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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Hypothese, die er schon früher in der "Zeitschrift für Kirchengeschichte" (II, 1.),
ausgesprochen hat, zu wiederholen und wenigstens in bedingter Weise festzuhalten.
So ist denn Ritschls Geschichtschreibung nicht frei von Tendenz, zwar nicht von
jener eigennützigen und verwerflichen Art, welche religiösen oder politischen Gesin¬
nungen zu Liebe die geschichtlichen Thatsachen modificirt, Wohl aber von jener so¬
zusagen wissenschaftlichen Art, welche bestrebt ist, die als wahr anerkannten Grund¬
sätze eines bestimmten Systems auch auf alleu Gebieten und in den mannigfaltig¬
sten Erscheinungen der Geschichte nachzuweisen und so das System als das einzig
Berechtigte hinzustellen.

Leider laßt sich Ritschl dabei zu Unbilligkeiten gegen andere Geschichtsforscher,
welche nicht durch die Brille seines Standpunktes die Verhältnisse ansehen, verleiten.
Weil er z. B. den Begriff der Reformation in einem weiteren Sinne faßt, der von
der herkömmlichen und auch historisch berechtigten Auffassung abweicht, so begnügt
er sich uicht damit, daß er für seine Person in einem weiteren Umfange "Refor¬
mation" auch schon innerhalb des Mittelalters anerkennt, sondern er fertigt auch
in unbilliger Weise diejenigen ab, welche über diese reformatorischen Bestrebungen
des Mittelalters anders geurtheilt haben, weil sie ihnen wegen ihrer Tendenz wie
wegen ihrer Erfolge eine der Reformation des 16. Jahrhunderts gleichberechtigte
Stellung absprechen zu müssen glaubten.
"

Ans die "Prolegomena folgt zunächst eine Darstellung des Pietismus in der
reformirten Kirche der Niederlande, indem nach einander die Hauptvertreter dieser
Richtung ihrem Leben und ihren Schriften nach eingehend behandelt werden. Wäh¬
rend bei der Besprechung einer wissenschaftlichen Richtung das Leben ihrer Haupt-
vertreter meist von untergeordneter Bedeutung ist, so ist dies natürlich anders bei
den Vertretern einer praktischen Richtung wie der des Pietismus. Hier tritt das
Leben als die Bethätigung der Gesinnung in den Vordergrund, und die schrift¬
stellerische Thätigkeit ist häufig nichts als ein Versuch, die specifische Richtung des
Lebens zugleich in wissenschaftlicher Weise als berechtigt hinzustellen. In derselben
Weise wird dann anch der Pietismus in der reformirten Kirche Deutschlands und
der Schweiz in seinen Hnuptvertretern Lampe, Tersteegen, Lavater, Jung - Stilling
n. a. vorgeführt. Einzelne von diesen Persönlichkeiten sind in weiteren Kreisen
wohlbekannt, und es wird für manchen Leser von Interesse sein, die eigenthümliche
Ausfassung und Führung des Lebens, welche bei der Betrachtung der einzelnen Per¬
sönlichkeit vielleicht nicht ganz verstanden werden kann, hier im Zusammenhange der
ganzen Richtung vorgeführt zu finden. Für solche Leser wird sich aus dem Ritschl-
schen Buche ein doppelter Nutzen ergeben: ein volles Verständniß für das Wesen
des Pietismus, seine Wurzeln und seine Wirkungen und ein tiefer begründetes Er¬
fassen des charakteristischen Gepräges der einzelnen Persönlichkeit, der das vorwie¬
gende Interesse gilt.






Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Hitthel K Herrmann in Leipzig.

Hypothese, die er schon früher in der „Zeitschrift für Kirchengeschichte" (II, 1.),
ausgesprochen hat, zu wiederholen und wenigstens in bedingter Weise festzuhalten.
So ist denn Ritschls Geschichtschreibung nicht frei von Tendenz, zwar nicht von
jener eigennützigen und verwerflichen Art, welche religiösen oder politischen Gesin¬
nungen zu Liebe die geschichtlichen Thatsachen modificirt, Wohl aber von jener so¬
zusagen wissenschaftlichen Art, welche bestrebt ist, die als wahr anerkannten Grund¬
sätze eines bestimmten Systems auch auf alleu Gebieten und in den mannigfaltig¬
sten Erscheinungen der Geschichte nachzuweisen und so das System als das einzig
Berechtigte hinzustellen.

Leider laßt sich Ritschl dabei zu Unbilligkeiten gegen andere Geschichtsforscher,
welche nicht durch die Brille seines Standpunktes die Verhältnisse ansehen, verleiten.
Weil er z. B. den Begriff der Reformation in einem weiteren Sinne faßt, der von
der herkömmlichen und auch historisch berechtigten Auffassung abweicht, so begnügt
er sich uicht damit, daß er für seine Person in einem weiteren Umfange „Refor¬
mation" auch schon innerhalb des Mittelalters anerkennt, sondern er fertigt auch
in unbilliger Weise diejenigen ab, welche über diese reformatorischen Bestrebungen
des Mittelalters anders geurtheilt haben, weil sie ihnen wegen ihrer Tendenz wie
wegen ihrer Erfolge eine der Reformation des 16. Jahrhunderts gleichberechtigte
Stellung absprechen zu müssen glaubten.
"

Ans die „Prolegomena folgt zunächst eine Darstellung des Pietismus in der
reformirten Kirche der Niederlande, indem nach einander die Hauptvertreter dieser
Richtung ihrem Leben und ihren Schriften nach eingehend behandelt werden. Wäh¬
rend bei der Besprechung einer wissenschaftlichen Richtung das Leben ihrer Haupt-
vertreter meist von untergeordneter Bedeutung ist, so ist dies natürlich anders bei
den Vertretern einer praktischen Richtung wie der des Pietismus. Hier tritt das
Leben als die Bethätigung der Gesinnung in den Vordergrund, und die schrift¬
stellerische Thätigkeit ist häufig nichts als ein Versuch, die specifische Richtung des
Lebens zugleich in wissenschaftlicher Weise als berechtigt hinzustellen. In derselben
Weise wird dann anch der Pietismus in der reformirten Kirche Deutschlands und
der Schweiz in seinen Hnuptvertretern Lampe, Tersteegen, Lavater, Jung - Stilling
n. a. vorgeführt. Einzelne von diesen Persönlichkeiten sind in weiteren Kreisen
wohlbekannt, und es wird für manchen Leser von Interesse sein, die eigenthümliche
Ausfassung und Führung des Lebens, welche bei der Betrachtung der einzelnen Per¬
sönlichkeit vielleicht nicht ganz verstanden werden kann, hier im Zusammenhange der
ganzen Richtung vorgeführt zu finden. Für solche Leser wird sich aus dem Ritschl-
schen Buche ein doppelter Nutzen ergeben: ein volles Verständniß für das Wesen
des Pietismus, seine Wurzeln und seine Wirkungen und ein tiefer begründetes Er¬
fassen des charakteristischen Gepräges der einzelnen Persönlichkeit, der das vorwie¬
gende Interesse gilt.






Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hitthel K Herrmann in Leipzig.
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[0469] Hypothese, die er schon früher in der „Zeitschrift für Kirchengeschichte" (II, 1.), ausgesprochen hat, zu wiederholen und wenigstens in bedingter Weise festzuhalten. So ist denn Ritschls Geschichtschreibung nicht frei von Tendenz, zwar nicht von jener eigennützigen und verwerflichen Art, welche religiösen oder politischen Gesin¬ nungen zu Liebe die geschichtlichen Thatsachen modificirt, Wohl aber von jener so¬ zusagen wissenschaftlichen Art, welche bestrebt ist, die als wahr anerkannten Grund¬ sätze eines bestimmten Systems auch auf alleu Gebieten und in den mannigfaltig¬ sten Erscheinungen der Geschichte nachzuweisen und so das System als das einzig Berechtigte hinzustellen. Leider laßt sich Ritschl dabei zu Unbilligkeiten gegen andere Geschichtsforscher, welche nicht durch die Brille seines Standpunktes die Verhältnisse ansehen, verleiten. Weil er z. B. den Begriff der Reformation in einem weiteren Sinne faßt, der von der herkömmlichen und auch historisch berechtigten Auffassung abweicht, so begnügt er sich uicht damit, daß er für seine Person in einem weiteren Umfange „Refor¬ mation" auch schon innerhalb des Mittelalters anerkennt, sondern er fertigt auch in unbilliger Weise diejenigen ab, welche über diese reformatorischen Bestrebungen des Mittelalters anders geurtheilt haben, weil sie ihnen wegen ihrer Tendenz wie wegen ihrer Erfolge eine der Reformation des 16. Jahrhunderts gleichberechtigte Stellung absprechen zu müssen glaubten. " Ans die „Prolegomena folgt zunächst eine Darstellung des Pietismus in der reformirten Kirche der Niederlande, indem nach einander die Hauptvertreter dieser Richtung ihrem Leben und ihren Schriften nach eingehend behandelt werden. Wäh¬ rend bei der Besprechung einer wissenschaftlichen Richtung das Leben ihrer Haupt- vertreter meist von untergeordneter Bedeutung ist, so ist dies natürlich anders bei den Vertretern einer praktischen Richtung wie der des Pietismus. Hier tritt das Leben als die Bethätigung der Gesinnung in den Vordergrund, und die schrift¬ stellerische Thätigkeit ist häufig nichts als ein Versuch, die specifische Richtung des Lebens zugleich in wissenschaftlicher Weise als berechtigt hinzustellen. In derselben Weise wird dann anch der Pietismus in der reformirten Kirche Deutschlands und der Schweiz in seinen Hnuptvertretern Lampe, Tersteegen, Lavater, Jung - Stilling n. a. vorgeführt. Einzelne von diesen Persönlichkeiten sind in weiteren Kreisen wohlbekannt, und es wird für manchen Leser von Interesse sein, die eigenthümliche Ausfassung und Führung des Lebens, welche bei der Betrachtung der einzelnen Per¬ sönlichkeit vielleicht nicht ganz verstanden werden kann, hier im Zusammenhange der ganzen Richtung vorgeführt zu finden. Für solche Leser wird sich aus dem Ritschl- schen Buche ein doppelter Nutzen ergeben: ein volles Verständniß für das Wesen des Pietismus, seine Wurzeln und seine Wirkungen und ein tiefer begründetes Er¬ fassen des charakteristischen Gepräges der einzelnen Persönlichkeit, der das vorwie¬ gende Interesse gilt. Für die Redaction verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hitthel K Herrmann in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/469>, abgerufen am 23.07.2024.