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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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unausstehlichen Jungen, wäre trostlos, wenn nicht der Maler einen Zug von
Wohlthätigkeit gegen Arme und Bedrückte niederen Standes einmischte.

Vivian hat seine Intrigue dadurch zu krönen, daß er den routinirten Poli¬
tiker Cleveland, der früher von dem Marquis mit Undank behandelt worden und
deshalb tödtlich mit ihm verfeindet ist, bewegt, die Führerschaft der neu zu bil¬
denden Partei zu übernehmen. Der gelungene, ausführlich und genial erzählte
Meisterstreich bringt jedoch für den jungen Glücksritter die Gefahr herauf,
daß eine von ihm verschmähte Glücksritterin, die von ihrem Manne verlassene,
in OdÄteau vösir lebende und auf den Marquis großen Einfluß übende
Schwägerin des Letzteren, eine Baronin deutscher Abkunft, sich mit Cleveland
verständigt, um an Vivian Rache zu üben. Zufällig entdeckt dieser das ge¬
fährliche Verhältniß, erräth den Plan, und da er sie ganz in seine Gewalt be¬
kommen zu haben meint, nöthigt er sie, sich auf unbestimmte Zeit zu entfernen.
Auf Besuch bei einem der wichtigsten Mitglieder der Partei, weiß die Intri¬
gantin diesen gegen Vivian aufzuhetzen, so daß er ein dein Cleveland gegebenes
Versprechen unerfüllt läßt, wodurch dessen Thätigkeit gelähmt und seine Existenz
untergraben wird. Zugleich ist dem Marquis von der Regierung sein Ehren¬
amt genommen. So fällt das ganze Kartenhaus zusammen, und Vivian wird
nun von denen, die an ihn wie an ihren Heiland geglaubt haben, als Schwindler
geschmäht und verstoßen. Er nimmt an der Intrigantin die Rache, daß er sie
durch eine sinnreiche und boshafte Erdichtung, Cleveland betreffend, zum Tode
erschreckt; den letzteren selbst, der ihn unversöhnlich befeindet, erschießt er im
Duell und verfällt darauf in ein langes Hirnsieber, das ständige Hausmittel
der englischen Novellisten, um den Leser aus einer Provinz des Traumlandes
in die andere zu sichren.

Im zweiten Theile (2. und 3. Band) erlebt der genehme Abenteurer in
dem Lande der Romantik, in Deutschland, eine Reihe von Liebes-, Spiel-, Jagd-,
Trinkgelag- und Hofseenen, die aus einer wunderlichen Auswahl von Lectüre
deutscher Romane concivirt erscheinen, wird überall der Liebling und Vertraute
Aller und sinkt zuletzt einer Erzherzogin in die Arme. Ohne Salz und Schmalz,
wie diese Schilderung des Lebens in dem romantischen Wunderlande ist, tritt
sie doch mit der Prätension großer dichterischer Kraft auf, und zum Schluß ist
der höhnende Witz, mit dem der deutsche Hof, der Dresdner, deutlich gekenn¬
zeichnet wird, wieder ein so echt jüdischer Zug, wie sich ihn der libertinste
Gentlemann als Autor nie erlaubt haben würde. Die fürstlichen "Briefe eines
Verstorbenen", gerade nicht das beste aus der Literatur des jungen Deutschlands,
sind in jeder Beziehung golden im Vergleich mit dem "Vivian Grey", mit dem
der Erfinder von Jung-England debütirte.




unausstehlichen Jungen, wäre trostlos, wenn nicht der Maler einen Zug von
Wohlthätigkeit gegen Arme und Bedrückte niederen Standes einmischte.

Vivian hat seine Intrigue dadurch zu krönen, daß er den routinirten Poli¬
tiker Cleveland, der früher von dem Marquis mit Undank behandelt worden und
deshalb tödtlich mit ihm verfeindet ist, bewegt, die Führerschaft der neu zu bil¬
denden Partei zu übernehmen. Der gelungene, ausführlich und genial erzählte
Meisterstreich bringt jedoch für den jungen Glücksritter die Gefahr herauf,
daß eine von ihm verschmähte Glücksritterin, die von ihrem Manne verlassene,
in OdÄteau vösir lebende und auf den Marquis großen Einfluß übende
Schwägerin des Letzteren, eine Baronin deutscher Abkunft, sich mit Cleveland
verständigt, um an Vivian Rache zu üben. Zufällig entdeckt dieser das ge¬
fährliche Verhältniß, erräth den Plan, und da er sie ganz in seine Gewalt be¬
kommen zu haben meint, nöthigt er sie, sich auf unbestimmte Zeit zu entfernen.
Auf Besuch bei einem der wichtigsten Mitglieder der Partei, weiß die Intri¬
gantin diesen gegen Vivian aufzuhetzen, so daß er ein dein Cleveland gegebenes
Versprechen unerfüllt läßt, wodurch dessen Thätigkeit gelähmt und seine Existenz
untergraben wird. Zugleich ist dem Marquis von der Regierung sein Ehren¬
amt genommen. So fällt das ganze Kartenhaus zusammen, und Vivian wird
nun von denen, die an ihn wie an ihren Heiland geglaubt haben, als Schwindler
geschmäht und verstoßen. Er nimmt an der Intrigantin die Rache, daß er sie
durch eine sinnreiche und boshafte Erdichtung, Cleveland betreffend, zum Tode
erschreckt; den letzteren selbst, der ihn unversöhnlich befeindet, erschießt er im
Duell und verfällt darauf in ein langes Hirnsieber, das ständige Hausmittel
der englischen Novellisten, um den Leser aus einer Provinz des Traumlandes
in die andere zu sichren.

Im zweiten Theile (2. und 3. Band) erlebt der genehme Abenteurer in
dem Lande der Romantik, in Deutschland, eine Reihe von Liebes-, Spiel-, Jagd-,
Trinkgelag- und Hofseenen, die aus einer wunderlichen Auswahl von Lectüre
deutscher Romane concivirt erscheinen, wird überall der Liebling und Vertraute
Aller und sinkt zuletzt einer Erzherzogin in die Arme. Ohne Salz und Schmalz,
wie diese Schilderung des Lebens in dem romantischen Wunderlande ist, tritt
sie doch mit der Prätension großer dichterischer Kraft auf, und zum Schluß ist
der höhnende Witz, mit dem der deutsche Hof, der Dresdner, deutlich gekenn¬
zeichnet wird, wieder ein so echt jüdischer Zug, wie sich ihn der libertinste
Gentlemann als Autor nie erlaubt haben würde. Die fürstlichen „Briefe eines
Verstorbenen", gerade nicht das beste aus der Literatur des jungen Deutschlands,
sind in jeder Beziehung golden im Vergleich mit dem „Vivian Grey", mit dem
der Erfinder von Jung-England debütirte.




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[0481] unausstehlichen Jungen, wäre trostlos, wenn nicht der Maler einen Zug von Wohlthätigkeit gegen Arme und Bedrückte niederen Standes einmischte. Vivian hat seine Intrigue dadurch zu krönen, daß er den routinirten Poli¬ tiker Cleveland, der früher von dem Marquis mit Undank behandelt worden und deshalb tödtlich mit ihm verfeindet ist, bewegt, die Führerschaft der neu zu bil¬ denden Partei zu übernehmen. Der gelungene, ausführlich und genial erzählte Meisterstreich bringt jedoch für den jungen Glücksritter die Gefahr herauf, daß eine von ihm verschmähte Glücksritterin, die von ihrem Manne verlassene, in OdÄteau vösir lebende und auf den Marquis großen Einfluß übende Schwägerin des Letzteren, eine Baronin deutscher Abkunft, sich mit Cleveland verständigt, um an Vivian Rache zu üben. Zufällig entdeckt dieser das ge¬ fährliche Verhältniß, erräth den Plan, und da er sie ganz in seine Gewalt be¬ kommen zu haben meint, nöthigt er sie, sich auf unbestimmte Zeit zu entfernen. Auf Besuch bei einem der wichtigsten Mitglieder der Partei, weiß die Intri¬ gantin diesen gegen Vivian aufzuhetzen, so daß er ein dein Cleveland gegebenes Versprechen unerfüllt läßt, wodurch dessen Thätigkeit gelähmt und seine Existenz untergraben wird. Zugleich ist dem Marquis von der Regierung sein Ehren¬ amt genommen. So fällt das ganze Kartenhaus zusammen, und Vivian wird nun von denen, die an ihn wie an ihren Heiland geglaubt haben, als Schwindler geschmäht und verstoßen. Er nimmt an der Intrigantin die Rache, daß er sie durch eine sinnreiche und boshafte Erdichtung, Cleveland betreffend, zum Tode erschreckt; den letzteren selbst, der ihn unversöhnlich befeindet, erschießt er im Duell und verfällt darauf in ein langes Hirnsieber, das ständige Hausmittel der englischen Novellisten, um den Leser aus einer Provinz des Traumlandes in die andere zu sichren. Im zweiten Theile (2. und 3. Band) erlebt der genehme Abenteurer in dem Lande der Romantik, in Deutschland, eine Reihe von Liebes-, Spiel-, Jagd-, Trinkgelag- und Hofseenen, die aus einer wunderlichen Auswahl von Lectüre deutscher Romane concivirt erscheinen, wird überall der Liebling und Vertraute Aller und sinkt zuletzt einer Erzherzogin in die Arme. Ohne Salz und Schmalz, wie diese Schilderung des Lebens in dem romantischen Wunderlande ist, tritt sie doch mit der Prätension großer dichterischer Kraft auf, und zum Schluß ist der höhnende Witz, mit dem der deutsche Hof, der Dresdner, deutlich gekenn¬ zeichnet wird, wieder ein so echt jüdischer Zug, wie sich ihn der libertinste Gentlemann als Autor nie erlaubt haben würde. Die fürstlichen „Briefe eines Verstorbenen", gerade nicht das beste aus der Literatur des jungen Deutschlands, sind in jeder Beziehung golden im Vergleich mit dem „Vivian Grey", mit dem der Erfinder von Jung-England debütirte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/481>, abgerufen am 23.07.2024.