Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Wahrheit über sie allgemeinen Glauben fand. Las man doch, um nur einiger
Beispiele zu gedenken, in zahllosen Büchern, daß die Revolution bis zum Jahre
1791 milde und menschlich gewesen sei, daß dieser Zeitraum gleichsam der holde
Frühling der Republik gewesen, während wir doch heute wissen, daß in den
Monaten, welche dem Bastillensturm vorhergingen, mehr als 300 Emeuten in
Frankreich stattfanden, und daß die Erfolge dieser von Mord und Brandstiftung
begleiteten Tumulte wie die Straflosigkeit ihrer Urheber immer neue und frevel¬
haftere Aufstände gegen das Eigenthum und das Leben Unschuldiger vercnr-
laßten. Erst die Höfe von Wien und Berlin, so heißt es, hätten, angestachelt
durch die Emigranten und durch ihren eigenen Haß gegen die Umwälzung,
Frankreich mit eiuer bewaffneten Intervention heimgesucht und dadurch die
Franzosen nach innen in wild hervorbrechende Leidenschaften versetzt und nach
außen zu beispiellosen Anstrengungen und Siegen genöthigt, so daß alle blu¬
tigen Frevel der Schreckenszeit und alle Ausschreitungen der späteren Kriegs¬
herrschaft nur durch den ungerechten Angriff der Coalition von 1792 hervor¬
gerufen seien. Man las ferner, daß diese Bemühungen der Coalition in erster
Linie an dem heldenmüthigen Enthusiasmus der jungen französischen Freiwil¬
ligen, in zweiter aber an der verräterischen Gesinnung Preußens gescheitert
seien, welches, 1795 durch einen Separatfrieden zu Basel von der gemeinsamen
Sache zurücktretend, Kaiser und Reich der französischen Uebermacht preisgegeben
und dann zehn Jahre lang in hartnäckiger Feigheit oder Selbstsucht sich dem
gerechten Kampfe gegen die Republik entzogen habe. Ebenso häufig erfuhr man
dann, daß damals Napoleon aufgetreten sei, in seinen ersten Jahren ein Feld¬
herr republikanischer Freiheit, heldenkühn gegen den Feind, übersprudelnd in
jugendfrischer Geisteskraft und beseelt von enthusiastischem Patriotismus; erst
nachdem er zur Herrschaft gelangt sei, sei er, von Schmarotzern und Intriganten,
von Hofleuten und Pfaffen umringt, allmählich zu selbstsüchtigem Despotismus
erzogen worden.

Wenn in den letzten drei Jahrzehnten solche Erzählungen, an deren Wahr¬
haftigkeit vordem niemand zu zweifeln wagte, die zu Dogmen sich verdichteten,
an Glauben verloren haben, so ist dies vorwiegend Sybels Verdienst. Ihm ist
es gelungen, nach Verarbeitung des gedruckten Materials und mit Benutzung
der echtesten Quellen, nämlich aus den im Laufe der Ereignisse selbst entstan¬
denen Depeschen, Acten und Correspondenzen, nicht bloß in unzähligen Einzel¬
heiten das Urtheil zu verbessern und eine Menge von Irrthume" und Lügen,
von denen die ersten historischen Darstellungen wimmelten, sür immer zu ver¬
nichten, sondern auch die Gesammtansicht über jene weltbewegende Umwälzung,
wie sie vielfach französische Eitelkeit geschaffen, einheimischer und fremder Libera¬
lismus sich bewahrt hatte, von Grund aus zu ändern. Dabei mußte Sybel


Wahrheit über sie allgemeinen Glauben fand. Las man doch, um nur einiger
Beispiele zu gedenken, in zahllosen Büchern, daß die Revolution bis zum Jahre
1791 milde und menschlich gewesen sei, daß dieser Zeitraum gleichsam der holde
Frühling der Republik gewesen, während wir doch heute wissen, daß in den
Monaten, welche dem Bastillensturm vorhergingen, mehr als 300 Emeuten in
Frankreich stattfanden, und daß die Erfolge dieser von Mord und Brandstiftung
begleiteten Tumulte wie die Straflosigkeit ihrer Urheber immer neue und frevel¬
haftere Aufstände gegen das Eigenthum und das Leben Unschuldiger vercnr-
laßten. Erst die Höfe von Wien und Berlin, so heißt es, hätten, angestachelt
durch die Emigranten und durch ihren eigenen Haß gegen die Umwälzung,
Frankreich mit eiuer bewaffneten Intervention heimgesucht und dadurch die
Franzosen nach innen in wild hervorbrechende Leidenschaften versetzt und nach
außen zu beispiellosen Anstrengungen und Siegen genöthigt, so daß alle blu¬
tigen Frevel der Schreckenszeit und alle Ausschreitungen der späteren Kriegs¬
herrschaft nur durch den ungerechten Angriff der Coalition von 1792 hervor¬
gerufen seien. Man las ferner, daß diese Bemühungen der Coalition in erster
Linie an dem heldenmüthigen Enthusiasmus der jungen französischen Freiwil¬
ligen, in zweiter aber an der verräterischen Gesinnung Preußens gescheitert
seien, welches, 1795 durch einen Separatfrieden zu Basel von der gemeinsamen
Sache zurücktretend, Kaiser und Reich der französischen Uebermacht preisgegeben
und dann zehn Jahre lang in hartnäckiger Feigheit oder Selbstsucht sich dem
gerechten Kampfe gegen die Republik entzogen habe. Ebenso häufig erfuhr man
dann, daß damals Napoleon aufgetreten sei, in seinen ersten Jahren ein Feld¬
herr republikanischer Freiheit, heldenkühn gegen den Feind, übersprudelnd in
jugendfrischer Geisteskraft und beseelt von enthusiastischem Patriotismus; erst
nachdem er zur Herrschaft gelangt sei, sei er, von Schmarotzern und Intriganten,
von Hofleuten und Pfaffen umringt, allmählich zu selbstsüchtigem Despotismus
erzogen worden.

Wenn in den letzten drei Jahrzehnten solche Erzählungen, an deren Wahr¬
haftigkeit vordem niemand zu zweifeln wagte, die zu Dogmen sich verdichteten,
an Glauben verloren haben, so ist dies vorwiegend Sybels Verdienst. Ihm ist
es gelungen, nach Verarbeitung des gedruckten Materials und mit Benutzung
der echtesten Quellen, nämlich aus den im Laufe der Ereignisse selbst entstan¬
denen Depeschen, Acten und Correspondenzen, nicht bloß in unzähligen Einzel¬
heiten das Urtheil zu verbessern und eine Menge von Irrthume« und Lügen,
von denen die ersten historischen Darstellungen wimmelten, sür immer zu ver¬
nichten, sondern auch die Gesammtansicht über jene weltbewegende Umwälzung,
wie sie vielfach französische Eitelkeit geschaffen, einheimischer und fremder Libera¬
lismus sich bewahrt hatte, von Grund aus zu ändern. Dabei mußte Sybel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0471" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147565"/>
          <p xml:id="ID_1320" prev="#ID_1319"> Wahrheit über sie allgemeinen Glauben fand. Las man doch, um nur einiger<lb/>
Beispiele zu gedenken, in zahllosen Büchern, daß die Revolution bis zum Jahre<lb/>
1791 milde und menschlich gewesen sei, daß dieser Zeitraum gleichsam der holde<lb/>
Frühling der Republik gewesen, während wir doch heute wissen, daß in den<lb/>
Monaten, welche dem Bastillensturm vorhergingen, mehr als 300 Emeuten in<lb/>
Frankreich stattfanden, und daß die Erfolge dieser von Mord und Brandstiftung<lb/>
begleiteten Tumulte wie die Straflosigkeit ihrer Urheber immer neue und frevel¬<lb/>
haftere Aufstände gegen das Eigenthum und das Leben Unschuldiger vercnr-<lb/>
laßten. Erst die Höfe von Wien und Berlin, so heißt es, hätten, angestachelt<lb/>
durch die Emigranten und durch ihren eigenen Haß gegen die Umwälzung,<lb/>
Frankreich mit eiuer bewaffneten Intervention heimgesucht und dadurch die<lb/>
Franzosen nach innen in wild hervorbrechende Leidenschaften versetzt und nach<lb/>
außen zu beispiellosen Anstrengungen und Siegen genöthigt, so daß alle blu¬<lb/>
tigen Frevel der Schreckenszeit und alle Ausschreitungen der späteren Kriegs¬<lb/>
herrschaft nur durch den ungerechten Angriff der Coalition von 1792 hervor¬<lb/>
gerufen seien. Man las ferner, daß diese Bemühungen der Coalition in erster<lb/>
Linie an dem heldenmüthigen Enthusiasmus der jungen französischen Freiwil¬<lb/>
ligen, in zweiter aber an der verräterischen Gesinnung Preußens gescheitert<lb/>
seien, welches, 1795 durch einen Separatfrieden zu Basel von der gemeinsamen<lb/>
Sache zurücktretend, Kaiser und Reich der französischen Uebermacht preisgegeben<lb/>
und dann zehn Jahre lang in hartnäckiger Feigheit oder Selbstsucht sich dem<lb/>
gerechten Kampfe gegen die Republik entzogen habe. Ebenso häufig erfuhr man<lb/>
dann, daß damals Napoleon aufgetreten sei, in seinen ersten Jahren ein Feld¬<lb/>
herr republikanischer Freiheit, heldenkühn gegen den Feind, übersprudelnd in<lb/>
jugendfrischer Geisteskraft und beseelt von enthusiastischem Patriotismus; erst<lb/>
nachdem er zur Herrschaft gelangt sei, sei er, von Schmarotzern und Intriganten,<lb/>
von Hofleuten und Pfaffen umringt, allmählich zu selbstsüchtigem Despotismus<lb/>
erzogen worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1321" next="#ID_1322"> Wenn in den letzten drei Jahrzehnten solche Erzählungen, an deren Wahr¬<lb/>
haftigkeit vordem niemand zu zweifeln wagte, die zu Dogmen sich verdichteten,<lb/>
an Glauben verloren haben, so ist dies vorwiegend Sybels Verdienst. Ihm ist<lb/>
es gelungen, nach Verarbeitung des gedruckten Materials und mit Benutzung<lb/>
der echtesten Quellen, nämlich aus den im Laufe der Ereignisse selbst entstan¬<lb/>
denen Depeschen, Acten und Correspondenzen, nicht bloß in unzähligen Einzel¬<lb/>
heiten das Urtheil zu verbessern und eine Menge von Irrthume« und Lügen,<lb/>
von denen die ersten historischen Darstellungen wimmelten, sür immer zu ver¬<lb/>
nichten, sondern auch die Gesammtansicht über jene weltbewegende Umwälzung,<lb/>
wie sie vielfach französische Eitelkeit geschaffen, einheimischer und fremder Libera¬<lb/>
lismus sich bewahrt hatte, von Grund aus zu ändern. Dabei mußte Sybel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0471] Wahrheit über sie allgemeinen Glauben fand. Las man doch, um nur einiger Beispiele zu gedenken, in zahllosen Büchern, daß die Revolution bis zum Jahre 1791 milde und menschlich gewesen sei, daß dieser Zeitraum gleichsam der holde Frühling der Republik gewesen, während wir doch heute wissen, daß in den Monaten, welche dem Bastillensturm vorhergingen, mehr als 300 Emeuten in Frankreich stattfanden, und daß die Erfolge dieser von Mord und Brandstiftung begleiteten Tumulte wie die Straflosigkeit ihrer Urheber immer neue und frevel¬ haftere Aufstände gegen das Eigenthum und das Leben Unschuldiger vercnr- laßten. Erst die Höfe von Wien und Berlin, so heißt es, hätten, angestachelt durch die Emigranten und durch ihren eigenen Haß gegen die Umwälzung, Frankreich mit eiuer bewaffneten Intervention heimgesucht und dadurch die Franzosen nach innen in wild hervorbrechende Leidenschaften versetzt und nach außen zu beispiellosen Anstrengungen und Siegen genöthigt, so daß alle blu¬ tigen Frevel der Schreckenszeit und alle Ausschreitungen der späteren Kriegs¬ herrschaft nur durch den ungerechten Angriff der Coalition von 1792 hervor¬ gerufen seien. Man las ferner, daß diese Bemühungen der Coalition in erster Linie an dem heldenmüthigen Enthusiasmus der jungen französischen Freiwil¬ ligen, in zweiter aber an der verräterischen Gesinnung Preußens gescheitert seien, welches, 1795 durch einen Separatfrieden zu Basel von der gemeinsamen Sache zurücktretend, Kaiser und Reich der französischen Uebermacht preisgegeben und dann zehn Jahre lang in hartnäckiger Feigheit oder Selbstsucht sich dem gerechten Kampfe gegen die Republik entzogen habe. Ebenso häufig erfuhr man dann, daß damals Napoleon aufgetreten sei, in seinen ersten Jahren ein Feld¬ herr republikanischer Freiheit, heldenkühn gegen den Feind, übersprudelnd in jugendfrischer Geisteskraft und beseelt von enthusiastischem Patriotismus; erst nachdem er zur Herrschaft gelangt sei, sei er, von Schmarotzern und Intriganten, von Hofleuten und Pfaffen umringt, allmählich zu selbstsüchtigem Despotismus erzogen worden. Wenn in den letzten drei Jahrzehnten solche Erzählungen, an deren Wahr¬ haftigkeit vordem niemand zu zweifeln wagte, die zu Dogmen sich verdichteten, an Glauben verloren haben, so ist dies vorwiegend Sybels Verdienst. Ihm ist es gelungen, nach Verarbeitung des gedruckten Materials und mit Benutzung der echtesten Quellen, nämlich aus den im Laufe der Ereignisse selbst entstan¬ denen Depeschen, Acten und Correspondenzen, nicht bloß in unzähligen Einzel¬ heiten das Urtheil zu verbessern und eine Menge von Irrthume« und Lügen, von denen die ersten historischen Darstellungen wimmelten, sür immer zu ver¬ nichten, sondern auch die Gesammtansicht über jene weltbewegende Umwälzung, wie sie vielfach französische Eitelkeit geschaffen, einheimischer und fremder Libera¬ lismus sich bewahrt hatte, von Grund aus zu ändern. Dabei mußte Sybel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/471
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/471>, abgerufen am 23.07.2024.