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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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in wissenschaftlichen Abstraktionen, aber sie erkennt in Begriffen, deren Anschau¬
lichkeit und Fülle ihre Bestimmtheit nicht schädigen. Sind etwa concrete Be¬
griffe weniger Begriffe oder Begriffe zweiten Grades gegenüber abstracten Be¬
griffen? Wir würden auf diese Differenz als eine unerhebliche keinen Werth
legen, wenn wir nicht wüßten, daß die Hegelsche Philosophie, obwohl sie das
Gegentheil behauptet, einen inhaltlichen Gegensatz zwischen Vorstellung und Be¬
griff hervorbringt, so daß jene etwa als geschichtliche Thatsache ansieht, was
diesem nur als symbolisch - mythische Verkörperung einer Idee erscheint. Von
diesem Standpunkte aus hat bekanntlich die Hegelsche Philosophie nach dem
Vorgänge Schellings sich mit dem kirchlichen Dogma zu befreunden gewußt
und einige Zeit hindurch sich als Trägerin conservativer Bestrebungen auf dem
Gebiete der Theologie zu behaupten verstanden. Aber dieser Friede hat nicht
lange gedauert, der Theologie und der Kirche war nicht mit Formeln gedient, in
denen sich ein ihr heterogener Inhalt verbarg, und auch ein Theil der Hege¬
lianer gab dieses Spiel mit Worten -- denn etwas anderes war es nicht --
ans. Wir bekennen es offen, daß uns der alte ehrliche Rationalismus trotz
seiner Plattheiten und Trivialitäten immer uoch werthvoller ist als eine Re-
ligionsphilosophie, deren doppelsinnige Worte unerfahrene Leser über den Wider¬
spruch täuschen, in dem sie mit den Grundgedanken des Christenthums steht.
Was speciell Mariano anlangt, so wissen wir allerdings nicht, wie er sich per¬
sönlich zu dem Geschichtlichen im Leben Jesu stellt, er hat sich darüber nicht
hinlänglich ausgesprochen, doch können wir nicht anders als seine Jndifferen-
zirung des historischen Christus als eine Verneinung der Grundlagen des
Christenthums bezeichnen.

Doch wir kehren zu unserer Berichterstattung zurück. Der Nachweis des
Zusammenhanges unserer Cultur mit dem Christenthum vollendet sich in der
Beleuchtung unserer socialen Zustände. Die Signatur derselben können wir
in der völligen Ablösung des Individuums von den zügelnden autoritativen
Factoren erkennen. Die Folge davon ist ein zügelloser Egoismus, eine maßlose
Concurrenz im Kampfe um das Dasein, in dem die Gesellschaft in den schroffen
Gegensatz von Reichen und Armen aus einander geht. Hier Capitalismus und
Gründerthum, das herzlos Menschenkräfte ausbeutet und uuter dem Schutze des
Gesetzes auf Raubzüge ausgeht; dort der Socialismus, der nicht minder selbst¬
süchtig, in praktischem, zum großen Theil auch in theoretischem Materialismus
den Umsturz der Organisation der Gesellschaft plant, um ein Utopien herzustellen,
in dem für ideale Güter kein Raum bleiben und die persönliche Freiheit im
Sclavengehorsam untergehen würde. Werden diese Gefahren durch friedliche
Reform vermieden werden, oder steht uns oder unseren Kindern eine blutige
Katastrophe bevor, ein tragischer Entscheidungskampf? Wir wagen darauf keine


in wissenschaftlichen Abstraktionen, aber sie erkennt in Begriffen, deren Anschau¬
lichkeit und Fülle ihre Bestimmtheit nicht schädigen. Sind etwa concrete Be¬
griffe weniger Begriffe oder Begriffe zweiten Grades gegenüber abstracten Be¬
griffen? Wir würden auf diese Differenz als eine unerhebliche keinen Werth
legen, wenn wir nicht wüßten, daß die Hegelsche Philosophie, obwohl sie das
Gegentheil behauptet, einen inhaltlichen Gegensatz zwischen Vorstellung und Be¬
griff hervorbringt, so daß jene etwa als geschichtliche Thatsache ansieht, was
diesem nur als symbolisch - mythische Verkörperung einer Idee erscheint. Von
diesem Standpunkte aus hat bekanntlich die Hegelsche Philosophie nach dem
Vorgänge Schellings sich mit dem kirchlichen Dogma zu befreunden gewußt
und einige Zeit hindurch sich als Trägerin conservativer Bestrebungen auf dem
Gebiete der Theologie zu behaupten verstanden. Aber dieser Friede hat nicht
lange gedauert, der Theologie und der Kirche war nicht mit Formeln gedient, in
denen sich ein ihr heterogener Inhalt verbarg, und auch ein Theil der Hege¬
lianer gab dieses Spiel mit Worten — denn etwas anderes war es nicht —
ans. Wir bekennen es offen, daß uns der alte ehrliche Rationalismus trotz
seiner Plattheiten und Trivialitäten immer uoch werthvoller ist als eine Re-
ligionsphilosophie, deren doppelsinnige Worte unerfahrene Leser über den Wider¬
spruch täuschen, in dem sie mit den Grundgedanken des Christenthums steht.
Was speciell Mariano anlangt, so wissen wir allerdings nicht, wie er sich per¬
sönlich zu dem Geschichtlichen im Leben Jesu stellt, er hat sich darüber nicht
hinlänglich ausgesprochen, doch können wir nicht anders als seine Jndifferen-
zirung des historischen Christus als eine Verneinung der Grundlagen des
Christenthums bezeichnen.

Doch wir kehren zu unserer Berichterstattung zurück. Der Nachweis des
Zusammenhanges unserer Cultur mit dem Christenthum vollendet sich in der
Beleuchtung unserer socialen Zustände. Die Signatur derselben können wir
in der völligen Ablösung des Individuums von den zügelnden autoritativen
Factoren erkennen. Die Folge davon ist ein zügelloser Egoismus, eine maßlose
Concurrenz im Kampfe um das Dasein, in dem die Gesellschaft in den schroffen
Gegensatz von Reichen und Armen aus einander geht. Hier Capitalismus und
Gründerthum, das herzlos Menschenkräfte ausbeutet und uuter dem Schutze des
Gesetzes auf Raubzüge ausgeht; dort der Socialismus, der nicht minder selbst¬
süchtig, in praktischem, zum großen Theil auch in theoretischem Materialismus
den Umsturz der Organisation der Gesellschaft plant, um ein Utopien herzustellen,
in dem für ideale Güter kein Raum bleiben und die persönliche Freiheit im
Sclavengehorsam untergehen würde. Werden diese Gefahren durch friedliche
Reform vermieden werden, oder steht uns oder unseren Kindern eine blutige
Katastrophe bevor, ein tragischer Entscheidungskampf? Wir wagen darauf keine


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[0519] in wissenschaftlichen Abstraktionen, aber sie erkennt in Begriffen, deren Anschau¬ lichkeit und Fülle ihre Bestimmtheit nicht schädigen. Sind etwa concrete Be¬ griffe weniger Begriffe oder Begriffe zweiten Grades gegenüber abstracten Be¬ griffen? Wir würden auf diese Differenz als eine unerhebliche keinen Werth legen, wenn wir nicht wüßten, daß die Hegelsche Philosophie, obwohl sie das Gegentheil behauptet, einen inhaltlichen Gegensatz zwischen Vorstellung und Be¬ griff hervorbringt, so daß jene etwa als geschichtliche Thatsache ansieht, was diesem nur als symbolisch - mythische Verkörperung einer Idee erscheint. Von diesem Standpunkte aus hat bekanntlich die Hegelsche Philosophie nach dem Vorgänge Schellings sich mit dem kirchlichen Dogma zu befreunden gewußt und einige Zeit hindurch sich als Trägerin conservativer Bestrebungen auf dem Gebiete der Theologie zu behaupten verstanden. Aber dieser Friede hat nicht lange gedauert, der Theologie und der Kirche war nicht mit Formeln gedient, in denen sich ein ihr heterogener Inhalt verbarg, und auch ein Theil der Hege¬ lianer gab dieses Spiel mit Worten — denn etwas anderes war es nicht — ans. Wir bekennen es offen, daß uns der alte ehrliche Rationalismus trotz seiner Plattheiten und Trivialitäten immer uoch werthvoller ist als eine Re- ligionsphilosophie, deren doppelsinnige Worte unerfahrene Leser über den Wider¬ spruch täuschen, in dem sie mit den Grundgedanken des Christenthums steht. Was speciell Mariano anlangt, so wissen wir allerdings nicht, wie er sich per¬ sönlich zu dem Geschichtlichen im Leben Jesu stellt, er hat sich darüber nicht hinlänglich ausgesprochen, doch können wir nicht anders als seine Jndifferen- zirung des historischen Christus als eine Verneinung der Grundlagen des Christenthums bezeichnen. Doch wir kehren zu unserer Berichterstattung zurück. Der Nachweis des Zusammenhanges unserer Cultur mit dem Christenthum vollendet sich in der Beleuchtung unserer socialen Zustände. Die Signatur derselben können wir in der völligen Ablösung des Individuums von den zügelnden autoritativen Factoren erkennen. Die Folge davon ist ein zügelloser Egoismus, eine maßlose Concurrenz im Kampfe um das Dasein, in dem die Gesellschaft in den schroffen Gegensatz von Reichen und Armen aus einander geht. Hier Capitalismus und Gründerthum, das herzlos Menschenkräfte ausbeutet und uuter dem Schutze des Gesetzes auf Raubzüge ausgeht; dort der Socialismus, der nicht minder selbst¬ süchtig, in praktischem, zum großen Theil auch in theoretischem Materialismus den Umsturz der Organisation der Gesellschaft plant, um ein Utopien herzustellen, in dem für ideale Güter kein Raum bleiben und die persönliche Freiheit im Sclavengehorsam untergehen würde. Werden diese Gefahren durch friedliche Reform vermieden werden, oder steht uns oder unseren Kindern eine blutige Katastrophe bevor, ein tragischer Entscheidungskampf? Wir wagen darauf keine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/519>, abgerufen am 23.07.2024.