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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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weg eigenartige und geschlossene künstlerische Persönlichkeit, die in den fünfund¬
zwanzig Nummern seines Liederbuches uns entgegentritt, aber jedenfalls hat er
an den größten und edelsten Vorbildern sich genährt. Mehr als einmal haben
mir beim Durchsingen seiner Lieder die größten Namen auf den Lippen ge¬
schwebt. Bei aller Stärke der Empfindung haben sie so gar nichts modernes,
nervös aufgeregtes oder grübelndes, bei aller Wahrheit des Ausdrucks nichts
verzerrt deelamatorisches; es sind vornehme Lieder, aber wirkliche Lieder, ein¬
fach und melodiös. Nicht alle stehen auf gleicher Höhe, und unter den bedeu¬
tenderen ist es schwer einzelne Nummern Herauszugreisen. Neben den beiden
Mörikischen ("Derweil ich schlafen lag, ein Stündlein wohl vor Tag" und "Auf
ihrem Leibrößlein, so weiß wie Schnee"), von dem das letztere mit seiner süßen
Weise und dem wiegenden Rhythmus seiner Begleitung an C. M. von Weber
erinnert und neben der Schumannschen Komposition desselben Textes getrost sich
hören lassen darf, sind es namentlich eine Anzahl von den Goethischen, die ich
rasch ins Herz geschlossen habe. Zart und voller Seele sind die beiden Mignon-
Ueder ("Kennst du das Land" und "So laßt mich scheinen, bis ich werde"),
ungemein graziös das Friederikenliedchen "Kleine Blumen, kleine Blätter"; für
die Perlen der ganzen Sammlung aber halte ich -- ich kann's nicht bergen,
andern wird es vielleicht anders ergehen den Goethischen "Sänger" ("Was
hör' ich draußen vor dem Thor" und das merkwürdige, schwer zu erklärende
Lied "An den Mond" ("Füllest wieder Busch und Thal"). Den "Sänger" hat
Scherzer nicht so wie Robert Schumann balladenartig durcheomponiert, sondern
er läßt, ganz liedmäßig, alle sechs Strophen nach derselben Weise singen. Da
ist es nun entzückend, zu sehen, wie wundervoll die Scherzersche Melodie mit
ihren simpeln paar Wendungen zu jeder Strophe paßt. Doppelt werthvoll
wird einem diese Wahrnehmung, weil sie einem ihrerseits wieder die Augen-
öffnet über die versteckte Gleichmäßigkeit des innern Baues in den einzelnen
Strophen des Goethischen Textes, den erzählenden wie denen, die dem Sänger
in den Mund gelegt sind. Von jeher sind die Knappheit und Enthaltsamkeit
der Darstellung, der innige Anschluß des Strophenbaues an den Gedankengang
als Vorzüge gepriesen worden, die diese Ballade Goethes zu einer ganz
einzigen, schlechthin classischen Schöpfung machen; Scherzers Composition erschließt
uns dazu noch einen neuen, nirgends beachteten Vorzug. Ich weiß nicht,
ob es vielleicht in erster Linie das theoretische Vergnügen dieser Beobachtung
ist, das mir gerade dieses Lied besonders lieb und werth gemacht hat, denn im
übrigen sind ja die musikalischen Ausdrucksmittel, mit denen es wirkt, sehr ein¬
fach. Bei dem zuletzt genannten Liede aber, "Füllest wieder Busch und Thal",
weiß ich bestimmt, daß der unmittelbarste Genuß zu jenem theoretischen Ver¬
gnügen hinzukommt, wenngleich das letztere auch hier wieder im Spiele ist; denn


weg eigenartige und geschlossene künstlerische Persönlichkeit, die in den fünfund¬
zwanzig Nummern seines Liederbuches uns entgegentritt, aber jedenfalls hat er
an den größten und edelsten Vorbildern sich genährt. Mehr als einmal haben
mir beim Durchsingen seiner Lieder die größten Namen auf den Lippen ge¬
schwebt. Bei aller Stärke der Empfindung haben sie so gar nichts modernes,
nervös aufgeregtes oder grübelndes, bei aller Wahrheit des Ausdrucks nichts
verzerrt deelamatorisches; es sind vornehme Lieder, aber wirkliche Lieder, ein¬
fach und melodiös. Nicht alle stehen auf gleicher Höhe, und unter den bedeu¬
tenderen ist es schwer einzelne Nummern Herauszugreisen. Neben den beiden
Mörikischen („Derweil ich schlafen lag, ein Stündlein wohl vor Tag" und „Auf
ihrem Leibrößlein, so weiß wie Schnee"), von dem das letztere mit seiner süßen
Weise und dem wiegenden Rhythmus seiner Begleitung an C. M. von Weber
erinnert und neben der Schumannschen Komposition desselben Textes getrost sich
hören lassen darf, sind es namentlich eine Anzahl von den Goethischen, die ich
rasch ins Herz geschlossen habe. Zart und voller Seele sind die beiden Mignon-
Ueder („Kennst du das Land" und „So laßt mich scheinen, bis ich werde"),
ungemein graziös das Friederikenliedchen „Kleine Blumen, kleine Blätter"; für
die Perlen der ganzen Sammlung aber halte ich — ich kann's nicht bergen,
andern wird es vielleicht anders ergehen den Goethischen „Sänger" („Was
hör' ich draußen vor dem Thor" und das merkwürdige, schwer zu erklärende
Lied „An den Mond" („Füllest wieder Busch und Thal"). Den „Sänger" hat
Scherzer nicht so wie Robert Schumann balladenartig durcheomponiert, sondern
er läßt, ganz liedmäßig, alle sechs Strophen nach derselben Weise singen. Da
ist es nun entzückend, zu sehen, wie wundervoll die Scherzersche Melodie mit
ihren simpeln paar Wendungen zu jeder Strophe paßt. Doppelt werthvoll
wird einem diese Wahrnehmung, weil sie einem ihrerseits wieder die Augen-
öffnet über die versteckte Gleichmäßigkeit des innern Baues in den einzelnen
Strophen des Goethischen Textes, den erzählenden wie denen, die dem Sänger
in den Mund gelegt sind. Von jeher sind die Knappheit und Enthaltsamkeit
der Darstellung, der innige Anschluß des Strophenbaues an den Gedankengang
als Vorzüge gepriesen worden, die diese Ballade Goethes zu einer ganz
einzigen, schlechthin classischen Schöpfung machen; Scherzers Composition erschließt
uns dazu noch einen neuen, nirgends beachteten Vorzug. Ich weiß nicht,
ob es vielleicht in erster Linie das theoretische Vergnügen dieser Beobachtung
ist, das mir gerade dieses Lied besonders lieb und werth gemacht hat, denn im
übrigen sind ja die musikalischen Ausdrucksmittel, mit denen es wirkt, sehr ein¬
fach. Bei dem zuletzt genannten Liede aber, „Füllest wieder Busch und Thal",
weiß ich bestimmt, daß der unmittelbarste Genuß zu jenem theoretischen Ver¬
gnügen hinzukommt, wenngleich das letztere auch hier wieder im Spiele ist; denn


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[0423] weg eigenartige und geschlossene künstlerische Persönlichkeit, die in den fünfund¬ zwanzig Nummern seines Liederbuches uns entgegentritt, aber jedenfalls hat er an den größten und edelsten Vorbildern sich genährt. Mehr als einmal haben mir beim Durchsingen seiner Lieder die größten Namen auf den Lippen ge¬ schwebt. Bei aller Stärke der Empfindung haben sie so gar nichts modernes, nervös aufgeregtes oder grübelndes, bei aller Wahrheit des Ausdrucks nichts verzerrt deelamatorisches; es sind vornehme Lieder, aber wirkliche Lieder, ein¬ fach und melodiös. Nicht alle stehen auf gleicher Höhe, und unter den bedeu¬ tenderen ist es schwer einzelne Nummern Herauszugreisen. Neben den beiden Mörikischen („Derweil ich schlafen lag, ein Stündlein wohl vor Tag" und „Auf ihrem Leibrößlein, so weiß wie Schnee"), von dem das letztere mit seiner süßen Weise und dem wiegenden Rhythmus seiner Begleitung an C. M. von Weber erinnert und neben der Schumannschen Komposition desselben Textes getrost sich hören lassen darf, sind es namentlich eine Anzahl von den Goethischen, die ich rasch ins Herz geschlossen habe. Zart und voller Seele sind die beiden Mignon- Ueder („Kennst du das Land" und „So laßt mich scheinen, bis ich werde"), ungemein graziös das Friederikenliedchen „Kleine Blumen, kleine Blätter"; für die Perlen der ganzen Sammlung aber halte ich — ich kann's nicht bergen, andern wird es vielleicht anders ergehen den Goethischen „Sänger" („Was hör' ich draußen vor dem Thor" und das merkwürdige, schwer zu erklärende Lied „An den Mond" („Füllest wieder Busch und Thal"). Den „Sänger" hat Scherzer nicht so wie Robert Schumann balladenartig durcheomponiert, sondern er läßt, ganz liedmäßig, alle sechs Strophen nach derselben Weise singen. Da ist es nun entzückend, zu sehen, wie wundervoll die Scherzersche Melodie mit ihren simpeln paar Wendungen zu jeder Strophe paßt. Doppelt werthvoll wird einem diese Wahrnehmung, weil sie einem ihrerseits wieder die Augen- öffnet über die versteckte Gleichmäßigkeit des innern Baues in den einzelnen Strophen des Goethischen Textes, den erzählenden wie denen, die dem Sänger in den Mund gelegt sind. Von jeher sind die Knappheit und Enthaltsamkeit der Darstellung, der innige Anschluß des Strophenbaues an den Gedankengang als Vorzüge gepriesen worden, die diese Ballade Goethes zu einer ganz einzigen, schlechthin classischen Schöpfung machen; Scherzers Composition erschließt uns dazu noch einen neuen, nirgends beachteten Vorzug. Ich weiß nicht, ob es vielleicht in erster Linie das theoretische Vergnügen dieser Beobachtung ist, das mir gerade dieses Lied besonders lieb und werth gemacht hat, denn im übrigen sind ja die musikalischen Ausdrucksmittel, mit denen es wirkt, sehr ein¬ fach. Bei dem zuletzt genannten Liede aber, „Füllest wieder Busch und Thal", weiß ich bestimmt, daß der unmittelbarste Genuß zu jenem theoretischen Ver¬ gnügen hinzukommt, wenngleich das letztere auch hier wieder im Spiele ist; denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/423>, abgerufen am 29.12.2024.