Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

denen die erste in Thüringen und dem Vogtlande, dein Lande der "grünen"
(aus rohen, geriebenen Kartoffeln gemachten) Klöße, die andere am Niederrheine
vorkommt. In beiden Fällen zeigt sich in der scherzhaften Vergleichung die
Wirksamkeit des Stabreims. Ein gleiches gilt, wenn der Berliner sein Lied
anstimme: "Stiebel muß sterben", oder wenn er von einem sagt, er blühe "wie
die Nose im Rinnstein". Auch bei einer ganzen Anzahl zur Uebung und
Erprobung der Zungenfertigkeit gebildeter komischer Sätze beruht der Scherz vor¬
zugsweise in der Wirkung der Alliteration.*)

In all den genannten Fällen, deren Reihe noch durch manches Beispiel
vermehrt werden konnte, sehen wir, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, das
Streben nach Alliteration bei der Bildung des Ausdrucks zu Tage treten. Im
folgenden gebe ich einige Beispiele, in denen offenbar unter dem Einflüsse der
Alliteration sich Wörter oder Ausdrücke erhalten haben, die sonst aus der Sprache
überhaupt oder doch in der betreffenden Verwendung und Bedeutung verschwun¬
den und völlig unverständlich geworden sind oder ihren ursprüngliche" Sinn
verloren haben. Manche kennen wir eben bloß noch in der betreffenden allite-
rirenden Verbindung. In der alltäglichen, jedem geläufigen Wendung "mit
Kind und Kegel" hat das letzte der beiden Wörter, wenn wir bloß die in der
heutigen Sprache lebendige Bedeutung berücksichtigen, keinen Sinn; es ist geradezu
unverständlich und unerklärbar. In der Zeit, als die Redensart entstand, war
dies anders. Das Wort Kegel (leget, auch kekek geschrieben, in den Wörter¬
büchern, auch im Grimmschen, wohl mit Recht, als besonderes Wort, von dem
anderen Kegel getrennt, aufgeführt) bedeutet einen unehelichen Sohn. So stellt
unsere Redensart, zunächst nichts weniger als sinnlos, die beiden Gegensätze,
das eheliche und das uneheliche Kind gegenüber, anfangs, z. B. besonders in
der Gerichtssprache, zur Bezeichnung sämmtlicher directen Nachkommen, dann,
allmählich mehr und mehr sich erweiternd, im Sinne von allen Angehörigen
überhaupt oder noch allgemeiner etwa: alles, was man hat. Wenn hier noch



*) Es sei gestattet, hier eine kleine Geschichte, die sicher nicht die einzige ihrer Art ist.
mitzutheilen, zum Beweise, wie tief das Gefühl für die besprochene Erscheinung und die
Lust am Alliteriren uns im Blute steckt. Vor Jahr und Tag befanden sich unter den
Schülern einer Elberfelder Volksschule zwei Brüder namens Dierichs, die entsprechend ihrer
Gestalt und zur Unterscheidung von einander bei ihren Mitschülern als "der Dicke" und
"der Dünne" bezeichnet wurden. Als eines Tages "der Dicke" seinen schwächeren Bruder
durch ein infolge des Regen- und Thanwetters entstandene Wasserpfntze getragen hatte, machte
bald unter den Mitschülern (12--14 jährigen Knaben), die sicher die Alliteration zwischen
den beiden Spitznamen und jenem Familiennamen in ihrer Wirkung längst gefühlt hatten
das Scherzwort die Runde: "De decke Dierichs trog den dünnen Dierichs dappcr dörch
den deepen Dreck" (Der dicke T>. trug den dünnen D. tapfer durch den tiefen Schmutz).
Mag der Satz eine bloße Anlehnung an einen bereits vorhandenen ähnlichen enthalten oder
vollständig freie Erfindung sein, auf jeden Fall bestätigt er unsere Behauptung.

denen die erste in Thüringen und dem Vogtlande, dein Lande der „grünen"
(aus rohen, geriebenen Kartoffeln gemachten) Klöße, die andere am Niederrheine
vorkommt. In beiden Fällen zeigt sich in der scherzhaften Vergleichung die
Wirksamkeit des Stabreims. Ein gleiches gilt, wenn der Berliner sein Lied
anstimme: „Stiebel muß sterben", oder wenn er von einem sagt, er blühe „wie
die Nose im Rinnstein". Auch bei einer ganzen Anzahl zur Uebung und
Erprobung der Zungenfertigkeit gebildeter komischer Sätze beruht der Scherz vor¬
zugsweise in der Wirkung der Alliteration.*)

In all den genannten Fällen, deren Reihe noch durch manches Beispiel
vermehrt werden konnte, sehen wir, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, das
Streben nach Alliteration bei der Bildung des Ausdrucks zu Tage treten. Im
folgenden gebe ich einige Beispiele, in denen offenbar unter dem Einflüsse der
Alliteration sich Wörter oder Ausdrücke erhalten haben, die sonst aus der Sprache
überhaupt oder doch in der betreffenden Verwendung und Bedeutung verschwun¬
den und völlig unverständlich geworden sind oder ihren ursprüngliche» Sinn
verloren haben. Manche kennen wir eben bloß noch in der betreffenden allite-
rirenden Verbindung. In der alltäglichen, jedem geläufigen Wendung „mit
Kind und Kegel" hat das letzte der beiden Wörter, wenn wir bloß die in der
heutigen Sprache lebendige Bedeutung berücksichtigen, keinen Sinn; es ist geradezu
unverständlich und unerklärbar. In der Zeit, als die Redensart entstand, war
dies anders. Das Wort Kegel (leget, auch kekek geschrieben, in den Wörter¬
büchern, auch im Grimmschen, wohl mit Recht, als besonderes Wort, von dem
anderen Kegel getrennt, aufgeführt) bedeutet einen unehelichen Sohn. So stellt
unsere Redensart, zunächst nichts weniger als sinnlos, die beiden Gegensätze,
das eheliche und das uneheliche Kind gegenüber, anfangs, z. B. besonders in
der Gerichtssprache, zur Bezeichnung sämmtlicher directen Nachkommen, dann,
allmählich mehr und mehr sich erweiternd, im Sinne von allen Angehörigen
überhaupt oder noch allgemeiner etwa: alles, was man hat. Wenn hier noch



*) Es sei gestattet, hier eine kleine Geschichte, die sicher nicht die einzige ihrer Art ist.
mitzutheilen, zum Beweise, wie tief das Gefühl für die besprochene Erscheinung und die
Lust am Alliteriren uns im Blute steckt. Vor Jahr und Tag befanden sich unter den
Schülern einer Elberfelder Volksschule zwei Brüder namens Dierichs, die entsprechend ihrer
Gestalt und zur Unterscheidung von einander bei ihren Mitschülern als „der Dicke" und
„der Dünne" bezeichnet wurden. Als eines Tages „der Dicke" seinen schwächeren Bruder
durch ein infolge des Regen- und Thanwetters entstandene Wasserpfntze getragen hatte, machte
bald unter den Mitschülern (12—14 jährigen Knaben), die sicher die Alliteration zwischen
den beiden Spitznamen und jenem Familiennamen in ihrer Wirkung längst gefühlt hatten
das Scherzwort die Runde: „De decke Dierichs trog den dünnen Dierichs dappcr dörch
den deepen Dreck" (Der dicke T>. trug den dünnen D. tapfer durch den tiefen Schmutz).
Mag der Satz eine bloße Anlehnung an einen bereits vorhandenen ähnlichen enthalten oder
vollständig freie Erfindung sein, auf jeden Fall bestätigt er unsere Behauptung.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0535" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147629"/>
          <p xml:id="ID_1468" prev="#ID_1467"> denen die erste in Thüringen und dem Vogtlande, dein Lande der &#x201E;grünen"<lb/>
(aus rohen, geriebenen Kartoffeln gemachten) Klöße, die andere am Niederrheine<lb/>
vorkommt. In beiden Fällen zeigt sich in der scherzhaften Vergleichung die<lb/>
Wirksamkeit des Stabreims. Ein gleiches gilt, wenn der Berliner sein Lied<lb/>
anstimme: &#x201E;Stiebel muß sterben", oder wenn er von einem sagt, er blühe &#x201E;wie<lb/>
die Nose im Rinnstein". Auch bei einer ganzen Anzahl zur Uebung und<lb/>
Erprobung der Zungenfertigkeit gebildeter komischer Sätze beruht der Scherz vor¬<lb/>
zugsweise in der Wirkung der Alliteration.*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1469" next="#ID_1470"> In all den genannten Fällen, deren Reihe noch durch manches Beispiel<lb/>
vermehrt werden konnte, sehen wir, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, das<lb/>
Streben nach Alliteration bei der Bildung des Ausdrucks zu Tage treten. Im<lb/>
folgenden gebe ich einige Beispiele, in denen offenbar unter dem Einflüsse der<lb/>
Alliteration sich Wörter oder Ausdrücke erhalten haben, die sonst aus der Sprache<lb/>
überhaupt oder doch in der betreffenden Verwendung und Bedeutung verschwun¬<lb/>
den und völlig unverständlich geworden sind oder ihren ursprüngliche» Sinn<lb/>
verloren haben. Manche kennen wir eben bloß noch in der betreffenden allite-<lb/>
rirenden Verbindung. In der alltäglichen, jedem geläufigen Wendung &#x201E;mit<lb/>
Kind und Kegel" hat das letzte der beiden Wörter, wenn wir bloß die in der<lb/>
heutigen Sprache lebendige Bedeutung berücksichtigen, keinen Sinn; es ist geradezu<lb/>
unverständlich und unerklärbar. In der Zeit, als die Redensart entstand, war<lb/>
dies anders. Das Wort Kegel (leget, auch kekek geschrieben, in den Wörter¬<lb/>
büchern, auch im Grimmschen, wohl mit Recht, als besonderes Wort, von dem<lb/>
anderen Kegel getrennt, aufgeführt) bedeutet einen unehelichen Sohn. So stellt<lb/>
unsere Redensart, zunächst nichts weniger als sinnlos, die beiden Gegensätze,<lb/>
das eheliche und das uneheliche Kind gegenüber, anfangs, z. B. besonders in<lb/>
der Gerichtssprache, zur Bezeichnung sämmtlicher directen Nachkommen, dann,<lb/>
allmählich mehr und mehr sich erweiternd, im Sinne von allen Angehörigen<lb/>
überhaupt oder noch allgemeiner etwa: alles, was man hat. Wenn hier noch</p><lb/>
          <note xml:id="FID_106" place="foot"> *) Es sei gestattet, hier eine kleine Geschichte, die sicher nicht die einzige ihrer Art ist.<lb/>
mitzutheilen, zum Beweise, wie tief das Gefühl für die besprochene Erscheinung und die<lb/>
Lust am Alliteriren uns im Blute steckt. Vor Jahr und Tag befanden sich unter den<lb/>
Schülern einer Elberfelder Volksschule zwei Brüder namens Dierichs, die entsprechend ihrer<lb/>
Gestalt und zur Unterscheidung von einander bei ihren Mitschülern als &#x201E;der Dicke" und<lb/>
&#x201E;der Dünne" bezeichnet wurden. Als eines Tages &#x201E;der Dicke" seinen schwächeren Bruder<lb/>
durch ein infolge des Regen- und Thanwetters entstandene Wasserpfntze getragen hatte, machte<lb/>
bald unter den Mitschülern (12&#x2014;14 jährigen Knaben), die sicher die Alliteration zwischen<lb/>
den beiden Spitznamen und jenem Familiennamen in ihrer Wirkung längst gefühlt hatten<lb/>
das Scherzwort die Runde: &#x201E;De decke Dierichs trog den dünnen Dierichs dappcr dörch<lb/>
den deepen Dreck" (Der dicke T&gt;. trug den dünnen D. tapfer durch den tiefen Schmutz).<lb/>
Mag der Satz eine bloße Anlehnung an einen bereits vorhandenen ähnlichen enthalten oder<lb/>
vollständig freie Erfindung sein, auf jeden Fall bestätigt er unsere Behauptung.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0535] denen die erste in Thüringen und dem Vogtlande, dein Lande der „grünen" (aus rohen, geriebenen Kartoffeln gemachten) Klöße, die andere am Niederrheine vorkommt. In beiden Fällen zeigt sich in der scherzhaften Vergleichung die Wirksamkeit des Stabreims. Ein gleiches gilt, wenn der Berliner sein Lied anstimme: „Stiebel muß sterben", oder wenn er von einem sagt, er blühe „wie die Nose im Rinnstein". Auch bei einer ganzen Anzahl zur Uebung und Erprobung der Zungenfertigkeit gebildeter komischer Sätze beruht der Scherz vor¬ zugsweise in der Wirkung der Alliteration.*) In all den genannten Fällen, deren Reihe noch durch manches Beispiel vermehrt werden konnte, sehen wir, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, das Streben nach Alliteration bei der Bildung des Ausdrucks zu Tage treten. Im folgenden gebe ich einige Beispiele, in denen offenbar unter dem Einflüsse der Alliteration sich Wörter oder Ausdrücke erhalten haben, die sonst aus der Sprache überhaupt oder doch in der betreffenden Verwendung und Bedeutung verschwun¬ den und völlig unverständlich geworden sind oder ihren ursprüngliche» Sinn verloren haben. Manche kennen wir eben bloß noch in der betreffenden allite- rirenden Verbindung. In der alltäglichen, jedem geläufigen Wendung „mit Kind und Kegel" hat das letzte der beiden Wörter, wenn wir bloß die in der heutigen Sprache lebendige Bedeutung berücksichtigen, keinen Sinn; es ist geradezu unverständlich und unerklärbar. In der Zeit, als die Redensart entstand, war dies anders. Das Wort Kegel (leget, auch kekek geschrieben, in den Wörter¬ büchern, auch im Grimmschen, wohl mit Recht, als besonderes Wort, von dem anderen Kegel getrennt, aufgeführt) bedeutet einen unehelichen Sohn. So stellt unsere Redensart, zunächst nichts weniger als sinnlos, die beiden Gegensätze, das eheliche und das uneheliche Kind gegenüber, anfangs, z. B. besonders in der Gerichtssprache, zur Bezeichnung sämmtlicher directen Nachkommen, dann, allmählich mehr und mehr sich erweiternd, im Sinne von allen Angehörigen überhaupt oder noch allgemeiner etwa: alles, was man hat. Wenn hier noch *) Es sei gestattet, hier eine kleine Geschichte, die sicher nicht die einzige ihrer Art ist. mitzutheilen, zum Beweise, wie tief das Gefühl für die besprochene Erscheinung und die Lust am Alliteriren uns im Blute steckt. Vor Jahr und Tag befanden sich unter den Schülern einer Elberfelder Volksschule zwei Brüder namens Dierichs, die entsprechend ihrer Gestalt und zur Unterscheidung von einander bei ihren Mitschülern als „der Dicke" und „der Dünne" bezeichnet wurden. Als eines Tages „der Dicke" seinen schwächeren Bruder durch ein infolge des Regen- und Thanwetters entstandene Wasserpfntze getragen hatte, machte bald unter den Mitschülern (12—14 jährigen Knaben), die sicher die Alliteration zwischen den beiden Spitznamen und jenem Familiennamen in ihrer Wirkung längst gefühlt hatten das Scherzwort die Runde: „De decke Dierichs trog den dünnen Dierichs dappcr dörch den deepen Dreck" (Der dicke T>. trug den dünnen D. tapfer durch den tiefen Schmutz). Mag der Satz eine bloße Anlehnung an einen bereits vorhandenen ähnlichen enthalten oder vollständig freie Erfindung sein, auf jeden Fall bestätigt er unsere Behauptung.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/535
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/535>, abgerufen am 25.08.2024.