern Falle aber weiß ich nicht, woher man die Berechtigung nehmen will, von verletztem sittlichem Gefühl zu sprechen, wo eher von sittlicher Versöhnung und Erhebung durch die Sühnung der Schuld die Rede sein sollte? In diesem Falle vielmehr wird Lessing es erfiillt haben, was er in der Dramaturgie so schön von dein Dichter fordert: seine Emilia wird ein „Ganzes sein, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erklärt, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm in den: allgemeine» Plane der Dinge suchen müsse»." Es ist klar, daß die tragische Schuld Emilias — wenn irgendwo — in ihren: Verhältniß zum Prinzen zu suche» ist. Kein Geringerer als Goethe war es, der zuerst aus diesem Punkte das Verständniß des ganzen Stückes herleiten wollte. Nur tadelte er, daß die Liebe des Mädchens zum Prinzen nirgends ausgesprochen sei, sondern nur „subintelligirt" werde.*) Diesen Gedanken haben später andre aufgenommen und im einzelnen mehr oder minder glücklich ausgeführt.**) Auch hier soll, nachdem die Stimmen dieser Männer gegenüber der allgemein herrschenden Ansicht verhallt siud, kein andrer Versuch gemacht werden als ans den Andeutungen, welche der Dichter über die Stellung der Heldin zum Prinzen gegeben hat, die Berechtigung der Katastrophe zu entwickeln. Um aber über *) Aeußerung vom 8. März 1812 in Riemers Mittheilungen über Goethe. II, 66g. **) H. Th. Rötscher, Cvclus dramat. Charaktere II (1846) in einer feinsinnigen Charakte¬ ristik des Prinzen; D. W. Locbcll, G. E. Lessing. Aus Bonner Vorlesungen herausge¬ geben von Koberstein (1865); F. D. Rötting in einem Wismarer Schulprogramm v. 1873; Mich. BcrnnyS nimmt in dem angeführten Aufsatz (Morgenblatt, 1864) eine Mittelstellung ein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/306>, abgerufen am 29.12.2024.