Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Parlamentarismus in England.

Blaubüchern nicht vollständig charalterisirt. Nicht bloß die russische, auch die eng¬
lische Regierung befolgt das System, mit ihren Agenten doppelte Depeschen zu
wechseln, ostensible und reservirte, nur daß jene es gegen die fremden Staaten,
diese es gegen das eigne Parlament benutzt. Aber es gehen mit jenen Acker-
stücken noch andere Dinge vor. Ein Beispiel dazu ist folgender Ausschnitt aus
der Times: "Am 23. Juni 1842 versicherte Sir I. Hobhouse (Präsident des
Aufsichtsrathes für Indien) und Lord Palmerston (damals Minister des Aus¬
wärtigen), daß Lord Auckland (der Generalgouvemeur von Indien) die Ansichten
von Sir Alexander Burnes (dem britischen Gesandten in Kabul) habe adoptiren
müssen. Um dieses Vertheidigungssystem zu behaupten und die eigne Schuld
auf das Gedächtniß eines Mannes abzuwälzen, der nicht mehr unter den Lebenden
war, und von dem man damals noch nicht wußte, daß er Duplieate, ja sogar
Triplicate seines ganzen amtlichen Briefwechsels hinterlassen hatte, legte man
dein Parlament ein Blaubuch vor, in dem aus jeden: Documente sorgfältig jede
Zeile entfernt war, welche die in der That verantwortlichen Personen hätte
implieiren können. Ja aus einem Briefe hatte man die ersten paar Zeilen
weggestrichen, aber von dem Eingange gerade soviel stehen lassen, daß der Leser
die Vorstellung erhielt, Burnes trage seine eignen Ansichten vor, während er
in Wirklichkeit Gedanken, die Lord Auckland ausgesprochen, wiederholte, um
darauf zu antworten. Als Lord Palmerston die Versicherung des Grafen Nessel¬
rode empfing, daß Rußland nicht daran denke, sich in die Angelegenheiten Central-
asiens zu mischen, hatte er die Instructionen in Händen, mit denen der russische
Agent Vikowitsch uach Afghanistan gegangen war. Um ein gutes Einvernehmen
mit dem Petersburger Hofe zu erhalten, verstand sich die englische Regierung
dazu, den Widerspruch zu übersehen, und befestigte, Lüge um Lüge tauschend,
das Band der Vereinigung dadurch, daß sie die Handlungen ihrer eignen Agenten
dcsavouirte und deren Charakter anschwärzte."

Auch mit dem, was vorgelegt wird, weiß das Haus wenig anzufangen.
Das Bewußtsein, daß die Berathung Senf nach der Mahlzeit ist, benimmt ihr
allen Ernst. Was soll, nachdem der Vertrag geschlossen, die Schlacht geschlagen
worden, noch eine Debatte, wenn sie nicht prüfen soll, ob Grund zur Anklage
gegen den Minister vorhanden, und Debatten mit solchem Zwecke kommen nicht
mehr vor, da, wie wir gesehen, Ministeranklagen nicht mehr Mode sind. Selbst
Belehrung des Volkes wird nur sehr unvollständig erreicht; denn "nicht jedes
Parlamentsmitglied hat Luft, tausend Fvlioseiten durchzulesen, die, wenn die
Lectüre überhaupt etwas nützen soll, wie ein Voclsx rssoriMs gelesen werden
müssen, mit dem Bleistift und dem Mikroskop in der Hand, den gleichzeitigen
Ereignissen vor Augen und der Geschichte der Vergangenheit im Kopfe." Selbst


Der Parlamentarismus in England.

Blaubüchern nicht vollständig charalterisirt. Nicht bloß die russische, auch die eng¬
lische Regierung befolgt das System, mit ihren Agenten doppelte Depeschen zu
wechseln, ostensible und reservirte, nur daß jene es gegen die fremden Staaten,
diese es gegen das eigne Parlament benutzt. Aber es gehen mit jenen Acker-
stücken noch andere Dinge vor. Ein Beispiel dazu ist folgender Ausschnitt aus
der Times: „Am 23. Juni 1842 versicherte Sir I. Hobhouse (Präsident des
Aufsichtsrathes für Indien) und Lord Palmerston (damals Minister des Aus¬
wärtigen), daß Lord Auckland (der Generalgouvemeur von Indien) die Ansichten
von Sir Alexander Burnes (dem britischen Gesandten in Kabul) habe adoptiren
müssen. Um dieses Vertheidigungssystem zu behaupten und die eigne Schuld
auf das Gedächtniß eines Mannes abzuwälzen, der nicht mehr unter den Lebenden
war, und von dem man damals noch nicht wußte, daß er Duplieate, ja sogar
Triplicate seines ganzen amtlichen Briefwechsels hinterlassen hatte, legte man
dein Parlament ein Blaubuch vor, in dem aus jeden: Documente sorgfältig jede
Zeile entfernt war, welche die in der That verantwortlichen Personen hätte
implieiren können. Ja aus einem Briefe hatte man die ersten paar Zeilen
weggestrichen, aber von dem Eingange gerade soviel stehen lassen, daß der Leser
die Vorstellung erhielt, Burnes trage seine eignen Ansichten vor, während er
in Wirklichkeit Gedanken, die Lord Auckland ausgesprochen, wiederholte, um
darauf zu antworten. Als Lord Palmerston die Versicherung des Grafen Nessel¬
rode empfing, daß Rußland nicht daran denke, sich in die Angelegenheiten Central-
asiens zu mischen, hatte er die Instructionen in Händen, mit denen der russische
Agent Vikowitsch uach Afghanistan gegangen war. Um ein gutes Einvernehmen
mit dem Petersburger Hofe zu erhalten, verstand sich die englische Regierung
dazu, den Widerspruch zu übersehen, und befestigte, Lüge um Lüge tauschend,
das Band der Vereinigung dadurch, daß sie die Handlungen ihrer eignen Agenten
dcsavouirte und deren Charakter anschwärzte."

Auch mit dem, was vorgelegt wird, weiß das Haus wenig anzufangen.
Das Bewußtsein, daß die Berathung Senf nach der Mahlzeit ist, benimmt ihr
allen Ernst. Was soll, nachdem der Vertrag geschlossen, die Schlacht geschlagen
worden, noch eine Debatte, wenn sie nicht prüfen soll, ob Grund zur Anklage
gegen den Minister vorhanden, und Debatten mit solchem Zwecke kommen nicht
mehr vor, da, wie wir gesehen, Ministeranklagen nicht mehr Mode sind. Selbst
Belehrung des Volkes wird nur sehr unvollständig erreicht; denn „nicht jedes
Parlamentsmitglied hat Luft, tausend Fvlioseiten durchzulesen, die, wenn die
Lectüre überhaupt etwas nützen soll, wie ein Voclsx rssoriMs gelesen werden
müssen, mit dem Bleistift und dem Mikroskop in der Hand, den gleichzeitigen
Ereignissen vor Augen und der Geschichte der Vergangenheit im Kopfe." Selbst


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149261"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Parlamentarismus in England.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_753" prev="#ID_752"> Blaubüchern nicht vollständig charalterisirt. Nicht bloß die russische, auch die eng¬<lb/>
lische Regierung befolgt das System, mit ihren Agenten doppelte Depeschen zu<lb/>
wechseln, ostensible und reservirte, nur daß jene es gegen die fremden Staaten,<lb/>
diese es gegen das eigne Parlament benutzt. Aber es gehen mit jenen Acker-<lb/>
stücken noch andere Dinge vor. Ein Beispiel dazu ist folgender Ausschnitt aus<lb/>
der Times: &#x201E;Am 23. Juni 1842 versicherte Sir I. Hobhouse (Präsident des<lb/>
Aufsichtsrathes für Indien) und Lord Palmerston (damals Minister des Aus¬<lb/>
wärtigen), daß Lord Auckland (der Generalgouvemeur von Indien) die Ansichten<lb/>
von Sir Alexander Burnes (dem britischen Gesandten in Kabul) habe adoptiren<lb/>
müssen. Um dieses Vertheidigungssystem zu behaupten und die eigne Schuld<lb/>
auf das Gedächtniß eines Mannes abzuwälzen, der nicht mehr unter den Lebenden<lb/>
war, und von dem man damals noch nicht wußte, daß er Duplieate, ja sogar<lb/>
Triplicate seines ganzen amtlichen Briefwechsels hinterlassen hatte, legte man<lb/>
dein Parlament ein Blaubuch vor, in dem aus jeden: Documente sorgfältig jede<lb/>
Zeile entfernt war, welche die in der That verantwortlichen Personen hätte<lb/>
implieiren können. Ja aus einem Briefe hatte man die ersten paar Zeilen<lb/>
weggestrichen, aber von dem Eingange gerade soviel stehen lassen, daß der Leser<lb/>
die Vorstellung erhielt, Burnes trage seine eignen Ansichten vor, während er<lb/>
in Wirklichkeit Gedanken, die Lord Auckland ausgesprochen, wiederholte, um<lb/>
darauf zu antworten. Als Lord Palmerston die Versicherung des Grafen Nessel¬<lb/>
rode empfing, daß Rußland nicht daran denke, sich in die Angelegenheiten Central-<lb/>
asiens zu mischen, hatte er die Instructionen in Händen, mit denen der russische<lb/>
Agent Vikowitsch uach Afghanistan gegangen war. Um ein gutes Einvernehmen<lb/>
mit dem Petersburger Hofe zu erhalten, verstand sich die englische Regierung<lb/>
dazu, den Widerspruch zu übersehen, und befestigte, Lüge um Lüge tauschend,<lb/>
das Band der Vereinigung dadurch, daß sie die Handlungen ihrer eignen Agenten<lb/>
dcsavouirte und deren Charakter anschwärzte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_754" next="#ID_755"> Auch mit dem, was vorgelegt wird, weiß das Haus wenig anzufangen.<lb/>
Das Bewußtsein, daß die Berathung Senf nach der Mahlzeit ist, benimmt ihr<lb/>
allen Ernst. Was soll, nachdem der Vertrag geschlossen, die Schlacht geschlagen<lb/>
worden, noch eine Debatte, wenn sie nicht prüfen soll, ob Grund zur Anklage<lb/>
gegen den Minister vorhanden, und Debatten mit solchem Zwecke kommen nicht<lb/>
mehr vor, da, wie wir gesehen, Ministeranklagen nicht mehr Mode sind. Selbst<lb/>
Belehrung des Volkes wird nur sehr unvollständig erreicht; denn &#x201E;nicht jedes<lb/>
Parlamentsmitglied hat Luft, tausend Fvlioseiten durchzulesen, die, wenn die<lb/>
Lectüre überhaupt etwas nützen soll, wie ein Voclsx rssoriMs gelesen werden<lb/>
müssen, mit dem Bleistift und dem Mikroskop in der Hand, den gleichzeitigen<lb/>
Ereignissen vor Augen und der Geschichte der Vergangenheit im Kopfe." Selbst</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Der Parlamentarismus in England. Blaubüchern nicht vollständig charalterisirt. Nicht bloß die russische, auch die eng¬ lische Regierung befolgt das System, mit ihren Agenten doppelte Depeschen zu wechseln, ostensible und reservirte, nur daß jene es gegen die fremden Staaten, diese es gegen das eigne Parlament benutzt. Aber es gehen mit jenen Acker- stücken noch andere Dinge vor. Ein Beispiel dazu ist folgender Ausschnitt aus der Times: „Am 23. Juni 1842 versicherte Sir I. Hobhouse (Präsident des Aufsichtsrathes für Indien) und Lord Palmerston (damals Minister des Aus¬ wärtigen), daß Lord Auckland (der Generalgouvemeur von Indien) die Ansichten von Sir Alexander Burnes (dem britischen Gesandten in Kabul) habe adoptiren müssen. Um dieses Vertheidigungssystem zu behaupten und die eigne Schuld auf das Gedächtniß eines Mannes abzuwälzen, der nicht mehr unter den Lebenden war, und von dem man damals noch nicht wußte, daß er Duplieate, ja sogar Triplicate seines ganzen amtlichen Briefwechsels hinterlassen hatte, legte man dein Parlament ein Blaubuch vor, in dem aus jeden: Documente sorgfältig jede Zeile entfernt war, welche die in der That verantwortlichen Personen hätte implieiren können. Ja aus einem Briefe hatte man die ersten paar Zeilen weggestrichen, aber von dem Eingange gerade soviel stehen lassen, daß der Leser die Vorstellung erhielt, Burnes trage seine eignen Ansichten vor, während er in Wirklichkeit Gedanken, die Lord Auckland ausgesprochen, wiederholte, um darauf zu antworten. Als Lord Palmerston die Versicherung des Grafen Nessel¬ rode empfing, daß Rußland nicht daran denke, sich in die Angelegenheiten Central- asiens zu mischen, hatte er die Instructionen in Händen, mit denen der russische Agent Vikowitsch uach Afghanistan gegangen war. Um ein gutes Einvernehmen mit dem Petersburger Hofe zu erhalten, verstand sich die englische Regierung dazu, den Widerspruch zu übersehen, und befestigte, Lüge um Lüge tauschend, das Band der Vereinigung dadurch, daß sie die Handlungen ihrer eignen Agenten dcsavouirte und deren Charakter anschwärzte." Auch mit dem, was vorgelegt wird, weiß das Haus wenig anzufangen. Das Bewußtsein, daß die Berathung Senf nach der Mahlzeit ist, benimmt ihr allen Ernst. Was soll, nachdem der Vertrag geschlossen, die Schlacht geschlagen worden, noch eine Debatte, wenn sie nicht prüfen soll, ob Grund zur Anklage gegen den Minister vorhanden, und Debatten mit solchem Zwecke kommen nicht mehr vor, da, wie wir gesehen, Ministeranklagen nicht mehr Mode sind. Selbst Belehrung des Volkes wird nur sehr unvollständig erreicht; denn „nicht jedes Parlamentsmitglied hat Luft, tausend Fvlioseiten durchzulesen, die, wenn die Lectüre überhaupt etwas nützen soll, wie ein Voclsx rssoriMs gelesen werden müssen, mit dem Bleistift und dem Mikroskop in der Hand, den gleichzeitigen Ereignissen vor Augen und der Geschichte der Vergangenheit im Kopfe." Selbst

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/277>, abgerufen am 29.12.2024.