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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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verrathes anklagen oder sie reif für Bedlam erklären. Ein Engländer wird
aus nationaler Selbstsucht und nationalem Stolz keine Handlung begehen, keine
Phrase aussprechen auf Unkosten seines Vaterlandes. Unsere Freihändler dürfen
reden und handeln, wie es ihnen beliebt, für eine Lehre, die erfahrungsmäßig
die eigenen vaterländischen Interessen schädigt und somit das Wohl des eigenen
Staates einem fremden, wirthschaftlich stärkeren Staate gewissenlos opfert. Und
trotzdem halten sich die Führer dieser Partei sür Apostel einer so erhabenen
Lehre, wie sie nur jemals in dem Gehirn eines Weisen geboren worden ist.
"Das aber ist das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und ver¬
nünftig zu sein, doch sich selbst genug zu sein dünkt." Was Staat! Ich bin
der Staat! ruft jeder Manchestermann aus; der Staat ist nur eine große Poli¬
zeianstalt, die Jeden in der Verfolgung seiner Zwecke zu schützen hat. Bei jeder
Rede, die dem Munde des Reichskanzlers entströmt, bei jeder ökonomischen
Maßregel, die er in Vollzug setzt, bei jedem Plane, über dem sein Kopf brütet,
beten die orthodoxen Manchesterleute, Franzosengeschwätz nachäffend, ihre alber¬
nen Sprüchlein und rufen ihm zu: Nicht zu viel regieren! Der wahre Beruf
eines Staatsmannes besteht darin, sich entbehrlich zu machen! Geheimnißvoll
werfen sie oft die Frage auf: Was muß man thun, um ein großer Staats¬
mann zu werdeu? und geben darauf hohnlächelnd die frivole Antwort:
Nichts! Die Willkürherrschaft des Jndividnms, mit all der socialen Verwilde¬
rung, Vereinzelung und Verarmung, mit all dem tiefen sittlichen Verfall, mit all
dem Schwindel, dem Lug und Trug des letzten Jahrzehnts -- das sind zu
jeder Zeit die traurigen Erfolge des volkswirtschaftlichen "Liberalismus" ge¬
wesen Unter der Herrschaft dieses wirthschaftliches "Liberalismus" haben sich
im Laufe des Jahrhunderts Zustände gebildet, die man treffend mit einem Kriege
Aller gegen Alle verglichen hat. Mit zwingender Nothwendigkeit muß in einem
solchen Kriege der materiell Starke über den materiell Schwachen siegen. Bürger¬
liche Freiheit, die doch nichts anders ist als bürgerliche Selbständigkeit. und
bürgerliche Unabhängigkeit, haben die Freiheitshelden noch für lange Zeit un¬
möglich gemacht.

Ein Glück, daß der mächtigste Mann des Reiches die Staatsgewalt zum
Kampfe mit der falschen Freiheitspartei aufrief und dem Staate seine Würde
und seine Kraft zurückgab, die er dem freihändlerischen Treiben gegenüber
schon fast eingebüßt hatte. Das banale Schlagwort auch unserer Freihandels¬
männer: iMZLv? tairs se x^sssr, Is morals 6s lui-rQsms ist endlich zu
Schanden geworden. Die inaugurirte Zoll- und Finanzpolitik unseres Kanzlers
hat bereits Früchte gezeitigt, und Jeder kann sie sehen und schmecken, der sie
sehen und schmecken will. Aber wenn der Geschichtschreiber von ihr eine große
Epoche datiren soll in der Geschichte der wirthschaftlichen Entwicklung unseres


verrathes anklagen oder sie reif für Bedlam erklären. Ein Engländer wird
aus nationaler Selbstsucht und nationalem Stolz keine Handlung begehen, keine
Phrase aussprechen auf Unkosten seines Vaterlandes. Unsere Freihändler dürfen
reden und handeln, wie es ihnen beliebt, für eine Lehre, die erfahrungsmäßig
die eigenen vaterländischen Interessen schädigt und somit das Wohl des eigenen
Staates einem fremden, wirthschaftlich stärkeren Staate gewissenlos opfert. Und
trotzdem halten sich die Führer dieser Partei sür Apostel einer so erhabenen
Lehre, wie sie nur jemals in dem Gehirn eines Weisen geboren worden ist.
„Das aber ist das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und ver¬
nünftig zu sein, doch sich selbst genug zu sein dünkt." Was Staat! Ich bin
der Staat! ruft jeder Manchestermann aus; der Staat ist nur eine große Poli¬
zeianstalt, die Jeden in der Verfolgung seiner Zwecke zu schützen hat. Bei jeder
Rede, die dem Munde des Reichskanzlers entströmt, bei jeder ökonomischen
Maßregel, die er in Vollzug setzt, bei jedem Plane, über dem sein Kopf brütet,
beten die orthodoxen Manchesterleute, Franzosengeschwätz nachäffend, ihre alber¬
nen Sprüchlein und rufen ihm zu: Nicht zu viel regieren! Der wahre Beruf
eines Staatsmannes besteht darin, sich entbehrlich zu machen! Geheimnißvoll
werfen sie oft die Frage auf: Was muß man thun, um ein großer Staats¬
mann zu werdeu? und geben darauf hohnlächelnd die frivole Antwort:
Nichts! Die Willkürherrschaft des Jndividnms, mit all der socialen Verwilde¬
rung, Vereinzelung und Verarmung, mit all dem tiefen sittlichen Verfall, mit all
dem Schwindel, dem Lug und Trug des letzten Jahrzehnts — das sind zu
jeder Zeit die traurigen Erfolge des volkswirtschaftlichen „Liberalismus" ge¬
wesen Unter der Herrschaft dieses wirthschaftliches „Liberalismus" haben sich
im Laufe des Jahrhunderts Zustände gebildet, die man treffend mit einem Kriege
Aller gegen Alle verglichen hat. Mit zwingender Nothwendigkeit muß in einem
solchen Kriege der materiell Starke über den materiell Schwachen siegen. Bürger¬
liche Freiheit, die doch nichts anders ist als bürgerliche Selbständigkeit. und
bürgerliche Unabhängigkeit, haben die Freiheitshelden noch für lange Zeit un¬
möglich gemacht.

Ein Glück, daß der mächtigste Mann des Reiches die Staatsgewalt zum
Kampfe mit der falschen Freiheitspartei aufrief und dem Staate seine Würde
und seine Kraft zurückgab, die er dem freihändlerischen Treiben gegenüber
schon fast eingebüßt hatte. Das banale Schlagwort auch unserer Freihandels¬
männer: iMZLv? tairs se x^sssr, Is morals 6s lui-rQsms ist endlich zu
Schanden geworden. Die inaugurirte Zoll- und Finanzpolitik unseres Kanzlers
hat bereits Früchte gezeitigt, und Jeder kann sie sehen und schmecken, der sie
sehen und schmecken will. Aber wenn der Geschichtschreiber von ihr eine große
Epoche datiren soll in der Geschichte der wirthschaftlichen Entwicklung unseres


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/58>, abgerufen am 03.07.2024.