Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Parlamentarismus in England.

Mitglieder bekannt sind und erst nach Jahren offenbar werden." (Beispiele
S. 155 ff.)

Die nächste Folge der gesetzgeberische" Ueberproduction ist, daß der Bürger
das in viele Tausende von Statuten verstreute Recht nicht mehr kennt. Der¬
selbe ist in England mehr wie anderwärts auf deu Advvcatenstand angewiesen,
der dadurch zu einer großen Macht im Staate geworden ist. "Der Staat hat
diese Macht uoch uicht unterjocht. Daß sie unabhängig, ist ein Vorzug gegen
festländische Zustände, daß sie existirt, ein Hinderniß der organischen Rechtsent-
wicllnng. Juristen sind die schlechtesten Gesetzgeber .... Die Ent¬
wicklung des Rechts unter ihren Händen ist im günstigsten Fall eine korallen¬
artige. Der Bürger verliert die Fähigkeit, aus einzelnen großen Principien
für alle Mannichfaltigkeit der Verhältnisse die Regel des Verhaltens abzuleiten.
Er bedars einer kleinlichen Gesetzgebung, und je mehr er befriedigt wird, desto mehr
steigert sich das Bedürfniß .... Svdnnn aber kommt mit dieser Unsicherheit in
selbständiger Anwendung einfacher Principien von selbst die Gleichgiltigkeit gegen
ihre Verletzung. Das Gefühl wird stumpf, und wer noch vor fünfzig Jahren einen
Sturm der Entrüstung erregt hätte, liefert heute kaum eines Tages Geschwätz."

Wer leitet in England die auswärtige Politik? Bucher antwortet: das
Parlament offenbar nicht; es kann sie aus formellen und materiellen Gründen
nicht bestimmen. Er sagt: "Seit der Befestigung der parlamentarischen Regierung
ist der Geschäftsgang so: der Minister des Auswärtigen knüpft im tiefsten Ge¬
heimnisse Verhandlungen an, ertheilt Jnstructionen an Gesandte und Admiräle,
zeichnet Puuctativneu. Nach einiger Zeit wird vom Auslande her etwas ruchbar,
jemand verlangt Auskunft, interpellirt. Der Minister enthält die Auskunft vor --
Der eine verweigert rundweg die Antwort ,aus hohem Pflichtgefühl', ,im Be¬
wußtsein seiner Verantwortlichkeit', ,im Interesse des Dienstes'. Die Sache
schwebt, der diplomatische Hexenkessel ist im Flusse, das Gold ist beinahe fertig;
ein vorzeitiges Wort, ein profaner Blick, und alles wäre verdorben, der Stein
der Weisen würde zu Kohle. Das hohe Haus bebt in abergläubischen Schauder
zurück und ergiebt sich in seine Unwissenheit." Palmerston erreichte denselben
Zweck auf lustigere Weise. Geschwind sprang er nach der Jnterpellation auf
und erklärte sich ganz glücklich, ja dankbar für die, welche die Sache vor das
Haus gebracht, dem alle Diener Ihrer Majestät verantwortlich seien, und dessen
Weisheit die Geschicke Englands leite. Indem er sich dann "mit Vergnügen
beeilte, die vollständigste Auskunft zu ertheilen." sagte er entweder eine factische
Unrichtigkeit oder etwas Doppelsinniges oder eine Abgeschmacktheit oder eine
Insolenz. Bucher belegt das (S. 194 ff.) mit verschiednen Beispielen, von denen
hier folgendes genügen mag.


Der Parlamentarismus in England.

Mitglieder bekannt sind und erst nach Jahren offenbar werden." (Beispiele
S. 155 ff.)

Die nächste Folge der gesetzgeberische» Ueberproduction ist, daß der Bürger
das in viele Tausende von Statuten verstreute Recht nicht mehr kennt. Der¬
selbe ist in England mehr wie anderwärts auf deu Advvcatenstand angewiesen,
der dadurch zu einer großen Macht im Staate geworden ist. „Der Staat hat
diese Macht uoch uicht unterjocht. Daß sie unabhängig, ist ein Vorzug gegen
festländische Zustände, daß sie existirt, ein Hinderniß der organischen Rechtsent-
wicllnng. Juristen sind die schlechtesten Gesetzgeber .... Die Ent¬
wicklung des Rechts unter ihren Händen ist im günstigsten Fall eine korallen¬
artige. Der Bürger verliert die Fähigkeit, aus einzelnen großen Principien
für alle Mannichfaltigkeit der Verhältnisse die Regel des Verhaltens abzuleiten.
Er bedars einer kleinlichen Gesetzgebung, und je mehr er befriedigt wird, desto mehr
steigert sich das Bedürfniß .... Svdnnn aber kommt mit dieser Unsicherheit in
selbständiger Anwendung einfacher Principien von selbst die Gleichgiltigkeit gegen
ihre Verletzung. Das Gefühl wird stumpf, und wer noch vor fünfzig Jahren einen
Sturm der Entrüstung erregt hätte, liefert heute kaum eines Tages Geschwätz."

Wer leitet in England die auswärtige Politik? Bucher antwortet: das
Parlament offenbar nicht; es kann sie aus formellen und materiellen Gründen
nicht bestimmen. Er sagt: „Seit der Befestigung der parlamentarischen Regierung
ist der Geschäftsgang so: der Minister des Auswärtigen knüpft im tiefsten Ge¬
heimnisse Verhandlungen an, ertheilt Jnstructionen an Gesandte und Admiräle,
zeichnet Puuctativneu. Nach einiger Zeit wird vom Auslande her etwas ruchbar,
jemand verlangt Auskunft, interpellirt. Der Minister enthält die Auskunft vor —
Der eine verweigert rundweg die Antwort ,aus hohem Pflichtgefühl', ,im Be¬
wußtsein seiner Verantwortlichkeit', ,im Interesse des Dienstes'. Die Sache
schwebt, der diplomatische Hexenkessel ist im Flusse, das Gold ist beinahe fertig;
ein vorzeitiges Wort, ein profaner Blick, und alles wäre verdorben, der Stein
der Weisen würde zu Kohle. Das hohe Haus bebt in abergläubischen Schauder
zurück und ergiebt sich in seine Unwissenheit." Palmerston erreichte denselben
Zweck auf lustigere Weise. Geschwind sprang er nach der Jnterpellation auf
und erklärte sich ganz glücklich, ja dankbar für die, welche die Sache vor das
Haus gebracht, dem alle Diener Ihrer Majestät verantwortlich seien, und dessen
Weisheit die Geschicke Englands leite. Indem er sich dann „mit Vergnügen
beeilte, die vollständigste Auskunft zu ertheilen." sagte er entweder eine factische
Unrichtigkeit oder etwas Doppelsinniges oder eine Abgeschmacktheit oder eine
Insolenz. Bucher belegt das (S. 194 ff.) mit verschiednen Beispielen, von denen
hier folgendes genügen mag.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0275" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149259"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Parlamentarismus in England.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_748" prev="#ID_747"> Mitglieder bekannt sind und erst nach Jahren offenbar werden." (Beispiele<lb/>
S. 155 ff.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_749"> Die nächste Folge der gesetzgeberische» Ueberproduction ist, daß der Bürger<lb/>
das in viele Tausende von Statuten verstreute Recht nicht mehr kennt. Der¬<lb/>
selbe ist in England mehr wie anderwärts auf deu Advvcatenstand angewiesen,<lb/>
der dadurch zu einer großen Macht im Staate geworden ist. &#x201E;Der Staat hat<lb/>
diese Macht uoch uicht unterjocht. Daß sie unabhängig, ist ein Vorzug gegen<lb/>
festländische Zustände, daß sie existirt, ein Hinderniß der organischen Rechtsent-<lb/>
wicllnng. Juristen sind die schlechtesten Gesetzgeber .... Die Ent¬<lb/>
wicklung des Rechts unter ihren Händen ist im günstigsten Fall eine korallen¬<lb/>
artige. Der Bürger verliert die Fähigkeit, aus einzelnen großen Principien<lb/>
für alle Mannichfaltigkeit der Verhältnisse die Regel des Verhaltens abzuleiten.<lb/>
Er bedars einer kleinlichen Gesetzgebung, und je mehr er befriedigt wird, desto mehr<lb/>
steigert sich das Bedürfniß .... Svdnnn aber kommt mit dieser Unsicherheit in<lb/>
selbständiger Anwendung einfacher Principien von selbst die Gleichgiltigkeit gegen<lb/>
ihre Verletzung. Das Gefühl wird stumpf, und wer noch vor fünfzig Jahren einen<lb/>
Sturm der Entrüstung erregt hätte, liefert heute kaum eines Tages Geschwätz."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_750"> Wer leitet in England die auswärtige Politik? Bucher antwortet: das<lb/>
Parlament offenbar nicht; es kann sie aus formellen und materiellen Gründen<lb/>
nicht bestimmen. Er sagt: &#x201E;Seit der Befestigung der parlamentarischen Regierung<lb/>
ist der Geschäftsgang so: der Minister des Auswärtigen knüpft im tiefsten Ge¬<lb/>
heimnisse Verhandlungen an, ertheilt Jnstructionen an Gesandte und Admiräle,<lb/>
zeichnet Puuctativneu. Nach einiger Zeit wird vom Auslande her etwas ruchbar,<lb/>
jemand verlangt Auskunft, interpellirt. Der Minister enthält die Auskunft vor &#x2014;<lb/>
Der eine verweigert rundweg die Antwort ,aus hohem Pflichtgefühl', ,im Be¬<lb/>
wußtsein seiner Verantwortlichkeit', ,im Interesse des Dienstes'. Die Sache<lb/>
schwebt, der diplomatische Hexenkessel ist im Flusse, das Gold ist beinahe fertig;<lb/>
ein vorzeitiges Wort, ein profaner Blick, und alles wäre verdorben, der Stein<lb/>
der Weisen würde zu Kohle. Das hohe Haus bebt in abergläubischen Schauder<lb/>
zurück und ergiebt sich in seine Unwissenheit." Palmerston erreichte denselben<lb/>
Zweck auf lustigere Weise. Geschwind sprang er nach der Jnterpellation auf<lb/>
und erklärte sich ganz glücklich, ja dankbar für die, welche die Sache vor das<lb/>
Haus gebracht, dem alle Diener Ihrer Majestät verantwortlich seien, und dessen<lb/>
Weisheit die Geschicke Englands leite. Indem er sich dann &#x201E;mit Vergnügen<lb/>
beeilte, die vollständigste Auskunft zu ertheilen." sagte er entweder eine factische<lb/>
Unrichtigkeit oder etwas Doppelsinniges oder eine Abgeschmacktheit oder eine<lb/>
Insolenz. Bucher belegt das (S. 194 ff.) mit verschiednen Beispielen, von denen<lb/>
hier folgendes genügen mag.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0275] Der Parlamentarismus in England. Mitglieder bekannt sind und erst nach Jahren offenbar werden." (Beispiele S. 155 ff.) Die nächste Folge der gesetzgeberische» Ueberproduction ist, daß der Bürger das in viele Tausende von Statuten verstreute Recht nicht mehr kennt. Der¬ selbe ist in England mehr wie anderwärts auf deu Advvcatenstand angewiesen, der dadurch zu einer großen Macht im Staate geworden ist. „Der Staat hat diese Macht uoch uicht unterjocht. Daß sie unabhängig, ist ein Vorzug gegen festländische Zustände, daß sie existirt, ein Hinderniß der organischen Rechtsent- wicllnng. Juristen sind die schlechtesten Gesetzgeber .... Die Ent¬ wicklung des Rechts unter ihren Händen ist im günstigsten Fall eine korallen¬ artige. Der Bürger verliert die Fähigkeit, aus einzelnen großen Principien für alle Mannichfaltigkeit der Verhältnisse die Regel des Verhaltens abzuleiten. Er bedars einer kleinlichen Gesetzgebung, und je mehr er befriedigt wird, desto mehr steigert sich das Bedürfniß .... Svdnnn aber kommt mit dieser Unsicherheit in selbständiger Anwendung einfacher Principien von selbst die Gleichgiltigkeit gegen ihre Verletzung. Das Gefühl wird stumpf, und wer noch vor fünfzig Jahren einen Sturm der Entrüstung erregt hätte, liefert heute kaum eines Tages Geschwätz." Wer leitet in England die auswärtige Politik? Bucher antwortet: das Parlament offenbar nicht; es kann sie aus formellen und materiellen Gründen nicht bestimmen. Er sagt: „Seit der Befestigung der parlamentarischen Regierung ist der Geschäftsgang so: der Minister des Auswärtigen knüpft im tiefsten Ge¬ heimnisse Verhandlungen an, ertheilt Jnstructionen an Gesandte und Admiräle, zeichnet Puuctativneu. Nach einiger Zeit wird vom Auslande her etwas ruchbar, jemand verlangt Auskunft, interpellirt. Der Minister enthält die Auskunft vor — Der eine verweigert rundweg die Antwort ,aus hohem Pflichtgefühl', ,im Be¬ wußtsein seiner Verantwortlichkeit', ,im Interesse des Dienstes'. Die Sache schwebt, der diplomatische Hexenkessel ist im Flusse, das Gold ist beinahe fertig; ein vorzeitiges Wort, ein profaner Blick, und alles wäre verdorben, der Stein der Weisen würde zu Kohle. Das hohe Haus bebt in abergläubischen Schauder zurück und ergiebt sich in seine Unwissenheit." Palmerston erreichte denselben Zweck auf lustigere Weise. Geschwind sprang er nach der Jnterpellation auf und erklärte sich ganz glücklich, ja dankbar für die, welche die Sache vor das Haus gebracht, dem alle Diener Ihrer Majestät verantwortlich seien, und dessen Weisheit die Geschicke Englands leite. Indem er sich dann „mit Vergnügen beeilte, die vollständigste Auskunft zu ertheilen." sagte er entweder eine factische Unrichtigkeit oder etwas Doppelsinniges oder eine Abgeschmacktheit oder eine Insolenz. Bucher belegt das (S. 194 ff.) mit verschiednen Beispielen, von denen hier folgendes genügen mag.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/275
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/275>, abgerufen am 29.12.2024.