Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.Vorrath von Verhaltungsregeln für alle möglichen Gelegenheiten des Lebens. Vorrath von Verhaltungsregeln für alle möglichen Gelegenheiten des Lebens. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147914"/> <p xml:id="ID_725" prev="#ID_724" next="#ID_726"> Vorrath von Verhaltungsregeln für alle möglichen Gelegenheiten des Lebens.<lb/> Es hieß nicht mehr: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht,<lb/> Magd, Vieh oder alles was sein ist," sondern: „Wenn du in das Haus eines<lb/> Christen trittst, und dort dieses oder jenes siehst oder thust, so sollst du so<lb/> oder so handeln." Die äußern Ordnungen Mosis über Kleidung, Reinlichkeit,<lb/> sür die Gesundheit des Leibes, der Familie, der Ernährung und Wohnung wurden<lb/> tausendfach zerspalten in Vorschriften, die von dem Unterschiede in Zeit und<lb/> Raum, in Klima und Lebensmitteln, wie die Lage es fordert, gänzlich absahen,<lb/> dafür aber den Willen Gottes in Bezug auf jede Haarlocke, jeden Flecken im<lb/> Decktuch, jede kleinste Verrichtung im Leben festzustellen suchten. Der Jude,<lb/> welcher heute in Unrath versinkt, wendet allen Witz auf, um zu bestimmen, welche<lb/> von den hundert Arten von Flecken, die der Talmud in gewissen Fällen unter¬<lb/> scheidet, in dem gegebenen Falle vorliege und vom Rabbi entfernt werden müsse.<lb/> Eine unermeßliche Fülle von erhabenen und niederen, von würdigen und von<lb/> in endlosen Wiederholungen herabsteigenden religiösen Ausdrücken des Denkens<lb/> und Empfindens, von Andachtübungen und Formeln, von tiefen und weniger<lb/> tiefen Sittenlehren bergen dieser Talmud und die spätern Schriften der Juden.<lb/> Aber wenn die Juden im Hinblick auf diese große Geistesarbeit von einer jüdi¬<lb/> schen Wissenschaft sprechen, so zweifle ich, ob dafür der Ausdruck richtig gewählt<lb/> sei. Wenn man nicht etwa die Philosophie Spinozas oder Mendelsohns, wenn<lb/> man nicht die astronomischen Tafeln des Jsaak, welche die alfonsinischen ge¬<lb/> nannt werden, jüdische Wissenschaften nennen will, wüßte ich nicht, auf welchem<lb/> Gebiete außerhalb des religiösen und religionsphilosophischen die jüdische Lite¬<lb/> ratur bahnbrechende Leistungen aufzuweisen hätte. Vom Talmudstudium ist<lb/> zweitausend Jahre lang alles jüdische Denken und Sinnen ausgegangen und,<lb/> je mehr sich dieser halb tiefspeenlative, halb geistlos praktische Stoff anhäufte,<lb/> um so häufiger auch darin untergegangen. Wie hätte eine Wissenschaft, beson¬<lb/> ders eine Wissenschaft unserer Zeit, erwachsen können in den festen Gewölben<lb/> von Gesetzen des Denkens und Lebens, welche vor drei Jahrtausenden in Asien<lb/> gegeben wurden? Auf diesem Boden ununterbrochener religiöser Betrachtung<lb/> konnte niemals die frische Pflanze der Wissenschaft blühen, es sei denn, daß der<lb/> Boden frisch gemengt wurde mit fremder Erde. Dann konnte eine arabisch¬<lb/> jüdische Cultur sprossen, die eben nicht so sehr jüdisch als arabisch war. Weit<lb/> natürlicher war es, daß aus diesem Boden der Mysticismus emporwucherte, daß<lb/> die Kabbala der Ausgang der religiösen Speculation in ihrer Abgeschlossenheit<lb/> von aller lebendigen Wissenschaft wurde, die Kabbala, diese Fratze der Wissen¬<lb/> schaft, welche sich lange Zeit hindurch so eng an den Talmud anschloß, daß sie<lb/> nicht fern davon war, zu einem Theile desselben zu verwachsen, und welche bis<lb/> auf unsere Zeit herab das Studium des Talmud wie ein Gespenst verfolgt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0267]
Vorrath von Verhaltungsregeln für alle möglichen Gelegenheiten des Lebens.
Es hieß nicht mehr: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht,
Magd, Vieh oder alles was sein ist," sondern: „Wenn du in das Haus eines
Christen trittst, und dort dieses oder jenes siehst oder thust, so sollst du so
oder so handeln." Die äußern Ordnungen Mosis über Kleidung, Reinlichkeit,
sür die Gesundheit des Leibes, der Familie, der Ernährung und Wohnung wurden
tausendfach zerspalten in Vorschriften, die von dem Unterschiede in Zeit und
Raum, in Klima und Lebensmitteln, wie die Lage es fordert, gänzlich absahen,
dafür aber den Willen Gottes in Bezug auf jede Haarlocke, jeden Flecken im
Decktuch, jede kleinste Verrichtung im Leben festzustellen suchten. Der Jude,
welcher heute in Unrath versinkt, wendet allen Witz auf, um zu bestimmen, welche
von den hundert Arten von Flecken, die der Talmud in gewissen Fällen unter¬
scheidet, in dem gegebenen Falle vorliege und vom Rabbi entfernt werden müsse.
Eine unermeßliche Fülle von erhabenen und niederen, von würdigen und von
in endlosen Wiederholungen herabsteigenden religiösen Ausdrücken des Denkens
und Empfindens, von Andachtübungen und Formeln, von tiefen und weniger
tiefen Sittenlehren bergen dieser Talmud und die spätern Schriften der Juden.
Aber wenn die Juden im Hinblick auf diese große Geistesarbeit von einer jüdi¬
schen Wissenschaft sprechen, so zweifle ich, ob dafür der Ausdruck richtig gewählt
sei. Wenn man nicht etwa die Philosophie Spinozas oder Mendelsohns, wenn
man nicht die astronomischen Tafeln des Jsaak, welche die alfonsinischen ge¬
nannt werden, jüdische Wissenschaften nennen will, wüßte ich nicht, auf welchem
Gebiete außerhalb des religiösen und religionsphilosophischen die jüdische Lite¬
ratur bahnbrechende Leistungen aufzuweisen hätte. Vom Talmudstudium ist
zweitausend Jahre lang alles jüdische Denken und Sinnen ausgegangen und,
je mehr sich dieser halb tiefspeenlative, halb geistlos praktische Stoff anhäufte,
um so häufiger auch darin untergegangen. Wie hätte eine Wissenschaft, beson¬
ders eine Wissenschaft unserer Zeit, erwachsen können in den festen Gewölben
von Gesetzen des Denkens und Lebens, welche vor drei Jahrtausenden in Asien
gegeben wurden? Auf diesem Boden ununterbrochener religiöser Betrachtung
konnte niemals die frische Pflanze der Wissenschaft blühen, es sei denn, daß der
Boden frisch gemengt wurde mit fremder Erde. Dann konnte eine arabisch¬
jüdische Cultur sprossen, die eben nicht so sehr jüdisch als arabisch war. Weit
natürlicher war es, daß aus diesem Boden der Mysticismus emporwucherte, daß
die Kabbala der Ausgang der religiösen Speculation in ihrer Abgeschlossenheit
von aller lebendigen Wissenschaft wurde, die Kabbala, diese Fratze der Wissen¬
schaft, welche sich lange Zeit hindurch so eng an den Talmud anschloß, daß sie
nicht fern davon war, zu einem Theile desselben zu verwachsen, und welche bis
auf unsere Zeit herab das Studium des Talmud wie ein Gespenst verfolgt.
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