Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

und Geschichte. Es würde leicht sein, den Nachweis dafür im einzelnen zu
geben; wir verzichten darauf nur, weil uns eine solche Darlegung zu weit ab¬
lenken würde. Auch für die Behauptung Marianos, der wir übrigens beistim¬
men, daß die Naturwissenschaften ihre gegenwärtige Blüthe dein Christenthum
danken, vermissen wir die tiefere Begründung. Auch hier finden wir im Be¬
griffe der Freiheit das lösende Wort. Der seiner Freiheit, seiner Gottebenbild¬
lichkeit, seiner Erhabenheit über die Natur sich bewußte Mensch besitzt in diesem
Bewußtsein die höchsten Motive, diese Idee der Freiheit in der intellectuellen
Aneignung, in der materiellen Unterwerfung der Natur zu realisiren. Und so
ist uns eine naturalisirende Kunst und Poesie, eine naturalisierende Wissensch äst
und Philosophie ein Rückfall auf eine überwundene Entwicklungsstufe, und der
Widerspruch gegen das Christenthum ein Versuch, die Wurzel auszureißen, aus
der unsere Cultur erwachsen ist.

Haben wir bis hierher im wesentlichen unsere Uebereinstimmung mit unserem
Verfasser aussprechen können, so gelangen wir nun zu einem Punkte, wo uns
dies nicht mehr möglich ist. Mariano wirft die Frage auf, ob die historischen
Grundlagen des Christenthums nicht durch die moderne Kritik erschüttert seien,
und beantwortet sie in dem Sinne, daß der Träger des Christenthums nicht
der historische, sondern der ideale Christus sei, dessen Realität, wie das ja auch
Strauß im "Leben Jesu" anerkannt habe, durch keine kritische Zersetzung zerstört
werden könne. Die Art und Weise, wie sich Mariano über diesen Punkt, so¬
wie über das Dogma der Trinität ausspricht, erinnert lebhaft an die Au-
schmieguug an die kirchliche Tradition von Seiten der älteren Hegelschen
Schule, durch welche sie vergeblich die Heterogeneität ihrer und der christlichen
Lehre zu verdecken suchte. Sie verfängt in Deutschland nicht mehr. Das
Christenthum steht und fällt mit dem Glauben, daß der ideale Christus und
der historische Christus in einander, nicht aus einander fallen. Was hilft uns
ein idealer Christus, die Christusidee? Nichts. Er ist nichts anderes als ein
Gesetz, das, unfähig zu erlösen, uns gegenüber steht. "Das Wort ward Fleisch",
dies Zeugniß des Johannes, daß die Idee, das ewige Urbild des Menschen,
in der Persönlichkeit Christi volle geschichtliche Realität gewonnen hat, ist der
Inhalt des Evangeliums, der die alte Welt vernichtet hat und aus der die neue
Welt geboren ist. Bei dieser Gelegenheit berühren wir übriges noch eine andere
Anschauung, in der wir dem Verfasser nicht folgen können. Als Hegelianer
ist ihm die Religion auf Vorstellungen, Symbole und Mythen angewiesen, welche
die Philosophie in die Sphäre des Begriffs erhebt. Auch hiergegen legen wir
Protest ein. Die erkennende Thätigkeit wird von der christlichen Religion selbst
ausgeübt, und jene bleibt keineswegs in Vorstellungen stehen, welche eines Er¬
satzes durch den Begriff bedürfen. Gewiß erkennt die christliche Religion nicht


und Geschichte. Es würde leicht sein, den Nachweis dafür im einzelnen zu
geben; wir verzichten darauf nur, weil uns eine solche Darlegung zu weit ab¬
lenken würde. Auch für die Behauptung Marianos, der wir übrigens beistim¬
men, daß die Naturwissenschaften ihre gegenwärtige Blüthe dein Christenthum
danken, vermissen wir die tiefere Begründung. Auch hier finden wir im Be¬
griffe der Freiheit das lösende Wort. Der seiner Freiheit, seiner Gottebenbild¬
lichkeit, seiner Erhabenheit über die Natur sich bewußte Mensch besitzt in diesem
Bewußtsein die höchsten Motive, diese Idee der Freiheit in der intellectuellen
Aneignung, in der materiellen Unterwerfung der Natur zu realisiren. Und so
ist uns eine naturalisirende Kunst und Poesie, eine naturalisierende Wissensch äst
und Philosophie ein Rückfall auf eine überwundene Entwicklungsstufe, und der
Widerspruch gegen das Christenthum ein Versuch, die Wurzel auszureißen, aus
der unsere Cultur erwachsen ist.

Haben wir bis hierher im wesentlichen unsere Uebereinstimmung mit unserem
Verfasser aussprechen können, so gelangen wir nun zu einem Punkte, wo uns
dies nicht mehr möglich ist. Mariano wirft die Frage auf, ob die historischen
Grundlagen des Christenthums nicht durch die moderne Kritik erschüttert seien,
und beantwortet sie in dem Sinne, daß der Träger des Christenthums nicht
der historische, sondern der ideale Christus sei, dessen Realität, wie das ja auch
Strauß im „Leben Jesu" anerkannt habe, durch keine kritische Zersetzung zerstört
werden könne. Die Art und Weise, wie sich Mariano über diesen Punkt, so¬
wie über das Dogma der Trinität ausspricht, erinnert lebhaft an die Au-
schmieguug an die kirchliche Tradition von Seiten der älteren Hegelschen
Schule, durch welche sie vergeblich die Heterogeneität ihrer und der christlichen
Lehre zu verdecken suchte. Sie verfängt in Deutschland nicht mehr. Das
Christenthum steht und fällt mit dem Glauben, daß der ideale Christus und
der historische Christus in einander, nicht aus einander fallen. Was hilft uns
ein idealer Christus, die Christusidee? Nichts. Er ist nichts anderes als ein
Gesetz, das, unfähig zu erlösen, uns gegenüber steht. „Das Wort ward Fleisch",
dies Zeugniß des Johannes, daß die Idee, das ewige Urbild des Menschen,
in der Persönlichkeit Christi volle geschichtliche Realität gewonnen hat, ist der
Inhalt des Evangeliums, der die alte Welt vernichtet hat und aus der die neue
Welt geboren ist. Bei dieser Gelegenheit berühren wir übriges noch eine andere
Anschauung, in der wir dem Verfasser nicht folgen können. Als Hegelianer
ist ihm die Religion auf Vorstellungen, Symbole und Mythen angewiesen, welche
die Philosophie in die Sphäre des Begriffs erhebt. Auch hiergegen legen wir
Protest ein. Die erkennende Thätigkeit wird von der christlichen Religion selbst
ausgeübt, und jene bleibt keineswegs in Vorstellungen stehen, welche eines Er¬
satzes durch den Begriff bedürfen. Gewiß erkennt die christliche Religion nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0518" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147612"/>
          <p xml:id="ID_1433" prev="#ID_1432"> und Geschichte. Es würde leicht sein, den Nachweis dafür im einzelnen zu<lb/>
geben; wir verzichten darauf nur, weil uns eine solche Darlegung zu weit ab¬<lb/>
lenken würde. Auch für die Behauptung Marianos, der wir übrigens beistim¬<lb/>
men, daß die Naturwissenschaften ihre gegenwärtige Blüthe dein Christenthum<lb/>
danken, vermissen wir die tiefere Begründung. Auch hier finden wir im Be¬<lb/>
griffe der Freiheit das lösende Wort. Der seiner Freiheit, seiner Gottebenbild¬<lb/>
lichkeit, seiner Erhabenheit über die Natur sich bewußte Mensch besitzt in diesem<lb/>
Bewußtsein die höchsten Motive, diese Idee der Freiheit in der intellectuellen<lb/>
Aneignung, in der materiellen Unterwerfung der Natur zu realisiren. Und so<lb/>
ist uns eine naturalisirende Kunst und Poesie, eine naturalisierende Wissensch äst<lb/>
und Philosophie ein Rückfall auf eine überwundene Entwicklungsstufe, und der<lb/>
Widerspruch gegen das Christenthum ein Versuch, die Wurzel auszureißen, aus<lb/>
der unsere Cultur erwachsen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1434" next="#ID_1435"> Haben wir bis hierher im wesentlichen unsere Uebereinstimmung mit unserem<lb/>
Verfasser aussprechen können, so gelangen wir nun zu einem Punkte, wo uns<lb/>
dies nicht mehr möglich ist. Mariano wirft die Frage auf, ob die historischen<lb/>
Grundlagen des Christenthums nicht durch die moderne Kritik erschüttert seien,<lb/>
und beantwortet sie in dem Sinne, daß der Träger des Christenthums nicht<lb/>
der historische, sondern der ideale Christus sei, dessen Realität, wie das ja auch<lb/>
Strauß im &#x201E;Leben Jesu" anerkannt habe, durch keine kritische Zersetzung zerstört<lb/>
werden könne. Die Art und Weise, wie sich Mariano über diesen Punkt, so¬<lb/>
wie über das Dogma der Trinität ausspricht, erinnert lebhaft an die Au-<lb/>
schmieguug an die kirchliche Tradition von Seiten der älteren Hegelschen<lb/>
Schule, durch welche sie vergeblich die Heterogeneität ihrer und der christlichen<lb/>
Lehre zu verdecken suchte. Sie verfängt in Deutschland nicht mehr. Das<lb/>
Christenthum steht und fällt mit dem Glauben, daß der ideale Christus und<lb/>
der historische Christus in einander, nicht aus einander fallen. Was hilft uns<lb/>
ein idealer Christus, die Christusidee? Nichts. Er ist nichts anderes als ein<lb/>
Gesetz, das, unfähig zu erlösen, uns gegenüber steht. &#x201E;Das Wort ward Fleisch",<lb/>
dies Zeugniß des Johannes, daß die Idee, das ewige Urbild des Menschen,<lb/>
in der Persönlichkeit Christi volle geschichtliche Realität gewonnen hat, ist der<lb/>
Inhalt des Evangeliums, der die alte Welt vernichtet hat und aus der die neue<lb/>
Welt geboren ist. Bei dieser Gelegenheit berühren wir übriges noch eine andere<lb/>
Anschauung, in der wir dem Verfasser nicht folgen können. Als Hegelianer<lb/>
ist ihm die Religion auf Vorstellungen, Symbole und Mythen angewiesen, welche<lb/>
die Philosophie in die Sphäre des Begriffs erhebt. Auch hiergegen legen wir<lb/>
Protest ein. Die erkennende Thätigkeit wird von der christlichen Religion selbst<lb/>
ausgeübt, und jene bleibt keineswegs in Vorstellungen stehen, welche eines Er¬<lb/>
satzes durch den Begriff bedürfen. Gewiß erkennt die christliche Religion nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0518] und Geschichte. Es würde leicht sein, den Nachweis dafür im einzelnen zu geben; wir verzichten darauf nur, weil uns eine solche Darlegung zu weit ab¬ lenken würde. Auch für die Behauptung Marianos, der wir übrigens beistim¬ men, daß die Naturwissenschaften ihre gegenwärtige Blüthe dein Christenthum danken, vermissen wir die tiefere Begründung. Auch hier finden wir im Be¬ griffe der Freiheit das lösende Wort. Der seiner Freiheit, seiner Gottebenbild¬ lichkeit, seiner Erhabenheit über die Natur sich bewußte Mensch besitzt in diesem Bewußtsein die höchsten Motive, diese Idee der Freiheit in der intellectuellen Aneignung, in der materiellen Unterwerfung der Natur zu realisiren. Und so ist uns eine naturalisirende Kunst und Poesie, eine naturalisierende Wissensch äst und Philosophie ein Rückfall auf eine überwundene Entwicklungsstufe, und der Widerspruch gegen das Christenthum ein Versuch, die Wurzel auszureißen, aus der unsere Cultur erwachsen ist. Haben wir bis hierher im wesentlichen unsere Uebereinstimmung mit unserem Verfasser aussprechen können, so gelangen wir nun zu einem Punkte, wo uns dies nicht mehr möglich ist. Mariano wirft die Frage auf, ob die historischen Grundlagen des Christenthums nicht durch die moderne Kritik erschüttert seien, und beantwortet sie in dem Sinne, daß der Träger des Christenthums nicht der historische, sondern der ideale Christus sei, dessen Realität, wie das ja auch Strauß im „Leben Jesu" anerkannt habe, durch keine kritische Zersetzung zerstört werden könne. Die Art und Weise, wie sich Mariano über diesen Punkt, so¬ wie über das Dogma der Trinität ausspricht, erinnert lebhaft an die Au- schmieguug an die kirchliche Tradition von Seiten der älteren Hegelschen Schule, durch welche sie vergeblich die Heterogeneität ihrer und der christlichen Lehre zu verdecken suchte. Sie verfängt in Deutschland nicht mehr. Das Christenthum steht und fällt mit dem Glauben, daß der ideale Christus und der historische Christus in einander, nicht aus einander fallen. Was hilft uns ein idealer Christus, die Christusidee? Nichts. Er ist nichts anderes als ein Gesetz, das, unfähig zu erlösen, uns gegenüber steht. „Das Wort ward Fleisch", dies Zeugniß des Johannes, daß die Idee, das ewige Urbild des Menschen, in der Persönlichkeit Christi volle geschichtliche Realität gewonnen hat, ist der Inhalt des Evangeliums, der die alte Welt vernichtet hat und aus der die neue Welt geboren ist. Bei dieser Gelegenheit berühren wir übriges noch eine andere Anschauung, in der wir dem Verfasser nicht folgen können. Als Hegelianer ist ihm die Religion auf Vorstellungen, Symbole und Mythen angewiesen, welche die Philosophie in die Sphäre des Begriffs erhebt. Auch hiergegen legen wir Protest ein. Die erkennende Thätigkeit wird von der christlichen Religion selbst ausgeübt, und jene bleibt keineswegs in Vorstellungen stehen, welche eines Er¬ satzes durch den Begriff bedürfen. Gewiß erkennt die christliche Religion nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/518
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/518>, abgerufen am 23.07.2024.