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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

des Abends eins in der Kathedrale Ascension in Moskau. Diese brutale
Kriecherei wurde noch übertölpelt von jenem Moskaner Professor, welcher, die
tausende von Müssiggängern überblickend, die sich versammelt hatten, um den
Zaren ankommen zu sehen, meinte: "Ich bin sicher, daß auf ein Zeichen von
des Kaisers Hand alle diese tausende sich mit Freuden in den Fluß stürzen
würden." Das schien doch auch dem Censor zu stark und zu dumm, und es
wurde gestrichen. Kaum zu Byzanz verstand man so zu wedeln.

Die Autokratie im russischen Charakter ist noch ein Rest des alten Byzan-
tinerthums, in welchem Bureaukratie und Kronswesen die tiefsten Wurzeln ge¬
faßt hatten, ein förmlicher Cultus wird mit dein Staatsdienerthum getrieben,
so daß der ganze Mensch im Beamten aufgeht wie sonst nirgends in Europa.
Daher auch die ruinirende Einwirkung dieses meist grundverdorbenen Beamten-
thums auf den Volksgeist. Von diesem Dienstgeiste sagt Wigel: "Staatsdienst
und Leben sind im heutigen Rußland gleichbedeutende Begriffe. Die Verab¬
schiedung wird bei uns wie ein dunkles Grab angesehen." Das ganze Tschi-
nownikthum mit seinen einzelnen Rangklassen kann füglich mit Wesen und For¬
malität der chinesischen Mandarinenhierarchie verglichen werden. Es ist übrigens
gut russisch, wenn ein Doctor der Philosophie, der in die achte Klasse einge¬
reiht ist, den Rang eines Majors bekleidete, wogegen des Kaisers Kutscher den
Rang eines Obersten hatte. Die Beamtengrade sind der Hemmschuh, welcher
das Aufkommen jedes Geistes in dieser verknöcherten und verdorbenen Welt
hindert. Um eine Stelle einzunehmen, muß man sich zu dem entsprechenden
Grade hinaufgedient haben. Findet der Souverän für eine Function den ehren¬
werthen und geeigneten Mann -- er kann ihn nicht berufen, wenn ihm der
geforderte Rang in der Beamtenleiter fehlt. Diese Errichtung ist die festeste
Stütze der Nullität und der Kriecherei, der Mittelmäßigkeit und der Käuflichkeit.
Der Chef einer Behörde kann seinen Untergebenen ohne weiteres des Dienstes
entlassen, indem er ihn einfach als "unzuverlässig" bezeichnet. Wigel meint vom
gewöhnlichen Tschinownik: "Heilig ist ihm nichts auf dieser Welt, er ist ein
civilisirter Räuber, der nicht den gehörigen Muth, hat sein Gewerbe auf offener
Straße zu betreiben." Der Zar Nikolaus hatte so Unrecht nicht, wenn er sagte,
er habe nur einen ehrlichen Diener in seinem Reiche, und das sei er selber.
Dieser Ausspruch beweist besser als lange Citate die Machtlosigkeit eines fälsch¬
lich so oft als allmächtig vorgestellten Zaren gegenüber der überwuchernden Om-
nipotenz des Beamtenpersonals. Ein Beispiel aus taufenden: Ein Staatsbeamter
in Petersburg bestahl lange Jahre hindurch die ihm anvertraute Kasse bis auf
mehrere Millionen, blieb aber als Freund und Partner eines der obersten
Polizeibeamten unentdeckt, bis ein Zufall die Dieberei dem Kaiser Nikolaus ent¬
hüllte. Die Polizei hatte constant berichtet, alle gegen den Beamten vorgebrachten


Die destructiven Elemente im Staate.

des Abends eins in der Kathedrale Ascension in Moskau. Diese brutale
Kriecherei wurde noch übertölpelt von jenem Moskaner Professor, welcher, die
tausende von Müssiggängern überblickend, die sich versammelt hatten, um den
Zaren ankommen zu sehen, meinte: „Ich bin sicher, daß auf ein Zeichen von
des Kaisers Hand alle diese tausende sich mit Freuden in den Fluß stürzen
würden." Das schien doch auch dem Censor zu stark und zu dumm, und es
wurde gestrichen. Kaum zu Byzanz verstand man so zu wedeln.

Die Autokratie im russischen Charakter ist noch ein Rest des alten Byzan-
tinerthums, in welchem Bureaukratie und Kronswesen die tiefsten Wurzeln ge¬
faßt hatten, ein förmlicher Cultus wird mit dein Staatsdienerthum getrieben,
so daß der ganze Mensch im Beamten aufgeht wie sonst nirgends in Europa.
Daher auch die ruinirende Einwirkung dieses meist grundverdorbenen Beamten-
thums auf den Volksgeist. Von diesem Dienstgeiste sagt Wigel: „Staatsdienst
und Leben sind im heutigen Rußland gleichbedeutende Begriffe. Die Verab¬
schiedung wird bei uns wie ein dunkles Grab angesehen." Das ganze Tschi-
nownikthum mit seinen einzelnen Rangklassen kann füglich mit Wesen und For¬
malität der chinesischen Mandarinenhierarchie verglichen werden. Es ist übrigens
gut russisch, wenn ein Doctor der Philosophie, der in die achte Klasse einge¬
reiht ist, den Rang eines Majors bekleidete, wogegen des Kaisers Kutscher den
Rang eines Obersten hatte. Die Beamtengrade sind der Hemmschuh, welcher
das Aufkommen jedes Geistes in dieser verknöcherten und verdorbenen Welt
hindert. Um eine Stelle einzunehmen, muß man sich zu dem entsprechenden
Grade hinaufgedient haben. Findet der Souverän für eine Function den ehren¬
werthen und geeigneten Mann — er kann ihn nicht berufen, wenn ihm der
geforderte Rang in der Beamtenleiter fehlt. Diese Errichtung ist die festeste
Stütze der Nullität und der Kriecherei, der Mittelmäßigkeit und der Käuflichkeit.
Der Chef einer Behörde kann seinen Untergebenen ohne weiteres des Dienstes
entlassen, indem er ihn einfach als „unzuverlässig" bezeichnet. Wigel meint vom
gewöhnlichen Tschinownik: „Heilig ist ihm nichts auf dieser Welt, er ist ein
civilisirter Räuber, der nicht den gehörigen Muth, hat sein Gewerbe auf offener
Straße zu betreiben." Der Zar Nikolaus hatte so Unrecht nicht, wenn er sagte,
er habe nur einen ehrlichen Diener in seinem Reiche, und das sei er selber.
Dieser Ausspruch beweist besser als lange Citate die Machtlosigkeit eines fälsch¬
lich so oft als allmächtig vorgestellten Zaren gegenüber der überwuchernden Om-
nipotenz des Beamtenpersonals. Ein Beispiel aus taufenden: Ein Staatsbeamter
in Petersburg bestahl lange Jahre hindurch die ihm anvertraute Kasse bis auf
mehrere Millionen, blieb aber als Freund und Partner eines der obersten
Polizeibeamten unentdeckt, bis ein Zufall die Dieberei dem Kaiser Nikolaus ent¬
hüllte. Die Polizei hatte constant berichtet, alle gegen den Beamten vorgebrachten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/180>, abgerufen am 29.12.2024.