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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Machterweiterung verwirklicht. Die Idee erschien als eine sehr glückliche und
wäre es in der That gewesen, wenn ein kluger und billig denkender Fürst die
Regierung des neugeschaffenen Staates übernommen hätte. Die Holländer und
die Vläminger gehörten demselben niederdeutschen Volksstamme an, wenn pro¬
vinzielle Eigenthümlichkeiten und eine lange Trennung auch manche Verschieden¬
heiten, selbst in der Sprache, hervorgerufen hatten. Die brabantische Bevölke¬
rung Belgiens war allerdings romanischen Stammes, aber gerade sie hätte
durch Rücksichtnahme auf ihre Volksthümlichkeit, ihre Einrichtungen und ihre
freisinnigen Ansichten leicht gewonnen werden können. Die Holländer waren
ein Volk, das vorzugsweise Handel trieb, die Belgier vorwiegend ein Volk von
Industriellen, und den letzteren öffnete sich durch die holländischen Colonien in
Ostasien und Amerika die Aussicht auf bequemen und reichlich lohnenden Absatz
ihrer Erzeugnisse. Jetzt erst konnte die Schelde als Canal des Welthandels
benutzt werden; denn unter der österreichischen Regierung war sie durch Ver¬
träge zu Gunsten der Holländer und in der französischen Zeit durch die Con-
tinentalsperre geschlossen gewesen. Endlich verfügte das neue Königreich über
die Kräfte von fünf und einer halben Million Einwohner, und fo konnte es
wirklich die Vormauer gegen Frankreich sein, welche es nach den Erwartungen
der Staatsmänner sein sollte, die ihm das Dasein gegeben hatten. "Die alliirten
Mächte," sagte Castlereagh am 20. März 1815 im englischen Unterhause, "sind
ebenso überzeugt wie wir, daß um der Sicherheit Hollands willen Frankreich
nicht die Küsten bis an das äußerste Ende der Niederlande besitzen darf, und
aus diesem Grunde haben sie sich entschlossen, in die Vereinigung der beiden
Länder zu willigen, die eine der großen Verbesserungen bildet, welche der Zu¬
stand Europas in der neuesten Zeit erfahren hat. Diese Vereinigung ist uicht
als ein Zugeständniß an England oder den Prinzen von Oranien betrachtet
worden, sondern man hat darin ein Mittel zur Stärkung des Gleichgewichts
in Europa erblickt. Es ist ein Königreich, mächtig durch alle Hilfsquellen des
Bodens, des Handels und der Schifffahrt. Kunst und Natur müssen zusammen¬
wirken, um es in den Stand zu setzen, den Angriffen, die auf dasselbe von
Norden oder Westen her erfolgen könnten, wenigstens so lange zu widerstehen,
bis ihm die anderen Mächte zu Hilfe kommen können." So war das neue
Königreich nicht bloß eine gegen Frankreich errichtete Schranke, es war auch
die Vorhut der Koalition, ein für den Widerstand gegen den ersten Vorstoß
ausreichend befähigter Brückenkopf. Die Festungen seiner Südproviuzen sollten,
auf Befehl der Mächte und mit deu Subsidien Englands restaurirt, den Truppen
derselben im Kriegsfall offen stehen, und die Überwachung dieser belgischen
Festungen wurde sogar dein Herzog von Wellington anvertraut.

Um die Länder, die man Frankreich abgenommen, und das Volk, über das


Machterweiterung verwirklicht. Die Idee erschien als eine sehr glückliche und
wäre es in der That gewesen, wenn ein kluger und billig denkender Fürst die
Regierung des neugeschaffenen Staates übernommen hätte. Die Holländer und
die Vläminger gehörten demselben niederdeutschen Volksstamme an, wenn pro¬
vinzielle Eigenthümlichkeiten und eine lange Trennung auch manche Verschieden¬
heiten, selbst in der Sprache, hervorgerufen hatten. Die brabantische Bevölke¬
rung Belgiens war allerdings romanischen Stammes, aber gerade sie hätte
durch Rücksichtnahme auf ihre Volksthümlichkeit, ihre Einrichtungen und ihre
freisinnigen Ansichten leicht gewonnen werden können. Die Holländer waren
ein Volk, das vorzugsweise Handel trieb, die Belgier vorwiegend ein Volk von
Industriellen, und den letzteren öffnete sich durch die holländischen Colonien in
Ostasien und Amerika die Aussicht auf bequemen und reichlich lohnenden Absatz
ihrer Erzeugnisse. Jetzt erst konnte die Schelde als Canal des Welthandels
benutzt werden; denn unter der österreichischen Regierung war sie durch Ver¬
träge zu Gunsten der Holländer und in der französischen Zeit durch die Con-
tinentalsperre geschlossen gewesen. Endlich verfügte das neue Königreich über
die Kräfte von fünf und einer halben Million Einwohner, und fo konnte es
wirklich die Vormauer gegen Frankreich sein, welche es nach den Erwartungen
der Staatsmänner sein sollte, die ihm das Dasein gegeben hatten. „Die alliirten
Mächte," sagte Castlereagh am 20. März 1815 im englischen Unterhause, „sind
ebenso überzeugt wie wir, daß um der Sicherheit Hollands willen Frankreich
nicht die Küsten bis an das äußerste Ende der Niederlande besitzen darf, und
aus diesem Grunde haben sie sich entschlossen, in die Vereinigung der beiden
Länder zu willigen, die eine der großen Verbesserungen bildet, welche der Zu¬
stand Europas in der neuesten Zeit erfahren hat. Diese Vereinigung ist uicht
als ein Zugeständniß an England oder den Prinzen von Oranien betrachtet
worden, sondern man hat darin ein Mittel zur Stärkung des Gleichgewichts
in Europa erblickt. Es ist ein Königreich, mächtig durch alle Hilfsquellen des
Bodens, des Handels und der Schifffahrt. Kunst und Natur müssen zusammen¬
wirken, um es in den Stand zu setzen, den Angriffen, die auf dasselbe von
Norden oder Westen her erfolgen könnten, wenigstens so lange zu widerstehen,
bis ihm die anderen Mächte zu Hilfe kommen können." So war das neue
Königreich nicht bloß eine gegen Frankreich errichtete Schranke, es war auch
die Vorhut der Koalition, ein für den Widerstand gegen den ersten Vorstoß
ausreichend befähigter Brückenkopf. Die Festungen seiner Südproviuzen sollten,
auf Befehl der Mächte und mit deu Subsidien Englands restaurirt, den Truppen
derselben im Kriegsfall offen stehen, und die Überwachung dieser belgischen
Festungen wurde sogar dein Herzog von Wellington anvertraut.

Um die Länder, die man Frankreich abgenommen, und das Volk, über das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/98>, abgerufen am 23.07.2024.