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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Ranges, illustriert von ersten Künstlern" verdrängt sind. Wie alt der Band
wohl sein mag? Ja, wer das sagen könnte; der Musikalienhandel hat ja die
Unart, keine Jahreszahlen ans seine Publicationen zu setzen. Aber nach der
Ausstattung zu schließen, auch nach dem aus gothischer und Antiquaschrift ge¬
mischten Titel, der heute mit Recht sür ein ästhetisches Verbrechen gelten würde,
mag der Band leicht seine zwanzig Jahre hinter sich haben.

Ich schlug auf -- und welch einer gewählten Gesellschaft von Liedertexten
stand ich gegenüber! Goethe, Goethe, und immer wieder Goethe, dazwischen
ein paar von Uhland, Mörike, Kerner und Lenau, zusammen 25 Lieder. Wer
die Hand nach solchen Texten ausstreckt, sagte ich mir, kann kein gewöhnlicher
Geist sein. Unsere Dutzendcomponisten von heute ringen nicht mit Goethe und
Uhland, sie schöpfen aus irgend einer Goldschnittanthologie, in der von den
vorliegenden Gedichten vielleicht kaum zwei oder drei zu finden sind. Und so
fing ich denn tapfer zu singen und zu spielen an und verschlang die schönen deut¬
lichen -- nicht gestochenen, sondern in kräftigem Typensatz hergestellten -- Noten¬
seiten eine nach der andern, sang mein Liederbüchlein vorwärts und rückwärts durch
und fragte schließlich: Wie ist es möglich, daß dir altem Liederjäger, der seine
Netze doch nach allen Seiten hin aufgespannt hält, dies Liederbuch so lauge
hat entgehen können?

Die Welt ist mit Recht mißtrauisch geworden gegen nachträgliche Rettungen.
Das Wort Luthers: "Ist das Werk aus Gott, so könnet ihr es nicht dämpfen"
gilt schließlich auch in der Kunst. Ein Werk, das aus echt künstlerischer Be¬
geisterung und Schöpferkraft hervorgequollen ist, wird und muß seinen Weg
finden durch alle Gleichgiltigkeit des großen Haufens und alle Frechheit der
Reclame hindurch; ein Werk, dem dies nicht gelingt, ist eben "werth, daß es zu
Grunde geht." Wie lange hat es gedauert, bis Robert Schumann ins Publi-
cum hineingewachsen ist! Wie langsam erweitert Brahms den Kreis seiner
Freunde! Und doch gehört ihnen die Zukunft, so gewiß wie Beethoven erst
nach seinen Tode angefangen hat zu leben. Still und stetig brechen sie sich von
innen heraus ihre Bahn, ohne Reclame und trotz aller Reclame, die nur das
Gewöhnliche anpreist. Aber es fehlt doch auch nicht an Ausnahmen. Wie
mancher, der es verschmäht, sich vorzudrängen, wird jahrelang überhört in dem
tausendzüngigen Geschrei der Reclame! Hie und da achtet ein einzelner auf
ihn, lernt ihn lieben und wirbt ihm Freunde, aber das bleibt ein kleiner, enger
Kreis. Eine ganze Reihe der köstlichsten Bücher könnten wir nennen, die dieses
Loos gehabt haben. Jahrzehnte lang verkauft der Verleger an einer einzigen
Auflage.

Ich glaube, daß auch Otto Scherzer unter diese Ausnahmen gehört und es
verdient, daß man einmal nachdrücklich ans ihn hinweise. Es ist keine durch-


Ranges, illustriert von ersten Künstlern" verdrängt sind. Wie alt der Band
wohl sein mag? Ja, wer das sagen könnte; der Musikalienhandel hat ja die
Unart, keine Jahreszahlen ans seine Publicationen zu setzen. Aber nach der
Ausstattung zu schließen, auch nach dem aus gothischer und Antiquaschrift ge¬
mischten Titel, der heute mit Recht sür ein ästhetisches Verbrechen gelten würde,
mag der Band leicht seine zwanzig Jahre hinter sich haben.

Ich schlug auf — und welch einer gewählten Gesellschaft von Liedertexten
stand ich gegenüber! Goethe, Goethe, und immer wieder Goethe, dazwischen
ein paar von Uhland, Mörike, Kerner und Lenau, zusammen 25 Lieder. Wer
die Hand nach solchen Texten ausstreckt, sagte ich mir, kann kein gewöhnlicher
Geist sein. Unsere Dutzendcomponisten von heute ringen nicht mit Goethe und
Uhland, sie schöpfen aus irgend einer Goldschnittanthologie, in der von den
vorliegenden Gedichten vielleicht kaum zwei oder drei zu finden sind. Und so
fing ich denn tapfer zu singen und zu spielen an und verschlang die schönen deut¬
lichen — nicht gestochenen, sondern in kräftigem Typensatz hergestellten — Noten¬
seiten eine nach der andern, sang mein Liederbüchlein vorwärts und rückwärts durch
und fragte schließlich: Wie ist es möglich, daß dir altem Liederjäger, der seine
Netze doch nach allen Seiten hin aufgespannt hält, dies Liederbuch so lauge
hat entgehen können?

Die Welt ist mit Recht mißtrauisch geworden gegen nachträgliche Rettungen.
Das Wort Luthers: „Ist das Werk aus Gott, so könnet ihr es nicht dämpfen"
gilt schließlich auch in der Kunst. Ein Werk, das aus echt künstlerischer Be¬
geisterung und Schöpferkraft hervorgequollen ist, wird und muß seinen Weg
finden durch alle Gleichgiltigkeit des großen Haufens und alle Frechheit der
Reclame hindurch; ein Werk, dem dies nicht gelingt, ist eben „werth, daß es zu
Grunde geht." Wie lange hat es gedauert, bis Robert Schumann ins Publi-
cum hineingewachsen ist! Wie langsam erweitert Brahms den Kreis seiner
Freunde! Und doch gehört ihnen die Zukunft, so gewiß wie Beethoven erst
nach seinen Tode angefangen hat zu leben. Still und stetig brechen sie sich von
innen heraus ihre Bahn, ohne Reclame und trotz aller Reclame, die nur das
Gewöhnliche anpreist. Aber es fehlt doch auch nicht an Ausnahmen. Wie
mancher, der es verschmäht, sich vorzudrängen, wird jahrelang überhört in dem
tausendzüngigen Geschrei der Reclame! Hie und da achtet ein einzelner auf
ihn, lernt ihn lieben und wirbt ihm Freunde, aber das bleibt ein kleiner, enger
Kreis. Eine ganze Reihe der köstlichsten Bücher könnten wir nennen, die dieses
Loos gehabt haben. Jahrzehnte lang verkauft der Verleger an einer einzigen
Auflage.

Ich glaube, daß auch Otto Scherzer unter diese Ausnahmen gehört und es
verdient, daß man einmal nachdrücklich ans ihn hinweise. Es ist keine durch-


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[0422] Ranges, illustriert von ersten Künstlern" verdrängt sind. Wie alt der Band wohl sein mag? Ja, wer das sagen könnte; der Musikalienhandel hat ja die Unart, keine Jahreszahlen ans seine Publicationen zu setzen. Aber nach der Ausstattung zu schließen, auch nach dem aus gothischer und Antiquaschrift ge¬ mischten Titel, der heute mit Recht sür ein ästhetisches Verbrechen gelten würde, mag der Band leicht seine zwanzig Jahre hinter sich haben. Ich schlug auf — und welch einer gewählten Gesellschaft von Liedertexten stand ich gegenüber! Goethe, Goethe, und immer wieder Goethe, dazwischen ein paar von Uhland, Mörike, Kerner und Lenau, zusammen 25 Lieder. Wer die Hand nach solchen Texten ausstreckt, sagte ich mir, kann kein gewöhnlicher Geist sein. Unsere Dutzendcomponisten von heute ringen nicht mit Goethe und Uhland, sie schöpfen aus irgend einer Goldschnittanthologie, in der von den vorliegenden Gedichten vielleicht kaum zwei oder drei zu finden sind. Und so fing ich denn tapfer zu singen und zu spielen an und verschlang die schönen deut¬ lichen — nicht gestochenen, sondern in kräftigem Typensatz hergestellten — Noten¬ seiten eine nach der andern, sang mein Liederbüchlein vorwärts und rückwärts durch und fragte schließlich: Wie ist es möglich, daß dir altem Liederjäger, der seine Netze doch nach allen Seiten hin aufgespannt hält, dies Liederbuch so lauge hat entgehen können? Die Welt ist mit Recht mißtrauisch geworden gegen nachträgliche Rettungen. Das Wort Luthers: „Ist das Werk aus Gott, so könnet ihr es nicht dämpfen" gilt schließlich auch in der Kunst. Ein Werk, das aus echt künstlerischer Be¬ geisterung und Schöpferkraft hervorgequollen ist, wird und muß seinen Weg finden durch alle Gleichgiltigkeit des großen Haufens und alle Frechheit der Reclame hindurch; ein Werk, dem dies nicht gelingt, ist eben „werth, daß es zu Grunde geht." Wie lange hat es gedauert, bis Robert Schumann ins Publi- cum hineingewachsen ist! Wie langsam erweitert Brahms den Kreis seiner Freunde! Und doch gehört ihnen die Zukunft, so gewiß wie Beethoven erst nach seinen Tode angefangen hat zu leben. Still und stetig brechen sie sich von innen heraus ihre Bahn, ohne Reclame und trotz aller Reclame, die nur das Gewöhnliche anpreist. Aber es fehlt doch auch nicht an Ausnahmen. Wie mancher, der es verschmäht, sich vorzudrängen, wird jahrelang überhört in dem tausendzüngigen Geschrei der Reclame! Hie und da achtet ein einzelner auf ihn, lernt ihn lieben und wirbt ihm Freunde, aber das bleibt ein kleiner, enger Kreis. Eine ganze Reihe der köstlichsten Bücher könnten wir nennen, die dieses Loos gehabt haben. Jahrzehnte lang verkauft der Verleger an einer einzigen Auflage. Ich glaube, daß auch Otto Scherzer unter diese Ausnahmen gehört und es verdient, daß man einmal nachdrücklich ans ihn hinweise. Es ist keine durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/422>, abgerufen am 28.12.2024.