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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Modellierung und gleichmäßiger Klarheit und Wahrheit des Fernsten wie des
Nächsten vergißt Potter, daß der Maler durch das einfachste und ehrlichste Zu¬
rückgehen auf das flächenhafte Sehen, wie unsre Optiker es dem unerfahrnen
Kinde zuschreiben, auch immer das wahrste und überzeugendste Bild auf der
Fläche hervorrufen wird.

Das dritte Bild, über welches ich nicht schweigen kann, ist Jan Vermeers
(oder Jan van der Meer's van Delft) Ansicht von Delft. In frühern Jahren
kaum bemerkt, ist es seit einem Vierteljahrhundert allmählich zum Werthe einer
Perle erster Größe, ja zum Range eines Evangeliums sür die Kunstjünger der
Gegenwart emporgestiegen. Seit Andreas Ueberhand eine Copie des Bildes mit
heimgebracht, eopieren es in jedem Jahre ein Dutzend junger deutscher, hollän¬
discher und französischer Maler. Möge es sie lehren, die Natur so anzusehen,
wie Jan Vermeer sie angesehen hat! Das Bild ist nur eine Vedute, und es
ist nur eine schnelle Skizze, die der Meister so gelassen, wie er sie zuerst vor
der Natur hingestrichen. Vorn ist der Canal. Im Mittelgrunde liegt die Stadt,
deren linke Seite im Schatten liegt und mit dem hier bildeinwärts laufenden
Canale zurückweicht, während ihre rechte Seite mit tiefrothen Ziegeldächern und
dunkelblauen Schieferdächern kräftig ins hellste Sonnenlicht herausgehoben ist,
dessen Glanz auf einigen Dächern citronengelb wiederstrahlt. Das Motiv ist
äußerst anspruchslos; die Mache ist flott und breit, aber gesund und gediegen;
Luft und Licht find von erstaunlicher Wahrheit und Klarheit. Ich habe junge
Maler, welche von der ältern Landschaftsmalerei nicht viel wissen wollten, sagen
hören, nur diese eine alte Leistung übertreffe alles, was die moderne Kunst
könne. Man sieht, es sind zunächst die technischen Qualitäten, welche dem Bilde
seinen unverwüstlichen, heute wieder bahnbrechenden Werth verleihen; aber es
blitzt aus dieser Farbenpracht uns zugleich ein geheimnißvoll geistiges Etwas
entgegen, welches der Künstler hinein- oder herausgesehen hat. Darin liegt ja
gerade das unsterbliche Verdienst vieler dieser holländischen Meister, daß sie
uns lehren, das Land und die Leute unsrer täglichen Umgebung so anzusehen,
wie sie sie gesehen haben, sie mit dem Künstlerauge anzusehen und so in den
unscheinbarsten Dingen ewige Schönheit zu finden. Das ist die ideale Seite
vieler dieser holländischen Realisten.

Wir wollten uns das heute Nachmittag gleich zu nutze machen. Wir fuhren,
da die Treckschuyte, mit der ich vor drei Jahren den Weg zurückgelegt, der
Pferdebahn gewichen ist, auf staubiger Landstraße nach dem stillen Städtchen
Delft. Wir meinen auch, Jan Vermeers berühmte Ansicht gefunden zu haben.
Ihr fehlte das Feuer der Farbe; der Tag war grau; aber im Geiste sahen wir
sie leuchten und glühen, wie der Meister sie gemalt hat. Auch suchten wir jenes
alten Mierevelt Hauptbilder im Rathhaus und im Krankenhaus auf. Die große


Modellierung und gleichmäßiger Klarheit und Wahrheit des Fernsten wie des
Nächsten vergißt Potter, daß der Maler durch das einfachste und ehrlichste Zu¬
rückgehen auf das flächenhafte Sehen, wie unsre Optiker es dem unerfahrnen
Kinde zuschreiben, auch immer das wahrste und überzeugendste Bild auf der
Fläche hervorrufen wird.

Das dritte Bild, über welches ich nicht schweigen kann, ist Jan Vermeers
(oder Jan van der Meer's van Delft) Ansicht von Delft. In frühern Jahren
kaum bemerkt, ist es seit einem Vierteljahrhundert allmählich zum Werthe einer
Perle erster Größe, ja zum Range eines Evangeliums sür die Kunstjünger der
Gegenwart emporgestiegen. Seit Andreas Ueberhand eine Copie des Bildes mit
heimgebracht, eopieren es in jedem Jahre ein Dutzend junger deutscher, hollän¬
discher und französischer Maler. Möge es sie lehren, die Natur so anzusehen,
wie Jan Vermeer sie angesehen hat! Das Bild ist nur eine Vedute, und es
ist nur eine schnelle Skizze, die der Meister so gelassen, wie er sie zuerst vor
der Natur hingestrichen. Vorn ist der Canal. Im Mittelgrunde liegt die Stadt,
deren linke Seite im Schatten liegt und mit dem hier bildeinwärts laufenden
Canale zurückweicht, während ihre rechte Seite mit tiefrothen Ziegeldächern und
dunkelblauen Schieferdächern kräftig ins hellste Sonnenlicht herausgehoben ist,
dessen Glanz auf einigen Dächern citronengelb wiederstrahlt. Das Motiv ist
äußerst anspruchslos; die Mache ist flott und breit, aber gesund und gediegen;
Luft und Licht find von erstaunlicher Wahrheit und Klarheit. Ich habe junge
Maler, welche von der ältern Landschaftsmalerei nicht viel wissen wollten, sagen
hören, nur diese eine alte Leistung übertreffe alles, was die moderne Kunst
könne. Man sieht, es sind zunächst die technischen Qualitäten, welche dem Bilde
seinen unverwüstlichen, heute wieder bahnbrechenden Werth verleihen; aber es
blitzt aus dieser Farbenpracht uns zugleich ein geheimnißvoll geistiges Etwas
entgegen, welches der Künstler hinein- oder herausgesehen hat. Darin liegt ja
gerade das unsterbliche Verdienst vieler dieser holländischen Meister, daß sie
uns lehren, das Land und die Leute unsrer täglichen Umgebung so anzusehen,
wie sie sie gesehen haben, sie mit dem Künstlerauge anzusehen und so in den
unscheinbarsten Dingen ewige Schönheit zu finden. Das ist die ideale Seite
vieler dieser holländischen Realisten.

Wir wollten uns das heute Nachmittag gleich zu nutze machen. Wir fuhren,
da die Treckschuyte, mit der ich vor drei Jahren den Weg zurückgelegt, der
Pferdebahn gewichen ist, auf staubiger Landstraße nach dem stillen Städtchen
Delft. Wir meinen auch, Jan Vermeers berühmte Ansicht gefunden zu haben.
Ihr fehlte das Feuer der Farbe; der Tag war grau; aber im Geiste sahen wir
sie leuchten und glühen, wie der Meister sie gemalt hat. Auch suchten wir jenes
alten Mierevelt Hauptbilder im Rathhaus und im Krankenhaus auf. Die große


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[0234] Modellierung und gleichmäßiger Klarheit und Wahrheit des Fernsten wie des Nächsten vergißt Potter, daß der Maler durch das einfachste und ehrlichste Zu¬ rückgehen auf das flächenhafte Sehen, wie unsre Optiker es dem unerfahrnen Kinde zuschreiben, auch immer das wahrste und überzeugendste Bild auf der Fläche hervorrufen wird. Das dritte Bild, über welches ich nicht schweigen kann, ist Jan Vermeers (oder Jan van der Meer's van Delft) Ansicht von Delft. In frühern Jahren kaum bemerkt, ist es seit einem Vierteljahrhundert allmählich zum Werthe einer Perle erster Größe, ja zum Range eines Evangeliums sür die Kunstjünger der Gegenwart emporgestiegen. Seit Andreas Ueberhand eine Copie des Bildes mit heimgebracht, eopieren es in jedem Jahre ein Dutzend junger deutscher, hollän¬ discher und französischer Maler. Möge es sie lehren, die Natur so anzusehen, wie Jan Vermeer sie angesehen hat! Das Bild ist nur eine Vedute, und es ist nur eine schnelle Skizze, die der Meister so gelassen, wie er sie zuerst vor der Natur hingestrichen. Vorn ist der Canal. Im Mittelgrunde liegt die Stadt, deren linke Seite im Schatten liegt und mit dem hier bildeinwärts laufenden Canale zurückweicht, während ihre rechte Seite mit tiefrothen Ziegeldächern und dunkelblauen Schieferdächern kräftig ins hellste Sonnenlicht herausgehoben ist, dessen Glanz auf einigen Dächern citronengelb wiederstrahlt. Das Motiv ist äußerst anspruchslos; die Mache ist flott und breit, aber gesund und gediegen; Luft und Licht find von erstaunlicher Wahrheit und Klarheit. Ich habe junge Maler, welche von der ältern Landschaftsmalerei nicht viel wissen wollten, sagen hören, nur diese eine alte Leistung übertreffe alles, was die moderne Kunst könne. Man sieht, es sind zunächst die technischen Qualitäten, welche dem Bilde seinen unverwüstlichen, heute wieder bahnbrechenden Werth verleihen; aber es blitzt aus dieser Farbenpracht uns zugleich ein geheimnißvoll geistiges Etwas entgegen, welches der Künstler hinein- oder herausgesehen hat. Darin liegt ja gerade das unsterbliche Verdienst vieler dieser holländischen Meister, daß sie uns lehren, das Land und die Leute unsrer täglichen Umgebung so anzusehen, wie sie sie gesehen haben, sie mit dem Künstlerauge anzusehen und so in den unscheinbarsten Dingen ewige Schönheit zu finden. Das ist die ideale Seite vieler dieser holländischen Realisten. Wir wollten uns das heute Nachmittag gleich zu nutze machen. Wir fuhren, da die Treckschuyte, mit der ich vor drei Jahren den Weg zurückgelegt, der Pferdebahn gewichen ist, auf staubiger Landstraße nach dem stillen Städtchen Delft. Wir meinen auch, Jan Vermeers berühmte Ansicht gefunden zu haben. Ihr fehlte das Feuer der Farbe; der Tag war grau; aber im Geiste sahen wir sie leuchten und glühen, wie der Meister sie gemalt hat. Auch suchten wir jenes alten Mierevelt Hauptbilder im Rathhaus und im Krankenhaus auf. Die große

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/234>, abgerufen am 29.12.2024.