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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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fragen wird, wie es nur möglich war, daß diese disparaten Agentien so lange
in einem Topfe zusammenliegen konnten, ohne ihn zu sprengen.

Eine hervorragende Figur in dem historischen Gewebe wird dann neben
den ernsten Größen unserer Zeit jedenfalls der jetzige Lord Beacousfield bilden,
der hoffentlich für immer verflossene englische Ministerpremier, und es wird
ohne Berücksichtigung der Zerstörung, welche Darwinismus und Spiritismus in
dem Gehirn der vorgeschrittenen englischen Gesellschaft angerichtet haben, uner¬
klärlich sein, wie eine für das Lächerliche so fein empfindliche Nation sich so
viele Jahre von einem romantischen Schwindler hat am Narrenseile führen lassen
können. Uns Gegenwärtigen, die wir die volle Wucht der Gewalten der Un¬
vernunft sehend empfinden, muß sich aus dem Jüngsterlebten lebhaft der Ge¬
danke aufdrängen, daß an der vielgerühmten britischen Freiheit doch Vieles faul
sein muß, da ein politischer Abenteurer es so leicht hatte, die Nation bis dicht
an den Rand der Revolution zu führen, daß die schönsten Formen des Staats¬
lebens ohne moralische Gesundheit des Volkes nichtig sind, und daß am Ende
diejenige Nation am besten fährt, die einen geschickten, rechtschaffenen und feinem
Vaterlande treu ergebenen Mann mit ziemlich discretionärer Gewalt über sich
schalten läßt, zugleich aber die Kraft besitzt, einen ungeschickten, unehrlichen und
unpatriotischen Lenker rasch aus dem Sattel zu werfen.

Es hat nicht leicht ein Politiker mit fo viel selbstbewußter, anmaßlicher
Aufrichtigkeit die Geheimnisse seines Busens ausgeplaudert, wie Disraeli in
seinen poetischen Schriften, und man hat daher längst mit Recht einen Schlüssel
zu seinen politischen Phantasmagorien in seinen Romanen zu finden geglaubt.
Nur darin dürste man sich geirrt haben, daß der Dichter Disraeli nur im
Dienste des Staatsmanns Disraeli gearbeitet, imaginirt und geschrieben habe,
als wenn der praktische und klarsichtige Politiker seine Ideen und Pläne, um
sie populär zu machen, nur in ein romantisches Gewand gekleidet hätte. Viel¬
mehr ist das Sachverhältniß dieses, daß der romantische Phantast vielfach den
praktischen Politiker beherrschte, ihm seine Bahnen anwies und ihn in allen
Unternehmungen durchdrang; darin gerade besteht die Eigenthümlichkeit dieses
Mannes, daß er eine Combination von dichterischem Genie und genialen Staats¬
mann zu sein glaubte. Der Ruhm Cäsars und Friedrichs des Großen, die
zugleich Feldherrn, Staatsmänner und Schriftsteller waren, Goethes, der sich
ein Stück der Landesregierung nach dem anderen über die Schultern hängen
ließ, hat Disraeli nicht schlafen lassen, und seine Einsicht war nicht groß genug,
um zu erkennen, daß Cäsar und Friedrich ebenso mittelmäßige Schriftsteller
waren, als Goethe ein mittelmäßiger Staatsmann war. Ueberdies decken sich
der Politiker und der Romanschreiber Disraeli nicht so genau, wie man anzu¬
nehmen geneigt ist; in seinen späteren Jahren schwand die Lust und die Fabig-


fragen wird, wie es nur möglich war, daß diese disparaten Agentien so lange
in einem Topfe zusammenliegen konnten, ohne ihn zu sprengen.

Eine hervorragende Figur in dem historischen Gewebe wird dann neben
den ernsten Größen unserer Zeit jedenfalls der jetzige Lord Beacousfield bilden,
der hoffentlich für immer verflossene englische Ministerpremier, und es wird
ohne Berücksichtigung der Zerstörung, welche Darwinismus und Spiritismus in
dem Gehirn der vorgeschrittenen englischen Gesellschaft angerichtet haben, uner¬
klärlich sein, wie eine für das Lächerliche so fein empfindliche Nation sich so
viele Jahre von einem romantischen Schwindler hat am Narrenseile führen lassen
können. Uns Gegenwärtigen, die wir die volle Wucht der Gewalten der Un¬
vernunft sehend empfinden, muß sich aus dem Jüngsterlebten lebhaft der Ge¬
danke aufdrängen, daß an der vielgerühmten britischen Freiheit doch Vieles faul
sein muß, da ein politischer Abenteurer es so leicht hatte, die Nation bis dicht
an den Rand der Revolution zu führen, daß die schönsten Formen des Staats¬
lebens ohne moralische Gesundheit des Volkes nichtig sind, und daß am Ende
diejenige Nation am besten fährt, die einen geschickten, rechtschaffenen und feinem
Vaterlande treu ergebenen Mann mit ziemlich discretionärer Gewalt über sich
schalten läßt, zugleich aber die Kraft besitzt, einen ungeschickten, unehrlichen und
unpatriotischen Lenker rasch aus dem Sattel zu werfen.

Es hat nicht leicht ein Politiker mit fo viel selbstbewußter, anmaßlicher
Aufrichtigkeit die Geheimnisse seines Busens ausgeplaudert, wie Disraeli in
seinen poetischen Schriften, und man hat daher längst mit Recht einen Schlüssel
zu seinen politischen Phantasmagorien in seinen Romanen zu finden geglaubt.
Nur darin dürste man sich geirrt haben, daß der Dichter Disraeli nur im
Dienste des Staatsmanns Disraeli gearbeitet, imaginirt und geschrieben habe,
als wenn der praktische und klarsichtige Politiker seine Ideen und Pläne, um
sie populär zu machen, nur in ein romantisches Gewand gekleidet hätte. Viel¬
mehr ist das Sachverhältniß dieses, daß der romantische Phantast vielfach den
praktischen Politiker beherrschte, ihm seine Bahnen anwies und ihn in allen
Unternehmungen durchdrang; darin gerade besteht die Eigenthümlichkeit dieses
Mannes, daß er eine Combination von dichterischem Genie und genialen Staats¬
mann zu sein glaubte. Der Ruhm Cäsars und Friedrichs des Großen, die
zugleich Feldherrn, Staatsmänner und Schriftsteller waren, Goethes, der sich
ein Stück der Landesregierung nach dem anderen über die Schultern hängen
ließ, hat Disraeli nicht schlafen lassen, und seine Einsicht war nicht groß genug,
um zu erkennen, daß Cäsar und Friedrich ebenso mittelmäßige Schriftsteller
waren, als Goethe ein mittelmäßiger Staatsmann war. Ueberdies decken sich
der Politiker und der Romanschreiber Disraeli nicht so genau, wie man anzu¬
nehmen geneigt ist; in seinen späteren Jahren schwand die Lust und die Fabig-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/475>, abgerufen am 03.07.2024.