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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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mühsam erzogene Partei ist im Zerfallen begriffen, da sie nicht mehr einem
Führer gehorcht, und die großmächtigen Tories sind nur noch ärgerliche Obstruc-
tionisten. Das neue Werk des dichtenden Politikers wird sicherlich wie seine
früheren Werke nur dazu helfen, die Verblendung und Geistesverwirrung der
Seinigen zu vergrößern.

Der "Violen Grey", dessen erster Band anonym 1826 erschien, als der
Verfasser zwanzig Jahre alt war und seit neun Jahren durch die Taufe der
englischen Staatskirche angehörte, erregte durch die Keckheit des Cynismus, wo¬
mit er verfaßt war, so viel Aufsehen, daß in einem Jahre acht Auflagen und
von dein dazu gehörenden Schlüssel zur Aufklärung über die betreffenden Per¬
sönlichkeiten zehn Auflagen nöthig wurden. Im folgenden Jahre 1827 wurde
er durch zwei Bände vervollständigt, die dem neugierig gemachten England den
Namen des Verfassers verkündigten. Der erste Theil ist eine ächte Gilblasiade,
geschrieben mit dem Weltverstand, der Munterkeit und moralischen Unverfroren¬
heit des französisches Vorbildes. Der Verfasser beschreibt theils Erlebtes, theils
was er zu erleben denkt oder hofft. Aeußerlich ist darin vom Judenthum nie
die Rede, das Wort Jude wird selbst sorglich vermieden, auf Kirche und Be¬
kenntniß nirgends reflectirt, aber die ganze Darstellung riecht so zu sagen nach
Knoblauch, und als idealer politischer Abenteurer kommt der ausgesprochenste
Judenjunge heraus. Der zweite, zweibändige Theil ist ganz phantastisch" und
wenn er nicht einer bloßen Erwerbsspeeulatiou, gegründet auf das Aussehn des
ersten Theiles, seine überwiegende Länge verdankt, so will der Autor seinen
Allspruch aus poetische Begabung erhärten und uns zeigen, was für ein roman¬
tischer Dichter er ist. Die Versuche, die er hier macht, humoristisch, drollig und
komisch zu sein, passen jedoch schlecht zu dem altklugen Gesicht, und um mit
Charles Lever zu wetteifern, besaß er nicht die Gabe desselben, sich an der
bunten Mannigfaltigkeit der Welt mit sympathischen Verständniß zu freuen und
den genialischer Naturen tief ins Herz zu sehen. Wenn man findet, daß
Disraeli sich im "Violen Grey" selbst schildert, so ist das nur wahr in Betreff
seines Charakters, seiner Strebungen und des Erfolges, mit dem er den ehr¬
geizigen und gewissenlosen Cyniker auf die stumpfsinnige Lethargie abgelebter
Politiker wirkend darstellt. Des Verfassers eigene Erlebnisse waren, wie man
weiß, mehr vom Schlage der ordinären Alltäglichkeit (Kuinäruni), als vom
genialen Unsinn (KrundaA). Die Welt ist beiden eine Auster, und der Witz das
Messer, um sie zu öffnen; aber Violen verschmäht, diesen Witz zur Schließung
einer Ehe zu gebrauchen, die ihn in die geforderte gesellschaftliche Sphäre ver¬
setzen könnte, während Benjamin dies Mittel für seine Zwecke nicht verschmähte.

Der junge Violen verrichtet seine erste Heldenthat auf eine den empfind¬
lichen und rachsüchtigem Juden charakterisirende Weise in der Pension, wo er


Greuzlwton IN, Iss0. öl

mühsam erzogene Partei ist im Zerfallen begriffen, da sie nicht mehr einem
Führer gehorcht, und die großmächtigen Tories sind nur noch ärgerliche Obstruc-
tionisten. Das neue Werk des dichtenden Politikers wird sicherlich wie seine
früheren Werke nur dazu helfen, die Verblendung und Geistesverwirrung der
Seinigen zu vergrößern.

Der „Violen Grey", dessen erster Band anonym 1826 erschien, als der
Verfasser zwanzig Jahre alt war und seit neun Jahren durch die Taufe der
englischen Staatskirche angehörte, erregte durch die Keckheit des Cynismus, wo¬
mit er verfaßt war, so viel Aufsehen, daß in einem Jahre acht Auflagen und
von dein dazu gehörenden Schlüssel zur Aufklärung über die betreffenden Per¬
sönlichkeiten zehn Auflagen nöthig wurden. Im folgenden Jahre 1827 wurde
er durch zwei Bände vervollständigt, die dem neugierig gemachten England den
Namen des Verfassers verkündigten. Der erste Theil ist eine ächte Gilblasiade,
geschrieben mit dem Weltverstand, der Munterkeit und moralischen Unverfroren¬
heit des französisches Vorbildes. Der Verfasser beschreibt theils Erlebtes, theils
was er zu erleben denkt oder hofft. Aeußerlich ist darin vom Judenthum nie
die Rede, das Wort Jude wird selbst sorglich vermieden, auf Kirche und Be¬
kenntniß nirgends reflectirt, aber die ganze Darstellung riecht so zu sagen nach
Knoblauch, und als idealer politischer Abenteurer kommt der ausgesprochenste
Judenjunge heraus. Der zweite, zweibändige Theil ist ganz phantastisch» und
wenn er nicht einer bloßen Erwerbsspeeulatiou, gegründet auf das Aussehn des
ersten Theiles, seine überwiegende Länge verdankt, so will der Autor seinen
Allspruch aus poetische Begabung erhärten und uns zeigen, was für ein roman¬
tischer Dichter er ist. Die Versuche, die er hier macht, humoristisch, drollig und
komisch zu sein, passen jedoch schlecht zu dem altklugen Gesicht, und um mit
Charles Lever zu wetteifern, besaß er nicht die Gabe desselben, sich an der
bunten Mannigfaltigkeit der Welt mit sympathischen Verständniß zu freuen und
den genialischer Naturen tief ins Herz zu sehen. Wenn man findet, daß
Disraeli sich im „Violen Grey" selbst schildert, so ist das nur wahr in Betreff
seines Charakters, seiner Strebungen und des Erfolges, mit dem er den ehr¬
geizigen und gewissenlosen Cyniker auf die stumpfsinnige Lethargie abgelebter
Politiker wirkend darstellt. Des Verfassers eigene Erlebnisse waren, wie man
weiß, mehr vom Schlage der ordinären Alltäglichkeit (Kuinäruni), als vom
genialen Unsinn (KrundaA). Die Welt ist beiden eine Auster, und der Witz das
Messer, um sie zu öffnen; aber Violen verschmäht, diesen Witz zur Schließung
einer Ehe zu gebrauchen, die ihn in die geforderte gesellschaftliche Sphäre ver¬
setzen könnte, während Benjamin dies Mittel für seine Zwecke nicht verschmähte.

Der junge Violen verrichtet seine erste Heldenthat auf eine den empfind¬
lichen und rachsüchtigem Juden charakterisirende Weise in der Pension, wo er


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[0478] mühsam erzogene Partei ist im Zerfallen begriffen, da sie nicht mehr einem Führer gehorcht, und die großmächtigen Tories sind nur noch ärgerliche Obstruc- tionisten. Das neue Werk des dichtenden Politikers wird sicherlich wie seine früheren Werke nur dazu helfen, die Verblendung und Geistesverwirrung der Seinigen zu vergrößern. Der „Violen Grey", dessen erster Band anonym 1826 erschien, als der Verfasser zwanzig Jahre alt war und seit neun Jahren durch die Taufe der englischen Staatskirche angehörte, erregte durch die Keckheit des Cynismus, wo¬ mit er verfaßt war, so viel Aufsehen, daß in einem Jahre acht Auflagen und von dein dazu gehörenden Schlüssel zur Aufklärung über die betreffenden Per¬ sönlichkeiten zehn Auflagen nöthig wurden. Im folgenden Jahre 1827 wurde er durch zwei Bände vervollständigt, die dem neugierig gemachten England den Namen des Verfassers verkündigten. Der erste Theil ist eine ächte Gilblasiade, geschrieben mit dem Weltverstand, der Munterkeit und moralischen Unverfroren¬ heit des französisches Vorbildes. Der Verfasser beschreibt theils Erlebtes, theils was er zu erleben denkt oder hofft. Aeußerlich ist darin vom Judenthum nie die Rede, das Wort Jude wird selbst sorglich vermieden, auf Kirche und Be¬ kenntniß nirgends reflectirt, aber die ganze Darstellung riecht so zu sagen nach Knoblauch, und als idealer politischer Abenteurer kommt der ausgesprochenste Judenjunge heraus. Der zweite, zweibändige Theil ist ganz phantastisch» und wenn er nicht einer bloßen Erwerbsspeeulatiou, gegründet auf das Aussehn des ersten Theiles, seine überwiegende Länge verdankt, so will der Autor seinen Allspruch aus poetische Begabung erhärten und uns zeigen, was für ein roman¬ tischer Dichter er ist. Die Versuche, die er hier macht, humoristisch, drollig und komisch zu sein, passen jedoch schlecht zu dem altklugen Gesicht, und um mit Charles Lever zu wetteifern, besaß er nicht die Gabe desselben, sich an der bunten Mannigfaltigkeit der Welt mit sympathischen Verständniß zu freuen und den genialischer Naturen tief ins Herz zu sehen. Wenn man findet, daß Disraeli sich im „Violen Grey" selbst schildert, so ist das nur wahr in Betreff seines Charakters, seiner Strebungen und des Erfolges, mit dem er den ehr¬ geizigen und gewissenlosen Cyniker auf die stumpfsinnige Lethargie abgelebter Politiker wirkend darstellt. Des Verfassers eigene Erlebnisse waren, wie man weiß, mehr vom Schlage der ordinären Alltäglichkeit (Kuinäruni), als vom genialen Unsinn (KrundaA). Die Welt ist beiden eine Auster, und der Witz das Messer, um sie zu öffnen; aber Violen verschmäht, diesen Witz zur Schließung einer Ehe zu gebrauchen, die ihn in die geforderte gesellschaftliche Sphäre ver¬ setzen könnte, während Benjamin dies Mittel für seine Zwecke nicht verschmähte. Der junge Violen verrichtet seine erste Heldenthat auf eine den empfind¬ lichen und rachsüchtigem Juden charakterisirende Weise in der Pension, wo er Greuzlwton IN, Iss0. öl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/478>, abgerufen am 23.07.2024.