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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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politische Briefe,

Die Socialdemokratie ist der verderbliche Wahn, das mühevollste Werk
der Menschheit durch eine Revolution ins Leben rufen zu können. Auf den
rauchenden, blutüberströmten Trümmern der bestehenden Gesellschaft soll sich
der Palast der verjüngten Menschheit erheben, wo der vierte Stand die Güter
der Gesellschaft zum gleichen Glück jedes Einzelnen verwaltet oder wo, nach
andern, überhaupt uur noch der Arbeiterstand, bisher der vierte, nunmehr der
einzige, wohnt und wo das Wunder verwirklicht ist, daß das unvergängliche
Gefühl lange erduldeter Beschränktheit, verbunden mit dem ewig neuen Gefühle
schrankenloser Macht, el" unvergängliches Glück bereitet. Einen kühnem und
kindischeren Traum hat nie ein Märchendichter des Orients gehabt. Den schweren
Ernst erbarmungsloser Wirklichkeit erfassen wir, wenn wir den Staatssocialismus
nennen. Denn wie alle Erkenntniß nur entsteht, indem ans dem Bekannten
das Unbekannte entwickelt wird, so schreitet alle Praxis mir vor, indem aus
dem Gegebenen ein Neues, Höheres gebildet wird. Schrittweise rückt die Er¬
kenntniß und schrittweise rückt die Praxis vor, und wie in den meisten Dingen
der erste Schritt der schwerste ist, so muß oft erst eine Periode müssiger, aber
aufregender Spemlativn vergehen, ehe der erste thatsächliche Schritt gethan,
ehe aus dem Gegebenen das erste Neue entwickelt werden kann. So besteht der
fundamentale Unterschied des Staatssocialismus von der Socialdemokratie zuerst
in der Methode: hier Entwicklung, dort Revolution, hier Stetigkeit, dort
ein rasender Sturz in den Abgrund und eine geträumte Erhebung aus demselben.

Aber mit der Methode ändert sich immer auch das Ziel, nicht dessen
Idee, wohl aber seine Gestalt. Der Staatssocialismus, der eine sachgemäße
Fortbildung des Gegebenen anstrebt, sagt nichts über die Grenze, wo diese
Fortbildung ihr Ziel finden muß. Er geht nicht von der willkürlichen Voraus-
setzung aus: um die Leiden der Gesellschaft zu heilen, muß das Einzelleben
von dem Gesammtleben verschlungen werden. Er überläßt es der Erfahrung,
die Grenze zu entdecken, wo bei den gegebenen Mitteln der menschlichen Arbeit
zum Wohle aller eine unmittelbare Thätigkeit des Ganzen auf das Einzelne oder
nur ein Uebergreifen des erstem oder die Freilassung des Einzelnen stattfinden
muß. Er weiß, daß das Ganze und das Einzelne die Pole des Lebens der
Menschheit sind, und daß der eine Pol nie in dem andern verschwinde!? kann-
Die Grenze der gegenseitigen Einwirkung der beiden Pole aber ist eine nach den
Lebensbedingungen der Nationen sich verschiebende, und der Staatssocialismus
unsrer Tage hat die Aufgabe, die für die Bedürfnisse der Gegenwart unrichtig
gezogene Grenze zu Gunsten der Thätigkeit des Ganzen so weit vorzuschieben,
als die lebendige Erfahrung dieses Vorschieben für zulässig und nützlich er¬
kennen wird.


politische Briefe,

Die Socialdemokratie ist der verderbliche Wahn, das mühevollste Werk
der Menschheit durch eine Revolution ins Leben rufen zu können. Auf den
rauchenden, blutüberströmten Trümmern der bestehenden Gesellschaft soll sich
der Palast der verjüngten Menschheit erheben, wo der vierte Stand die Güter
der Gesellschaft zum gleichen Glück jedes Einzelnen verwaltet oder wo, nach
andern, überhaupt uur noch der Arbeiterstand, bisher der vierte, nunmehr der
einzige, wohnt und wo das Wunder verwirklicht ist, daß das unvergängliche
Gefühl lange erduldeter Beschränktheit, verbunden mit dem ewig neuen Gefühle
schrankenloser Macht, el» unvergängliches Glück bereitet. Einen kühnem und
kindischeren Traum hat nie ein Märchendichter des Orients gehabt. Den schweren
Ernst erbarmungsloser Wirklichkeit erfassen wir, wenn wir den Staatssocialismus
nennen. Denn wie alle Erkenntniß nur entsteht, indem ans dem Bekannten
das Unbekannte entwickelt wird, so schreitet alle Praxis mir vor, indem aus
dem Gegebenen ein Neues, Höheres gebildet wird. Schrittweise rückt die Er¬
kenntniß und schrittweise rückt die Praxis vor, und wie in den meisten Dingen
der erste Schritt der schwerste ist, so muß oft erst eine Periode müssiger, aber
aufregender Spemlativn vergehen, ehe der erste thatsächliche Schritt gethan,
ehe aus dem Gegebenen das erste Neue entwickelt werden kann. So besteht der
fundamentale Unterschied des Staatssocialismus von der Socialdemokratie zuerst
in der Methode: hier Entwicklung, dort Revolution, hier Stetigkeit, dort
ein rasender Sturz in den Abgrund und eine geträumte Erhebung aus demselben.

Aber mit der Methode ändert sich immer auch das Ziel, nicht dessen
Idee, wohl aber seine Gestalt. Der Staatssocialismus, der eine sachgemäße
Fortbildung des Gegebenen anstrebt, sagt nichts über die Grenze, wo diese
Fortbildung ihr Ziel finden muß. Er geht nicht von der willkürlichen Voraus-
setzung aus: um die Leiden der Gesellschaft zu heilen, muß das Einzelleben
von dem Gesammtleben verschlungen werden. Er überläßt es der Erfahrung,
die Grenze zu entdecken, wo bei den gegebenen Mitteln der menschlichen Arbeit
zum Wohle aller eine unmittelbare Thätigkeit des Ganzen auf das Einzelne oder
nur ein Uebergreifen des erstem oder die Freilassung des Einzelnen stattfinden
muß. Er weiß, daß das Ganze und das Einzelne die Pole des Lebens der
Menschheit sind, und daß der eine Pol nie in dem andern verschwinde!? kann-
Die Grenze der gegenseitigen Einwirkung der beiden Pole aber ist eine nach den
Lebensbedingungen der Nationen sich verschiebende, und der Staatssocialismus
unsrer Tage hat die Aufgabe, die für die Bedürfnisse der Gegenwart unrichtig
gezogene Grenze zu Gunsten der Thätigkeit des Ganzen so weit vorzuschieben,
als die lebendige Erfahrung dieses Vorschieben für zulässig und nützlich er¬
kennen wird.


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[0236] politische Briefe, Die Socialdemokratie ist der verderbliche Wahn, das mühevollste Werk der Menschheit durch eine Revolution ins Leben rufen zu können. Auf den rauchenden, blutüberströmten Trümmern der bestehenden Gesellschaft soll sich der Palast der verjüngten Menschheit erheben, wo der vierte Stand die Güter der Gesellschaft zum gleichen Glück jedes Einzelnen verwaltet oder wo, nach andern, überhaupt uur noch der Arbeiterstand, bisher der vierte, nunmehr der einzige, wohnt und wo das Wunder verwirklicht ist, daß das unvergängliche Gefühl lange erduldeter Beschränktheit, verbunden mit dem ewig neuen Gefühle schrankenloser Macht, el» unvergängliches Glück bereitet. Einen kühnem und kindischeren Traum hat nie ein Märchendichter des Orients gehabt. Den schweren Ernst erbarmungsloser Wirklichkeit erfassen wir, wenn wir den Staatssocialismus nennen. Denn wie alle Erkenntniß nur entsteht, indem ans dem Bekannten das Unbekannte entwickelt wird, so schreitet alle Praxis mir vor, indem aus dem Gegebenen ein Neues, Höheres gebildet wird. Schrittweise rückt die Er¬ kenntniß und schrittweise rückt die Praxis vor, und wie in den meisten Dingen der erste Schritt der schwerste ist, so muß oft erst eine Periode müssiger, aber aufregender Spemlativn vergehen, ehe der erste thatsächliche Schritt gethan, ehe aus dem Gegebenen das erste Neue entwickelt werden kann. So besteht der fundamentale Unterschied des Staatssocialismus von der Socialdemokratie zuerst in der Methode: hier Entwicklung, dort Revolution, hier Stetigkeit, dort ein rasender Sturz in den Abgrund und eine geträumte Erhebung aus demselben. Aber mit der Methode ändert sich immer auch das Ziel, nicht dessen Idee, wohl aber seine Gestalt. Der Staatssocialismus, der eine sachgemäße Fortbildung des Gegebenen anstrebt, sagt nichts über die Grenze, wo diese Fortbildung ihr Ziel finden muß. Er geht nicht von der willkürlichen Voraus- setzung aus: um die Leiden der Gesellschaft zu heilen, muß das Einzelleben von dem Gesammtleben verschlungen werden. Er überläßt es der Erfahrung, die Grenze zu entdecken, wo bei den gegebenen Mitteln der menschlichen Arbeit zum Wohle aller eine unmittelbare Thätigkeit des Ganzen auf das Einzelne oder nur ein Uebergreifen des erstem oder die Freilassung des Einzelnen stattfinden muß. Er weiß, daß das Ganze und das Einzelne die Pole des Lebens der Menschheit sind, und daß der eine Pol nie in dem andern verschwinde!? kann- Die Grenze der gegenseitigen Einwirkung der beiden Pole aber ist eine nach den Lebensbedingungen der Nationen sich verschiebende, und der Staatssocialismus unsrer Tage hat die Aufgabe, die für die Bedürfnisse der Gegenwart unrichtig gezogene Grenze zu Gunsten der Thätigkeit des Ganzen so weit vorzuschieben, als die lebendige Erfahrung dieses Vorschieben für zulässig und nützlich er¬ kennen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/236>, abgerufen am 27.12.2024.