Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Lessingstudien.

geklärter Tagesfragen, werde er seinem eigensten Gebiete zurückgegeben, dem
Theater, das er selbst einmal seine Kanzel nennt.

^ Lessings Lehre von der Wirkung des Trauerspiels.

Es ist ein bekanntes Axiom, das; sich Lessing nicht von dem moralisirenden
Standpunkt, den sein Zeitalter bei der Würdigung der Poesie einnahm, frei¬
gemacht habe. Und wer möchte es leugnen: die volle, gesättigte Freude, mit
der das Auge Goethes auf deu Erzeugnisse" des dichterischen Genies um ihrer
selbst willen ruhte, die reine, formale Lust an der Schönheit, die nur "in ihre
künstlerische Wirkung bekümmert ist, war ihm noch nicht aufgegangen; wir Deutschen
beiden sie erst Goethe zu verdanke". Für Lessing stand noch hinter und über
dein Dichtwerke selbst der Begriff des Zweckes, die Belehrung und die Besserung.
Am kräftigste" hat er diese seine Anschauung an einer Stelle der "Hamburgischen
Dramaturgie" (77. Stück) entwickelt. "Bessern -- sagt er da -- sollen uns
alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß;
noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln." Und
im 78. Stück folgt dann die berühmte Erklärung der aristotelischen Katharsis
als einer Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, über die
so oft gespottet worden ist.

Man muß Goethes Worte in derselben Frage daneben halten, um den
ganzen tiefgreifenden Unterschied beider Knnstanschaunngen mit einem Schlage
zu überblicken. "Die Musik -- sagt Goethe in einer zuerst von Jakob Bernciys*)
in diesem Zusammenhange citirten Stelle ans der Nachlese zu Aristoteles' Poetik
(182(5) -- die Musik so wenig als irgend eine andere Kunst vermag auf Mora¬
lität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen
verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein." Von "Tragödien
und tragischen Romanen" behauptet er weiterhin, daß sie "den Geist keineswegs
beschwichtigen, sondern das Gemüth und das, was wir das Herz nennen, in
Unruhe versetzen."

Dennoch thun diejenigen Lessing Unrecht, welche seine Tragödie als ein
moralisches Cvrreetionshaus verspotten. Die ungeheuerliche Plattheit, in dem
Theater eine moralische Veranstaltung zu sehe", hat sich Lessing nie zu Schulden
k"innen lassen. Als lehrreichstes Zeugniß hierfür diene sein Verhalten zum
Hamburger Theaterstreit des Jahres 1769. Es handelte sich dabei bekanntlich
die Frage, ob ein Geistlicher das Theater besuchen und selbst Stücke schreiben



*) GrundMe der Verlornen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie.
(Zuerst in den Abhandlungen der Historisch.philojophischen Gesellschaft in Breslau I.)
Lessingstudien.

geklärter Tagesfragen, werde er seinem eigensten Gebiete zurückgegeben, dem
Theater, das er selbst einmal seine Kanzel nennt.

^ Lessings Lehre von der Wirkung des Trauerspiels.

Es ist ein bekanntes Axiom, das; sich Lessing nicht von dem moralisirenden
Standpunkt, den sein Zeitalter bei der Würdigung der Poesie einnahm, frei¬
gemacht habe. Und wer möchte es leugnen: die volle, gesättigte Freude, mit
der das Auge Goethes auf deu Erzeugnisse» des dichterischen Genies um ihrer
selbst willen ruhte, die reine, formale Lust an der Schönheit, die nur »in ihre
künstlerische Wirkung bekümmert ist, war ihm noch nicht aufgegangen; wir Deutschen
beiden sie erst Goethe zu verdanke». Für Lessing stand noch hinter und über
dein Dichtwerke selbst der Begriff des Zweckes, die Belehrung und die Besserung.
Am kräftigste» hat er diese seine Anschauung an einer Stelle der „Hamburgischen
Dramaturgie" (77. Stück) entwickelt. „Bessern — sagt er da — sollen uns
alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß;
noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln." Und
im 78. Stück folgt dann die berühmte Erklärung der aristotelischen Katharsis
als einer Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, über die
so oft gespottet worden ist.

Man muß Goethes Worte in derselben Frage daneben halten, um den
ganzen tiefgreifenden Unterschied beider Knnstanschaunngen mit einem Schlage
zu überblicken. „Die Musik — sagt Goethe in einer zuerst von Jakob Bernciys*)
in diesem Zusammenhange citirten Stelle ans der Nachlese zu Aristoteles' Poetik
(182(5) — die Musik so wenig als irgend eine andere Kunst vermag auf Mora¬
lität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen
verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein." Von „Tragödien
und tragischen Romanen" behauptet er weiterhin, daß sie „den Geist keineswegs
beschwichtigen, sondern das Gemüth und das, was wir das Herz nennen, in
Unruhe versetzen."

Dennoch thun diejenigen Lessing Unrecht, welche seine Tragödie als ein
moralisches Cvrreetionshaus verspotten. Die ungeheuerliche Plattheit, in dem
Theater eine moralische Veranstaltung zu sehe», hat sich Lessing nie zu Schulden
k»innen lassen. Als lehrreichstes Zeugniß hierfür diene sein Verhalten zum
Hamburger Theaterstreit des Jahres 1769. Es handelte sich dabei bekanntlich
die Frage, ob ein Geistlicher das Theater besuchen und selbst Stücke schreiben



*) GrundMe der Verlornen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie.
(Zuerst in den Abhandlungen der Historisch.philojophischen Gesellschaft in Breslau I.)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0243" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149227"/>
          <fw type="header" place="top"> Lessingstudien.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_662" prev="#ID_661"> geklärter Tagesfragen, werde er seinem eigensten Gebiete zurückgegeben, dem<lb/>
Theater, das er selbst einmal seine Kanzel nennt.</p><lb/>
          <div n="2">
            <head> ^ Lessings Lehre von der Wirkung des Trauerspiels.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_663"> Es ist ein bekanntes Axiom, das; sich Lessing nicht von dem moralisirenden<lb/>
Standpunkt, den sein Zeitalter bei der Würdigung der Poesie einnahm, frei¬<lb/>
gemacht habe. Und wer möchte es leugnen: die volle, gesättigte Freude, mit<lb/>
der das Auge Goethes auf deu Erzeugnisse» des dichterischen Genies um ihrer<lb/>
selbst willen ruhte, die reine, formale Lust an der Schönheit, die nur »in ihre<lb/>
künstlerische Wirkung bekümmert ist, war ihm noch nicht aufgegangen; wir Deutschen<lb/>
beiden sie erst Goethe zu verdanke». Für Lessing stand noch hinter und über<lb/>
dein Dichtwerke selbst der Begriff des Zweckes, die Belehrung und die Besserung.<lb/>
Am kräftigste» hat er diese seine Anschauung an einer Stelle der &#x201E;Hamburgischen<lb/>
Dramaturgie" (77. Stück) entwickelt. &#x201E;Bessern &#x2014; sagt er da &#x2014; sollen uns<lb/>
alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß;<lb/>
noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln." Und<lb/>
im 78. Stück folgt dann die berühmte Erklärung der aristotelischen Katharsis<lb/>
als einer Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, über die<lb/>
so oft gespottet worden ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_664"> Man muß Goethes Worte in derselben Frage daneben halten, um den<lb/>
ganzen tiefgreifenden Unterschied beider Knnstanschaunngen mit einem Schlage<lb/>
zu überblicken. &#x201E;Die Musik &#x2014; sagt Goethe in einer zuerst von Jakob Bernciys*)<lb/>
in diesem Zusammenhange citirten Stelle ans der Nachlese zu Aristoteles' Poetik<lb/>
(182(5) &#x2014; die Musik so wenig als irgend eine andere Kunst vermag auf Mora¬<lb/>
lität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen<lb/>
verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein." Von &#x201E;Tragödien<lb/>
und tragischen Romanen" behauptet er weiterhin, daß sie &#x201E;den Geist keineswegs<lb/>
beschwichtigen, sondern das Gemüth und das, was wir das Herz nennen, in<lb/>
Unruhe versetzen."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_665" next="#ID_666"> Dennoch thun diejenigen Lessing Unrecht, welche seine Tragödie als ein<lb/>
moralisches Cvrreetionshaus verspotten. Die ungeheuerliche Plattheit, in dem<lb/>
Theater eine moralische Veranstaltung zu sehe», hat sich Lessing nie zu Schulden<lb/>
k»innen lassen. Als lehrreichstes Zeugniß hierfür diene sein Verhalten zum<lb/>
Hamburger Theaterstreit des Jahres 1769. Es handelte sich dabei bekanntlich<lb/>
die Frage, ob ein Geistlicher das Theater besuchen und selbst Stücke schreiben</p><lb/>
            <note xml:id="FID_24" place="foot"> *) GrundMe der Verlornen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie.<lb/>
(Zuerst in den Abhandlungen der Historisch.philojophischen Gesellschaft in Breslau I.)</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0243] Lessingstudien. geklärter Tagesfragen, werde er seinem eigensten Gebiete zurückgegeben, dem Theater, das er selbst einmal seine Kanzel nennt. ^ Lessings Lehre von der Wirkung des Trauerspiels. Es ist ein bekanntes Axiom, das; sich Lessing nicht von dem moralisirenden Standpunkt, den sein Zeitalter bei der Würdigung der Poesie einnahm, frei¬ gemacht habe. Und wer möchte es leugnen: die volle, gesättigte Freude, mit der das Auge Goethes auf deu Erzeugnisse» des dichterischen Genies um ihrer selbst willen ruhte, die reine, formale Lust an der Schönheit, die nur »in ihre künstlerische Wirkung bekümmert ist, war ihm noch nicht aufgegangen; wir Deutschen beiden sie erst Goethe zu verdanke». Für Lessing stand noch hinter und über dein Dichtwerke selbst der Begriff des Zweckes, die Belehrung und die Besserung. Am kräftigste» hat er diese seine Anschauung an einer Stelle der „Hamburgischen Dramaturgie" (77. Stück) entwickelt. „Bessern — sagt er da — sollen uns alle Gattungen der Poesie: es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß; noch kläglicher ist es, wenn es Dichter giebt, die selbst daran zweifeln." Und im 78. Stück folgt dann die berühmte Erklärung der aristotelischen Katharsis als einer Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, über die so oft gespottet worden ist. Man muß Goethes Worte in derselben Frage daneben halten, um den ganzen tiefgreifenden Unterschied beider Knnstanschaunngen mit einem Schlage zu überblicken. „Die Musik — sagt Goethe in einer zuerst von Jakob Bernciys*) in diesem Zusammenhange citirten Stelle ans der Nachlese zu Aristoteles' Poetik (182(5) — die Musik so wenig als irgend eine andere Kunst vermag auf Mora¬ lität zu wirken, und immer ist es falsch, wenn man solche Leistungen von ihnen verlangt. Philosophie und Religion vermögen dies allein." Von „Tragödien und tragischen Romanen" behauptet er weiterhin, daß sie „den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüth und das, was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen." Dennoch thun diejenigen Lessing Unrecht, welche seine Tragödie als ein moralisches Cvrreetionshaus verspotten. Die ungeheuerliche Plattheit, in dem Theater eine moralische Veranstaltung zu sehe», hat sich Lessing nie zu Schulden k»innen lassen. Als lehrreichstes Zeugniß hierfür diene sein Verhalten zum Hamburger Theaterstreit des Jahres 1769. Es handelte sich dabei bekanntlich die Frage, ob ein Geistlicher das Theater besuchen und selbst Stücke schreiben *) GrundMe der Verlornen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie. (Zuerst in den Abhandlungen der Historisch.philojophischen Gesellschaft in Breslau I.)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/243
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/243>, abgerufen am 27.12.2024.