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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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gewisser zu zunahm, ward Oedipus und Alceste von allem Heroismus ent¬
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Wer erinnerte sich hier nicht des schreienden Laokoon, nicht des jammernden
Philoktet und der schönen und kräftigen Worte, mit denen Lessing den mi߬
verstandenen Heroismus, welchen er in dem Briefwechsel des Jahres 1756 von
der Bühne verbannt hatte, zehn Jahre später im "Laokoon" nun auch über¬
haupt aus der Kunst hinauswies? Wahre Menschlichkeit war das Ziel, welches
er ihren Darstellungen steckte, "Nach ihren Thaten sind es Geschöpfe höherer
Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen," lesen wir im ersten Capitel des
"Lnokoon" von den Helden Homers, Und mit einem Seitenblick auf das Trauer¬
spiel heißt es: "Alles stoische ist untheatrnlisch" und "die Bewunderung ist
ein kalter Affect." Stets hat sich Lessing als einen unerbittlichen Gegner alles
Unwahren und Ungesunden bezeigt: verächtlich und unwürdig erschien ihm daher
auch in der Kunst jener hohle Prunk mit gemachten Empfindungen. "Ich bin
ein Mensch und weine und lache gern," sagt der König im "Philotas." Hier
war die reiche und unerschöpfliche Fundgrube gewiesen, aus deren bildsamen
Thon der wahre Künstler seine Gestalten zu formen hat. Die ungeschminkte
Sprache der Leidenschaft ist nicht immer groß und wohlredend, ja sie ist zu¬
weilen niedrig, stets aber bleibt sie wahr und menschlich, stets dringt sie mit
erschütternder Gewalt zum Herzen des Hörers, Und wenn sie ihm das Opfer
des Mitleids abzwingt, dann hat die Tragödie ihr Ziel erreicht.

So dachte Lessing, Die neuere Aesthetik hat, wie gesagt, über diese Anschauung
den Stab gebrochen. Sehen wir zu, mit welchem Rechte, Die Schranke Lessings
auf dem Gebiete des Dramas sieht Hettner -- und er kann in dieser Auffassung
als der Vertreter der jetzt herrschenden Meinung gelten -- darin, daß er die tiefe
Bedeutung, welche in der modernen Tragödie seit Shakespeare der Begriff der
tragischen Schuld hat, nicht gefühlt habe. Bei Shakespeare ist jeder seines
Glückes Schmied, die Katastrophe quillt immer nur aus der Schuld; Lessings
Ansicht von der Natur der tragischen Schuld war die einseitig aristotelische.
Beide kennen die Schuld uur als Gegenmittel und Abwehr des Gräßlichen und
Schrecklichen, nur als nebenherspielendes Verschulden, nur als Fehltritt. Einmal
scheint freilich Lessing in einem Briefe an Mendelssohn die Nothwendigkeit der
ursächlichen Verbindung von Schuld und Katastrophe aufzublitzen, aber er hat
l^es später nie wieder dieses keimkräftigen Gedankens erinnert. So ist ihm
denn die tragische Verwicklung nichts als die Verwicklung der Intrigue oder
^ Zufalls, die Tragödie selbst nichts als die Darstellung einer rührenden und
^itleidswürdigen Handlung.

Aristoteles also kennt nach Hettner eine ursächliche Verbindung der Kala-


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gewisser zu zunahm, ward Oedipus und Alceste von allem Heroismus ent¬
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Wer erinnerte sich hier nicht des schreienden Laokoon, nicht des jammernden
Philoktet und der schönen und kräftigen Worte, mit denen Lessing den mi߬
verstandenen Heroismus, welchen er in dem Briefwechsel des Jahres 1756 von
der Bühne verbannt hatte, zehn Jahre später im „Laokoon" nun auch über¬
haupt aus der Kunst hinauswies? Wahre Menschlichkeit war das Ziel, welches
er ihren Darstellungen steckte, „Nach ihren Thaten sind es Geschöpfe höherer
Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen," lesen wir im ersten Capitel des
„Lnokoon" von den Helden Homers, Und mit einem Seitenblick auf das Trauer¬
spiel heißt es: „Alles stoische ist untheatrnlisch" und „die Bewunderung ist
ein kalter Affect." Stets hat sich Lessing als einen unerbittlichen Gegner alles
Unwahren und Ungesunden bezeigt: verächtlich und unwürdig erschien ihm daher
auch in der Kunst jener hohle Prunk mit gemachten Empfindungen. „Ich bin
ein Mensch und weine und lache gern," sagt der König im „Philotas." Hier
war die reiche und unerschöpfliche Fundgrube gewiesen, aus deren bildsamen
Thon der wahre Künstler seine Gestalten zu formen hat. Die ungeschminkte
Sprache der Leidenschaft ist nicht immer groß und wohlredend, ja sie ist zu¬
weilen niedrig, stets aber bleibt sie wahr und menschlich, stets dringt sie mit
erschütternder Gewalt zum Herzen des Hörers, Und wenn sie ihm das Opfer
des Mitleids abzwingt, dann hat die Tragödie ihr Ziel erreicht.

So dachte Lessing, Die neuere Aesthetik hat, wie gesagt, über diese Anschauung
den Stab gebrochen. Sehen wir zu, mit welchem Rechte, Die Schranke Lessings
auf dem Gebiete des Dramas sieht Hettner — und er kann in dieser Auffassung
als der Vertreter der jetzt herrschenden Meinung gelten — darin, daß er die tiefe
Bedeutung, welche in der modernen Tragödie seit Shakespeare der Begriff der
tragischen Schuld hat, nicht gefühlt habe. Bei Shakespeare ist jeder seines
Glückes Schmied, die Katastrophe quillt immer nur aus der Schuld; Lessings
Ansicht von der Natur der tragischen Schuld war die einseitig aristotelische.
Beide kennen die Schuld uur als Gegenmittel und Abwehr des Gräßlichen und
Schrecklichen, nur als nebenherspielendes Verschulden, nur als Fehltritt. Einmal
scheint freilich Lessing in einem Briefe an Mendelssohn die Nothwendigkeit der
ursächlichen Verbindung von Schuld und Katastrophe aufzublitzen, aber er hat
l^es später nie wieder dieses keimkräftigen Gedankens erinnert. So ist ihm
denn die tragische Verwicklung nichts als die Verwicklung der Intrigue oder
^ Zufalls, die Tragödie selbst nichts als die Darstellung einer rührenden und
^itleidswürdigen Handlung.

Aristoteles also kennt nach Hettner eine ursächliche Verbindung der Kala-


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[0251] Lrssingsttt!>wu. gewisser zu zunahm, ward Oedipus und Alceste von allem Heroismus ent¬ kleidet/' Wer erinnerte sich hier nicht des schreienden Laokoon, nicht des jammernden Philoktet und der schönen und kräftigen Worte, mit denen Lessing den mi߬ verstandenen Heroismus, welchen er in dem Briefwechsel des Jahres 1756 von der Bühne verbannt hatte, zehn Jahre später im „Laokoon" nun auch über¬ haupt aus der Kunst hinauswies? Wahre Menschlichkeit war das Ziel, welches er ihren Darstellungen steckte, „Nach ihren Thaten sind es Geschöpfe höherer Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen," lesen wir im ersten Capitel des „Lnokoon" von den Helden Homers, Und mit einem Seitenblick auf das Trauer¬ spiel heißt es: „Alles stoische ist untheatrnlisch" und „die Bewunderung ist ein kalter Affect." Stets hat sich Lessing als einen unerbittlichen Gegner alles Unwahren und Ungesunden bezeigt: verächtlich und unwürdig erschien ihm daher auch in der Kunst jener hohle Prunk mit gemachten Empfindungen. „Ich bin ein Mensch und weine und lache gern," sagt der König im „Philotas." Hier war die reiche und unerschöpfliche Fundgrube gewiesen, aus deren bildsamen Thon der wahre Künstler seine Gestalten zu formen hat. Die ungeschminkte Sprache der Leidenschaft ist nicht immer groß und wohlredend, ja sie ist zu¬ weilen niedrig, stets aber bleibt sie wahr und menschlich, stets dringt sie mit erschütternder Gewalt zum Herzen des Hörers, Und wenn sie ihm das Opfer des Mitleids abzwingt, dann hat die Tragödie ihr Ziel erreicht. So dachte Lessing, Die neuere Aesthetik hat, wie gesagt, über diese Anschauung den Stab gebrochen. Sehen wir zu, mit welchem Rechte, Die Schranke Lessings auf dem Gebiete des Dramas sieht Hettner — und er kann in dieser Auffassung als der Vertreter der jetzt herrschenden Meinung gelten — darin, daß er die tiefe Bedeutung, welche in der modernen Tragödie seit Shakespeare der Begriff der tragischen Schuld hat, nicht gefühlt habe. Bei Shakespeare ist jeder seines Glückes Schmied, die Katastrophe quillt immer nur aus der Schuld; Lessings Ansicht von der Natur der tragischen Schuld war die einseitig aristotelische. Beide kennen die Schuld uur als Gegenmittel und Abwehr des Gräßlichen und Schrecklichen, nur als nebenherspielendes Verschulden, nur als Fehltritt. Einmal scheint freilich Lessing in einem Briefe an Mendelssohn die Nothwendigkeit der ursächlichen Verbindung von Schuld und Katastrophe aufzublitzen, aber er hat l^es später nie wieder dieses keimkräftigen Gedankens erinnert. So ist ihm denn die tragische Verwicklung nichts als die Verwicklung der Intrigue oder ^ Zufalls, die Tragödie selbst nichts als die Darstellung einer rührenden und ^itleidswürdigen Handlung. Aristoteles also kennt nach Hettner eine ursächliche Verbindung der Kala-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/251>, abgerufen am 29.12.2024.