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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Ausgange sucht aus der heutigen Lage des Judenthums. Praktisch hat es
wenig Werth, zu wissen, daß die Polen durch eignes Verschulden ihren Staat
zerrüttet haben, wenn darüber entschieden werden soll, ob die Polen das Recht
haben, nach einem polnischen Staate sich zu sehnen oder nicht; praktisch ist es
ziemlich einerlei, ob das Familiengut mit oder ohne Verschulden meiner Vor-
ültern verloren ging, und ebenso ob mein Elje durch die Schuld meiner oder
seiner Vorfahren ein moralisch unvollkommener Mensch geworden ist: ich hüte
mich in gewissem Maße vor ihm und wünschte einen sittlich festern Mann an
seiner Stelle zu haben. Der Fehler an ihm bleibt derselbe, welches auch die
Urquelle desselben gewesen sein mag, und meine Behandlung richtet sich nach
der Kenntniß dieses Fehlers. Und wodurch hätte denn etwa Preußen nach der
Meinung von Franzos die Juden verdient, welche alljährlich zahlreich über die
russische Grenze her mit all dem unsaubern Rüstzeug ausgestattet herüberkom¬
men, das ihnen jenseits eigen ist? Wodurch hat Deutschland es verdient, in
seinem Volkscharakter geschädigt zu werden durch diese Einwanderung von Juden,
die vielleicht in Polen verdorben wurden? Franzos thut, als ob das Juden-
thum eine Art göttlicher Geißel sür die Völker sei, die sie still duldend hin¬
zunehmen hätten. Eine höchst christliche Selbstentsagung, die er fordert, eine
sittliche Eigenschaft, welche dem Judenthum durchaus fremd ist. Es käme auf
die andere Sentenz heraus: "Jedes Volk hat seine Juden so zu behandeln, wie
deren Vorfahren zu Jerusalem es verdient hätten." Man mag nun einen spe-
culativen Standpunkt einnehmen, welchen man will, so wäre es reiner Aberwitz,
zu wissen, daß der Charakter und die Kraft eines Volkes unter dem Einfluß
einer starken fremden Einwanderung leiden müssen, und dennoch zu behaupten,
daß solcher Schädigung nicht vorgebeugt werden dürfe. Jedes Volk ist sich selbst
am nächsten, und kein Volk "verdient", durch ein andres materiell oder sittlich
geschädigt zu werden. Sicherlich aber verdient dieser Litthauer, der nie und
von niemand um seine Meinung in Betreff der Behandlung der einwandernden
Juden gefragt worden ist, nicht, diese Juden zu haben, welche er hat. Sie
haben seit Jahrhunderten neben den Polen ihn betrogen und verdorben: zur
Strafe dafür soll es nun immer so fortgehen? Mit den Polen geht Franzos
als Jude hart ins Gericht: aber der Litthauer, der Ruthene, für die Jude und
Pole gleich harte Herren waren und find, sollen die jüdische Herrschaft ver¬
dient haben? Nein, mit solchen Redensarten nach der Weise von Franzos, mit
hohlen Doctrinen und Sentenzen löst man diese Frage nicht, welche Jahrhun¬
derte gereift haben und welche die Neuzeit oft sich einbildet mit einem Feder¬
strich, einem Vertragsartikel aus der Welt schaffen zu können.

Wer das Judenthum kennen lernen will, möge es in Polen-Litthauen er¬
forschen. Hier zeigt es sich unverhüllt, unverfälscht, mit manchen guten Eigen°


Ausgange sucht aus der heutigen Lage des Judenthums. Praktisch hat es
wenig Werth, zu wissen, daß die Polen durch eignes Verschulden ihren Staat
zerrüttet haben, wenn darüber entschieden werden soll, ob die Polen das Recht
haben, nach einem polnischen Staate sich zu sehnen oder nicht; praktisch ist es
ziemlich einerlei, ob das Familiengut mit oder ohne Verschulden meiner Vor-
ültern verloren ging, und ebenso ob mein Elje durch die Schuld meiner oder
seiner Vorfahren ein moralisch unvollkommener Mensch geworden ist: ich hüte
mich in gewissem Maße vor ihm und wünschte einen sittlich festern Mann an
seiner Stelle zu haben. Der Fehler an ihm bleibt derselbe, welches auch die
Urquelle desselben gewesen sein mag, und meine Behandlung richtet sich nach
der Kenntniß dieses Fehlers. Und wodurch hätte denn etwa Preußen nach der
Meinung von Franzos die Juden verdient, welche alljährlich zahlreich über die
russische Grenze her mit all dem unsaubern Rüstzeug ausgestattet herüberkom¬
men, das ihnen jenseits eigen ist? Wodurch hat Deutschland es verdient, in
seinem Volkscharakter geschädigt zu werden durch diese Einwanderung von Juden,
die vielleicht in Polen verdorben wurden? Franzos thut, als ob das Juden-
thum eine Art göttlicher Geißel sür die Völker sei, die sie still duldend hin¬
zunehmen hätten. Eine höchst christliche Selbstentsagung, die er fordert, eine
sittliche Eigenschaft, welche dem Judenthum durchaus fremd ist. Es käme auf
die andere Sentenz heraus: „Jedes Volk hat seine Juden so zu behandeln, wie
deren Vorfahren zu Jerusalem es verdient hätten." Man mag nun einen spe-
culativen Standpunkt einnehmen, welchen man will, so wäre es reiner Aberwitz,
zu wissen, daß der Charakter und die Kraft eines Volkes unter dem Einfluß
einer starken fremden Einwanderung leiden müssen, und dennoch zu behaupten,
daß solcher Schädigung nicht vorgebeugt werden dürfe. Jedes Volk ist sich selbst
am nächsten, und kein Volk „verdient", durch ein andres materiell oder sittlich
geschädigt zu werden. Sicherlich aber verdient dieser Litthauer, der nie und
von niemand um seine Meinung in Betreff der Behandlung der einwandernden
Juden gefragt worden ist, nicht, diese Juden zu haben, welche er hat. Sie
haben seit Jahrhunderten neben den Polen ihn betrogen und verdorben: zur
Strafe dafür soll es nun immer so fortgehen? Mit den Polen geht Franzos
als Jude hart ins Gericht: aber der Litthauer, der Ruthene, für die Jude und
Pole gleich harte Herren waren und find, sollen die jüdische Herrschaft ver¬
dient haben? Nein, mit solchen Redensarten nach der Weise von Franzos, mit
hohlen Doctrinen und Sentenzen löst man diese Frage nicht, welche Jahrhun¬
derte gereift haben und welche die Neuzeit oft sich einbildet mit einem Feder¬
strich, einem Vertragsartikel aus der Welt schaffen zu können.

Wer das Judenthum kennen lernen will, möge es in Polen-Litthauen er¬
forschen. Hier zeigt es sich unverhüllt, unverfälscht, mit manchen guten Eigen°


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/221>, abgerufen am 29.12.2024.