Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Lande anfgenöthigten Waffenstillstand erblicke, während dessen die Vekämpfnng
des Feindes durch Reformen, also auf positivem Wege zu versuchen sein werde.
Dieses Wort wird jetzt durch das neue Gesetz in großartiger Weise eingelöst,
und statt zu kritteln und zu nergeln, sollte man stolz daraufsein, daß für Deutsch¬
land ein Bau aufgeführt werden soll, wie ihn in der Geschichte des Wirth¬
schaftslebens noch kein Volk der Erde gesehen hat.

Die neunmal klugen Herren aus der Manchcsterschulc nennen die Vor¬
schläge des Reichskanzlers, wo sie dieselben nicht ganz und gar verurtheilen,
unzureichend. Diese Vorschläge streifen, wie sie sagen, kaum das Wesen der
socialen Frage, sie sorgen nur für gewisse Kategorien der Bedürfnißfälle, wäh¬
rend andere unbeachtet bleiben. "Das ideale Verhältniß würde darin bestehen,
daß die wirthschaftliche Persönlichkeit jedes einzelnen gestärkt und er dadurch
in den Stand gesetzt werde, nach allen Seiten hin und ganz nach Maßgabe
seiner persönlichen Lage den andringenden ungünstigen Umständen Widerstand
zu leisten." Das klingt recht logisch, wem aber, so hat man mit Recht bemerkt,
soll diese Weisheit nützen? Wissen die Herren, die sie vorbringen, gesetzgeberische
Maßregeln auch nur anzudeuten, welche die Folge haben könnten, die "wirth¬
schaftliche Persönlichkeit" des Arbeiters derartig zu kräftigen, daß er die Ver¬
sicherung entbehren kann? Oder wollen sie etwa die Schwere und Allgemein¬
heit des Bedürfnisses, welches zur Versicherung gegen Unfälle, Krankheit und
Invalidität treibt, hinwegleugnen? Und wenn sie das nicht wollen und jenes
nicht wissen, welchen Zweck und Werth hat dann ein Gerede wie das ange¬
führte? Wir sehen keinen andern als den, das Interesse an der Arbeiterver-
sichernng abzuschwächen und an die Stelle von etwas Greifbaren nebelhafte
Vorstellungen vou viel wirksamern und gründlichern Mitteln zu setzen, die --
vielleicht ergriffen werden könnten.

Auf alle Fälle sind wir dem Reichskanzler Dank schuldig, daß er diese
'Sache angeregt und in Fluß gebracht hat. Das eine und das andre an seinen
Vorschlägen kann möglicherweise verbessert, der ganze Plan kann vielleicht er¬
weitert, manches darin vielleicht auch beseitigt werden. Er wird sich, wie wir
ihn keimen, praktischen Gegenvorschlägen nicht verschließen, gegen gute Gründe
sich uicht sträuben. Aber es mußte einmal ein Anfang gemacht werden mit
der Versöhnung der Arbeiter mit dem Staate. Wer Aussicht auf eine Pension
für das Alter oder die Invalidität hat, sie sei auch klein, der fühlt sich weit
wohler und zufriedener mit seinem Schicksale, der ist viel leichter zu behandeln
als der, welcher in eine ungewisse Zukunft blickt. Man beachte den Unterschied
zwischen einem Privatdiener und einem Canzleidiener oder einem Hofbedienten;
die letztern werden sich weit mehr bieten lassen, viel mehr Anhänglichkeit an


dem Lande anfgenöthigten Waffenstillstand erblicke, während dessen die Vekämpfnng
des Feindes durch Reformen, also auf positivem Wege zu versuchen sein werde.
Dieses Wort wird jetzt durch das neue Gesetz in großartiger Weise eingelöst,
und statt zu kritteln und zu nergeln, sollte man stolz daraufsein, daß für Deutsch¬
land ein Bau aufgeführt werden soll, wie ihn in der Geschichte des Wirth¬
schaftslebens noch kein Volk der Erde gesehen hat.

Die neunmal klugen Herren aus der Manchcsterschulc nennen die Vor¬
schläge des Reichskanzlers, wo sie dieselben nicht ganz und gar verurtheilen,
unzureichend. Diese Vorschläge streifen, wie sie sagen, kaum das Wesen der
socialen Frage, sie sorgen nur für gewisse Kategorien der Bedürfnißfälle, wäh¬
rend andere unbeachtet bleiben. „Das ideale Verhältniß würde darin bestehen,
daß die wirthschaftliche Persönlichkeit jedes einzelnen gestärkt und er dadurch
in den Stand gesetzt werde, nach allen Seiten hin und ganz nach Maßgabe
seiner persönlichen Lage den andringenden ungünstigen Umständen Widerstand
zu leisten." Das klingt recht logisch, wem aber, so hat man mit Recht bemerkt,
soll diese Weisheit nützen? Wissen die Herren, die sie vorbringen, gesetzgeberische
Maßregeln auch nur anzudeuten, welche die Folge haben könnten, die „wirth¬
schaftliche Persönlichkeit" des Arbeiters derartig zu kräftigen, daß er die Ver¬
sicherung entbehren kann? Oder wollen sie etwa die Schwere und Allgemein¬
heit des Bedürfnisses, welches zur Versicherung gegen Unfälle, Krankheit und
Invalidität treibt, hinwegleugnen? Und wenn sie das nicht wollen und jenes
nicht wissen, welchen Zweck und Werth hat dann ein Gerede wie das ange¬
führte? Wir sehen keinen andern als den, das Interesse an der Arbeiterver-
sichernng abzuschwächen und an die Stelle von etwas Greifbaren nebelhafte
Vorstellungen vou viel wirksamern und gründlichern Mitteln zu setzen, die —
vielleicht ergriffen werden könnten.

Auf alle Fälle sind wir dem Reichskanzler Dank schuldig, daß er diese
'Sache angeregt und in Fluß gebracht hat. Das eine und das andre an seinen
Vorschlägen kann möglicherweise verbessert, der ganze Plan kann vielleicht er¬
weitert, manches darin vielleicht auch beseitigt werden. Er wird sich, wie wir
ihn keimen, praktischen Gegenvorschlägen nicht verschließen, gegen gute Gründe
sich uicht sträuben. Aber es mußte einmal ein Anfang gemacht werden mit
der Versöhnung der Arbeiter mit dem Staate. Wer Aussicht auf eine Pension
für das Alter oder die Invalidität hat, sie sei auch klein, der fühlt sich weit
wohler und zufriedener mit seinem Schicksale, der ist viel leichter zu behandeln
als der, welcher in eine ungewisse Zukunft blickt. Man beachte den Unterschied
zwischen einem Privatdiener und einem Canzleidiener oder einem Hofbedienten;
die letztern werden sich weit mehr bieten lassen, viel mehr Anhänglichkeit an


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0191" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/149175"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_510" prev="#ID_509"> dem Lande anfgenöthigten Waffenstillstand erblicke, während dessen die Vekämpfnng<lb/>
des Feindes durch Reformen, also auf positivem Wege zu versuchen sein werde.<lb/>
Dieses Wort wird jetzt durch das neue Gesetz in großartiger Weise eingelöst,<lb/>
und statt zu kritteln und zu nergeln, sollte man stolz daraufsein, daß für Deutsch¬<lb/>
land ein Bau aufgeführt werden soll, wie ihn in der Geschichte des Wirth¬<lb/>
schaftslebens noch kein Volk der Erde gesehen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_511"> Die neunmal klugen Herren aus der Manchcsterschulc nennen die Vor¬<lb/>
schläge des Reichskanzlers, wo sie dieselben nicht ganz und gar verurtheilen,<lb/>
unzureichend. Diese Vorschläge streifen, wie sie sagen, kaum das Wesen der<lb/>
socialen Frage, sie sorgen nur für gewisse Kategorien der Bedürfnißfälle, wäh¬<lb/>
rend andere unbeachtet bleiben. &#x201E;Das ideale Verhältniß würde darin bestehen,<lb/>
daß die wirthschaftliche Persönlichkeit jedes einzelnen gestärkt und er dadurch<lb/>
in den Stand gesetzt werde, nach allen Seiten hin und ganz nach Maßgabe<lb/>
seiner persönlichen Lage den andringenden ungünstigen Umständen Widerstand<lb/>
zu leisten." Das klingt recht logisch, wem aber, so hat man mit Recht bemerkt,<lb/>
soll diese Weisheit nützen? Wissen die Herren, die sie vorbringen, gesetzgeberische<lb/>
Maßregeln auch nur anzudeuten, welche die Folge haben könnten, die &#x201E;wirth¬<lb/>
schaftliche Persönlichkeit" des Arbeiters derartig zu kräftigen, daß er die Ver¬<lb/>
sicherung entbehren kann? Oder wollen sie etwa die Schwere und Allgemein¬<lb/>
heit des Bedürfnisses, welches zur Versicherung gegen Unfälle, Krankheit und<lb/>
Invalidität treibt, hinwegleugnen? Und wenn sie das nicht wollen und jenes<lb/>
nicht wissen, welchen Zweck und Werth hat dann ein Gerede wie das ange¬<lb/>
führte? Wir sehen keinen andern als den, das Interesse an der Arbeiterver-<lb/>
sichernng abzuschwächen und an die Stelle von etwas Greifbaren nebelhafte<lb/>
Vorstellungen vou viel wirksamern und gründlichern Mitteln zu setzen, die &#x2014;<lb/>
vielleicht ergriffen werden könnten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_512" next="#ID_513"> Auf alle Fälle sind wir dem Reichskanzler Dank schuldig, daß er diese<lb/>
'Sache angeregt und in Fluß gebracht hat. Das eine und das andre an seinen<lb/>
Vorschlägen kann möglicherweise verbessert, der ganze Plan kann vielleicht er¬<lb/>
weitert, manches darin vielleicht auch beseitigt werden. Er wird sich, wie wir<lb/>
ihn keimen, praktischen Gegenvorschlägen nicht verschließen, gegen gute Gründe<lb/>
sich uicht sträuben. Aber es mußte einmal ein Anfang gemacht werden mit<lb/>
der Versöhnung der Arbeiter mit dem Staate. Wer Aussicht auf eine Pension<lb/>
für das Alter oder die Invalidität hat, sie sei auch klein, der fühlt sich weit<lb/>
wohler und zufriedener mit seinem Schicksale, der ist viel leichter zu behandeln<lb/>
als der, welcher in eine ungewisse Zukunft blickt. Man beachte den Unterschied<lb/>
zwischen einem Privatdiener und einem Canzleidiener oder einem Hofbedienten;<lb/>
die letztern werden sich weit mehr bieten lassen, viel mehr Anhänglichkeit an</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0191] dem Lande anfgenöthigten Waffenstillstand erblicke, während dessen die Vekämpfnng des Feindes durch Reformen, also auf positivem Wege zu versuchen sein werde. Dieses Wort wird jetzt durch das neue Gesetz in großartiger Weise eingelöst, und statt zu kritteln und zu nergeln, sollte man stolz daraufsein, daß für Deutsch¬ land ein Bau aufgeführt werden soll, wie ihn in der Geschichte des Wirth¬ schaftslebens noch kein Volk der Erde gesehen hat. Die neunmal klugen Herren aus der Manchcsterschulc nennen die Vor¬ schläge des Reichskanzlers, wo sie dieselben nicht ganz und gar verurtheilen, unzureichend. Diese Vorschläge streifen, wie sie sagen, kaum das Wesen der socialen Frage, sie sorgen nur für gewisse Kategorien der Bedürfnißfälle, wäh¬ rend andere unbeachtet bleiben. „Das ideale Verhältniß würde darin bestehen, daß die wirthschaftliche Persönlichkeit jedes einzelnen gestärkt und er dadurch in den Stand gesetzt werde, nach allen Seiten hin und ganz nach Maßgabe seiner persönlichen Lage den andringenden ungünstigen Umständen Widerstand zu leisten." Das klingt recht logisch, wem aber, so hat man mit Recht bemerkt, soll diese Weisheit nützen? Wissen die Herren, die sie vorbringen, gesetzgeberische Maßregeln auch nur anzudeuten, welche die Folge haben könnten, die „wirth¬ schaftliche Persönlichkeit" des Arbeiters derartig zu kräftigen, daß er die Ver¬ sicherung entbehren kann? Oder wollen sie etwa die Schwere und Allgemein¬ heit des Bedürfnisses, welches zur Versicherung gegen Unfälle, Krankheit und Invalidität treibt, hinwegleugnen? Und wenn sie das nicht wollen und jenes nicht wissen, welchen Zweck und Werth hat dann ein Gerede wie das ange¬ führte? Wir sehen keinen andern als den, das Interesse an der Arbeiterver- sichernng abzuschwächen und an die Stelle von etwas Greifbaren nebelhafte Vorstellungen vou viel wirksamern und gründlichern Mitteln zu setzen, die — vielleicht ergriffen werden könnten. Auf alle Fälle sind wir dem Reichskanzler Dank schuldig, daß er diese 'Sache angeregt und in Fluß gebracht hat. Das eine und das andre an seinen Vorschlägen kann möglicherweise verbessert, der ganze Plan kann vielleicht er¬ weitert, manches darin vielleicht auch beseitigt werden. Er wird sich, wie wir ihn keimen, praktischen Gegenvorschlägen nicht verschließen, gegen gute Gründe sich uicht sträuben. Aber es mußte einmal ein Anfang gemacht werden mit der Versöhnung der Arbeiter mit dem Staate. Wer Aussicht auf eine Pension für das Alter oder die Invalidität hat, sie sei auch klein, der fühlt sich weit wohler und zufriedener mit seinem Schicksale, der ist viel leichter zu behandeln als der, welcher in eine ungewisse Zukunft blickt. Man beachte den Unterschied zwischen einem Privatdiener und einem Canzleidiener oder einem Hofbedienten; die letztern werden sich weit mehr bieten lassen, viel mehr Anhänglichkeit an

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/191
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/191>, abgerufen am 28.12.2024.