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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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seine ersten Schuljahre verbringt und wo er bald durch die Bestimmtheit seines
frühreifen Wesens der tonangebende Kamerad ist. Als solcher verleitet er die
älteren Schüler, ihren Abgang, welcher bevorsteht, durch eine Vorfeier zu feiern,
durch welche ein Schulgesetz übertrete" wird. Der als Classenspion fungirende
Mitschüler, der ihm nicht gewogen ist, verräth ihn dem Schulherrn, und er wird
von diesem seinen Mitschülern als ein gefährliches Subject vorgestellt; sie lassen
sich warnen und meiden ihn. Dennoch kehrt er, wider aller Erwarten, aus
den Ferien auf die Anstalt zurück: er hat an den Verräther und seine feigen
Mitschüler eine Schuld zu bezahlen. Jenen macht er durch Gefälligkeiten und
Schmeichelei kirre und hetzt ihn auf, sein Aufseheramt gegen die anderen un¬
nachsichtig zu üben, bis die Schüler der Plackerei überdrüssig werden und sich
verabreden ihn exemplarisch zu züchtigen. Sie thun dies, indem sie eines schönen
Morgens in Vivians Gegenwart, der sie ausdrücklich dazu ermuthigt, über ihn
herfallen; der dem Gequälten zu Hilfe eilende Lehrer findet die Thüre ver¬
schlossen. Als Vivian meint, daß der Spion genug "besehen" habe, öffnet er
die Thüre und nimmt mit schnödem Gruße Abschied.

Ins Vaterhaus zurückgekehrt, wirft er sich mit glühenden Eifer autodidac-
tisch auf das Studium der Alten, kommt von den Geschichtschreibern zu den
Philosophen und ist bald im Plato bequem zu Hanse. Als er dann anch, um
des Wissens Ziel zu erreichen, die Neuplatoniker in Angriff nimmt, warnt ihn
sein weiser Vater*): er werde nicht finden, was er suche, und der Jüngling
theilt von da an seine Zeit zwischen dem Studium der Bücher und demjenigen
der Gesellschaft. In dieser wird er von den gereiften Weibern verhätschelt, die
durch seine Mischung von Dreistigkeit und Scheu angezogen worden; er lernt
mit Herzen zu spielen, und es geht ihm die Ahnung auf, daß er vou Natur
dazu bestimmt sei, über Andere zu herrschen. Er sagt sich: Um in die hohe
und einflußreiche Gesellschaft zu kommen, muß man entweder Blut oder Mam¬
mon oder Genie haben; das letztere habe er, jene nicht. Er studirt daher, da
er für Oxford viel zu reif ist, unter seinem Vater Politik, und ein Beweis seiner
genialen Natur wird darin gesunden, daß er, ohne den Schliff eines akademi¬
schen Umgangs erhalten zu haben, sich später in hochadliger Gesellschaft wie den
vollkommensten Weltmann darzustellen weiß. Während er so im Umgange mit
Büchern und mit Weibern sich zum fertigen Zungendrescher und dialectischer
Klopffechter ausbildet, stört ihn eine Weile die Wahrnehmung, daß dem Reich¬
thum doch eine ungeheuere Gewalt über die Menge beiwohne, und er schwankt,



*) Benjamins Vater Jsaak Disraeli, Verfasser der Vnrio8illos ot l.nei'"ore, eine in
literarischen Kreisen wohlbekannte Persönlichkeit, ging, weil er sich mit der Judengemeinde
nicht vertragen konnte, zum Christenthum über.

seine ersten Schuljahre verbringt und wo er bald durch die Bestimmtheit seines
frühreifen Wesens der tonangebende Kamerad ist. Als solcher verleitet er die
älteren Schüler, ihren Abgang, welcher bevorsteht, durch eine Vorfeier zu feiern,
durch welche ein Schulgesetz übertrete» wird. Der als Classenspion fungirende
Mitschüler, der ihm nicht gewogen ist, verräth ihn dem Schulherrn, und er wird
von diesem seinen Mitschülern als ein gefährliches Subject vorgestellt; sie lassen
sich warnen und meiden ihn. Dennoch kehrt er, wider aller Erwarten, aus
den Ferien auf die Anstalt zurück: er hat an den Verräther und seine feigen
Mitschüler eine Schuld zu bezahlen. Jenen macht er durch Gefälligkeiten und
Schmeichelei kirre und hetzt ihn auf, sein Aufseheramt gegen die anderen un¬
nachsichtig zu üben, bis die Schüler der Plackerei überdrüssig werden und sich
verabreden ihn exemplarisch zu züchtigen. Sie thun dies, indem sie eines schönen
Morgens in Vivians Gegenwart, der sie ausdrücklich dazu ermuthigt, über ihn
herfallen; der dem Gequälten zu Hilfe eilende Lehrer findet die Thüre ver¬
schlossen. Als Vivian meint, daß der Spion genug „besehen" habe, öffnet er
die Thüre und nimmt mit schnödem Gruße Abschied.

Ins Vaterhaus zurückgekehrt, wirft er sich mit glühenden Eifer autodidac-
tisch auf das Studium der Alten, kommt von den Geschichtschreibern zu den
Philosophen und ist bald im Plato bequem zu Hanse. Als er dann anch, um
des Wissens Ziel zu erreichen, die Neuplatoniker in Angriff nimmt, warnt ihn
sein weiser Vater*): er werde nicht finden, was er suche, und der Jüngling
theilt von da an seine Zeit zwischen dem Studium der Bücher und demjenigen
der Gesellschaft. In dieser wird er von den gereiften Weibern verhätschelt, die
durch seine Mischung von Dreistigkeit und Scheu angezogen worden; er lernt
mit Herzen zu spielen, und es geht ihm die Ahnung auf, daß er vou Natur
dazu bestimmt sei, über Andere zu herrschen. Er sagt sich: Um in die hohe
und einflußreiche Gesellschaft zu kommen, muß man entweder Blut oder Mam¬
mon oder Genie haben; das letztere habe er, jene nicht. Er studirt daher, da
er für Oxford viel zu reif ist, unter seinem Vater Politik, und ein Beweis seiner
genialen Natur wird darin gesunden, daß er, ohne den Schliff eines akademi¬
schen Umgangs erhalten zu haben, sich später in hochadliger Gesellschaft wie den
vollkommensten Weltmann darzustellen weiß. Während er so im Umgange mit
Büchern und mit Weibern sich zum fertigen Zungendrescher und dialectischer
Klopffechter ausbildet, stört ihn eine Weile die Wahrnehmung, daß dem Reich¬
thum doch eine ungeheuere Gewalt über die Menge beiwohne, und er schwankt,



*) Benjamins Vater Jsaak Disraeli, Verfasser der Vnrio8illos ot l.nei'»ore, eine in
literarischen Kreisen wohlbekannte Persönlichkeit, ging, weil er sich mit der Judengemeinde
nicht vertragen konnte, zum Christenthum über.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/479>, abgerufen am 23.07.2024.