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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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"Grünen Heinrich" sein möge, so erfaßt die Jugendgeschichte des Malers Heinrich
Lee den Leser mit jenem ansiinglich fast unmerklichen, im Verlauf der Begeben¬
heiten stärker und stärker wirkenden Zauber, den nur poetisch geläutertes Leben
hervorzubringen vermag, der selten von der bloß spannenden Handlung, der
Actualität im gemeinen Wortsinne und niemals von der klingenden Phrase
ausgeht.

Für dramatisch gesteigerte, zugespitzte Erzählungen ist es ein hohes Lob,
wenn sich ihr breiterer Inhalt in wenigen kurzen Züge", mit knappen Worten
wiedererzählen läßt. Umgekehrt giebt es Romane und Novellen, von deren
Wesenheit sich durch ein Referat kaum die leiseste Vorstellung geben läßt. In
diese letztere Klasse gehört der "Grüne Heinrich" Kellers. Natürlich fehlt 'es ihm
nicht an einer klar entwickelten Handlung. Vom "Lob des Herkommens" bis
zum Aufbruch des werdenden Malers in die deutsche Kunsthauptstadt schreitet
die Erzählung fest vor, um im vierten Bande auf ihren Höhepunkt zu gelangen
und alle Fäden zu vereinigen. Aber wie dürftig und kahl müßten sich im
Referat jene Begebenheiten ausnehmen, die ganz in Stimmung getüncht, im
Detail von so wunderbarer Sicherheit und so echtem organischem Wachsthum
sind, daß sie schlechterdings genossen sein wollen. Keine Wiedererzählung des
reichen Inhalts vermöchte die Reinheit und Sicherheit der einzelnen Züge, die
sinnliche Stärke und warme Unmittelbarkeit des Ganzen wiederzugeben.

Wir stehen auf deutschem Schweizerboden und in der Jugendgeschichte des
Helden zwischen Stadt und Land, zwischen den Kreisen des nüchternen Er¬
werbs, der emsigthätigen Sparsamkeit und jener harten Lebensführung, die den
Cantvnrepublikanern ihr eigenstes Gepräge giebt, und zwischen jenen behaglichen
Lebekreisen, die zu fest und sicher auf ihrem eigenen Gute sitzen, um sich nicht
einem mäßigen und anspruchslosen Genusse Tag für Tag hingeben zu können.
Als der Sohn eines in seiner Art tüchtigen und hochstrebenden Mannes, welcher
früh gestorben ist, wächst Heinrich Lee unter der Obhut einer nüchtern braven
Mutter auf, welcher er, phantasievoll und phantastisch, wie er ist, schon in
den Knabentagen entwächst. So wird von früh auf sein Leben von den wunder¬
samsten Anstößer der Außenwelt, von Zufällen bestimmt und vorwärts ge¬
trieben; er entscheidet sich, Künstler zu werden, ohne noch einen klaren Begriff
von der Kunst bekommen zu haben, ohne tüchtige und mehr als zufällige För¬
derung zu finden. Die Tragik seines Lebens liegt von Haus aus darin, daß
in den Kreisen, in denen er seine Jugendjahre verbringt, für seine Natur und
sein Wollen weder Verständniß noch Raum ist, und daß ihn doch die Pietät
und alles, was diese Kreise sonst zu geben haben, Jahr um Jahr festhalten.
In den Jahren des Lernens nimmt der phantastische Jüngling unter be¬
sonderen Umständen einen guten Theil des Lebens vorweg: meisterhaft ist sein


„Grünen Heinrich" sein möge, so erfaßt die Jugendgeschichte des Malers Heinrich
Lee den Leser mit jenem ansiinglich fast unmerklichen, im Verlauf der Begeben¬
heiten stärker und stärker wirkenden Zauber, den nur poetisch geläutertes Leben
hervorzubringen vermag, der selten von der bloß spannenden Handlung, der
Actualität im gemeinen Wortsinne und niemals von der klingenden Phrase
ausgeht.

Für dramatisch gesteigerte, zugespitzte Erzählungen ist es ein hohes Lob,
wenn sich ihr breiterer Inhalt in wenigen kurzen Züge», mit knappen Worten
wiedererzählen läßt. Umgekehrt giebt es Romane und Novellen, von deren
Wesenheit sich durch ein Referat kaum die leiseste Vorstellung geben läßt. In
diese letztere Klasse gehört der „Grüne Heinrich" Kellers. Natürlich fehlt 'es ihm
nicht an einer klar entwickelten Handlung. Vom „Lob des Herkommens" bis
zum Aufbruch des werdenden Malers in die deutsche Kunsthauptstadt schreitet
die Erzählung fest vor, um im vierten Bande auf ihren Höhepunkt zu gelangen
und alle Fäden zu vereinigen. Aber wie dürftig und kahl müßten sich im
Referat jene Begebenheiten ausnehmen, die ganz in Stimmung getüncht, im
Detail von so wunderbarer Sicherheit und so echtem organischem Wachsthum
sind, daß sie schlechterdings genossen sein wollen. Keine Wiedererzählung des
reichen Inhalts vermöchte die Reinheit und Sicherheit der einzelnen Züge, die
sinnliche Stärke und warme Unmittelbarkeit des Ganzen wiederzugeben.

Wir stehen auf deutschem Schweizerboden und in der Jugendgeschichte des
Helden zwischen Stadt und Land, zwischen den Kreisen des nüchternen Er¬
werbs, der emsigthätigen Sparsamkeit und jener harten Lebensführung, die den
Cantvnrepublikanern ihr eigenstes Gepräge giebt, und zwischen jenen behaglichen
Lebekreisen, die zu fest und sicher auf ihrem eigenen Gute sitzen, um sich nicht
einem mäßigen und anspruchslosen Genusse Tag für Tag hingeben zu können.
Als der Sohn eines in seiner Art tüchtigen und hochstrebenden Mannes, welcher
früh gestorben ist, wächst Heinrich Lee unter der Obhut einer nüchtern braven
Mutter auf, welcher er, phantasievoll und phantastisch, wie er ist, schon in
den Knabentagen entwächst. So wird von früh auf sein Leben von den wunder¬
samsten Anstößer der Außenwelt, von Zufällen bestimmt und vorwärts ge¬
trieben; er entscheidet sich, Künstler zu werden, ohne noch einen klaren Begriff
von der Kunst bekommen zu haben, ohne tüchtige und mehr als zufällige För¬
derung zu finden. Die Tragik seines Lebens liegt von Haus aus darin, daß
in den Kreisen, in denen er seine Jugendjahre verbringt, für seine Natur und
sein Wollen weder Verständniß noch Raum ist, und daß ihn doch die Pietät
und alles, was diese Kreise sonst zu geben haben, Jahr um Jahr festhalten.
In den Jahren des Lernens nimmt der phantastische Jüngling unter be¬
sonderen Umständen einen guten Theil des Lebens vorweg: meisterhaft ist sein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/449>, abgerufen am 25.08.2024.