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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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stehen dem Hauch echter Empfindung und reiner Schönheit, der sie auch aus
den lebenskräftigsten Schöpfungen wirklicher Poesie anwehe.

So und nur so hat es geschehen können, daß einer ganzen Reihe wahrhafter
Dichter die Gabe der Dichtung schlechthin abgesprochen worden ist, und daß für
mehr als ein selbständiges, ureigenthümliches Talent die genießende Welt den
rechten Maßstab erst spät gefunden hat. Auch dem Dichter, welchem diese Zeilen
gelten, Gottfried Keller, der bedeutendsten poetischen Natur, mit der die
deutsche Schweiz bis heute unsere Literatur bereichert hat, ist diese Erfahrung
nicht erspart geblieben.

Anlaß, Gottfried Kellers zu gedenken, haben wir nicht nur durch die Betrach¬
tung, daß er, obschon nach einem Vierteljahrhundert die Zeit der Anerkennung
und des Verständnisses für ihn gekommen scheint, noch bei weitem nicht genügend
gekannt ist, sondern auch durch das Neuerscheiuen seines genialen Erstlingsbuches
"Der grüne Heinrich".*) Es ist beinahe ein Menschenalter vergangen, seit
dieser Roman zuerst die Augen kleiner Kreise ans den Dichter lenkte. Die
lyrischen Anfänge Kellers liegen noch viel weiter zurück und fallen in die Zeit
vor 1848. Und doch zeigen die neuesten Schöpfungen des Züricher Dichters
die gleiche lebensvolle Originalität, die gleichen eminenten Vorzüge. Eine Ab¬
nahme der Kraft und Frische scheint in den mehr als dreißig Jahren, in denen
Keller (gegenüber dem Publikum allerdings mit bedeutenden Unterbrechungen)
poetisch geschaffen hat, zu keiner Zeit eingetreten. Mit mehr oder minder Glück,
und mehr oder minder Stimmungsgewalt und sprachschöpferischem Vermögen
hat Keller eine Reihe grundverschiedener poetischer Aufgaben gelöst. Und ob¬
schon der Dichter das Prädicat der Originalität entschieden in Anspruch nehmen
darf, ist er glücklicherweise doch niemals ein "Specialist" geworden. Die übliche
Ausbeutung eines glücklichen poetischen Einfalls in bestündiger Wiederholung,
die Beschränkung auf eine eng begränzte Zahl von Situationen und Charakteren,
durch welche zahlreiche treffliche moderne Schriftsteller so rasch zu Manieristen
werden, haben seiner naiv keuschen und künstlerisch vorwärtsstrebender Natur
immer fern gelegen. Die reiche Mannigfaltigkeit seiner Menschendarstellung
offenbart sich um so besser, als die heimatliche deutsche Schweiz in Vergangen¬
heit und Gegenwart meist der Hinter- und Untergrund der Romane und Er¬
zählungen Kellers bleibt und in gewissem Sinne, wenigstens in dem Roman
"Der grüne Heinrich", mit ihrer Eigenart auch die Voraussetzung des hier dar¬
gestellten Menschenschicksals ist.

Keller hat seinen Roman einer Umarbeitung unterzogen, die allerdings



*) Der grüne Hetnri es, Roman von Gottfried Keller. Neue Ausgabe in
vier Bänden. Stuttgart, I, G- Gvschensche Verlagshandlung,

stehen dem Hauch echter Empfindung und reiner Schönheit, der sie auch aus
den lebenskräftigsten Schöpfungen wirklicher Poesie anwehe.

So und nur so hat es geschehen können, daß einer ganzen Reihe wahrhafter
Dichter die Gabe der Dichtung schlechthin abgesprochen worden ist, und daß für
mehr als ein selbständiges, ureigenthümliches Talent die genießende Welt den
rechten Maßstab erst spät gefunden hat. Auch dem Dichter, welchem diese Zeilen
gelten, Gottfried Keller, der bedeutendsten poetischen Natur, mit der die
deutsche Schweiz bis heute unsere Literatur bereichert hat, ist diese Erfahrung
nicht erspart geblieben.

Anlaß, Gottfried Kellers zu gedenken, haben wir nicht nur durch die Betrach¬
tung, daß er, obschon nach einem Vierteljahrhundert die Zeit der Anerkennung
und des Verständnisses für ihn gekommen scheint, noch bei weitem nicht genügend
gekannt ist, sondern auch durch das Neuerscheiuen seines genialen Erstlingsbuches
„Der grüne Heinrich".*) Es ist beinahe ein Menschenalter vergangen, seit
dieser Roman zuerst die Augen kleiner Kreise ans den Dichter lenkte. Die
lyrischen Anfänge Kellers liegen noch viel weiter zurück und fallen in die Zeit
vor 1848. Und doch zeigen die neuesten Schöpfungen des Züricher Dichters
die gleiche lebensvolle Originalität, die gleichen eminenten Vorzüge. Eine Ab¬
nahme der Kraft und Frische scheint in den mehr als dreißig Jahren, in denen
Keller (gegenüber dem Publikum allerdings mit bedeutenden Unterbrechungen)
poetisch geschaffen hat, zu keiner Zeit eingetreten. Mit mehr oder minder Glück,
und mehr oder minder Stimmungsgewalt und sprachschöpferischem Vermögen
hat Keller eine Reihe grundverschiedener poetischer Aufgaben gelöst. Und ob¬
schon der Dichter das Prädicat der Originalität entschieden in Anspruch nehmen
darf, ist er glücklicherweise doch niemals ein „Specialist" geworden. Die übliche
Ausbeutung eines glücklichen poetischen Einfalls in bestündiger Wiederholung,
die Beschränkung auf eine eng begränzte Zahl von Situationen und Charakteren,
durch welche zahlreiche treffliche moderne Schriftsteller so rasch zu Manieristen
werden, haben seiner naiv keuschen und künstlerisch vorwärtsstrebender Natur
immer fern gelegen. Die reiche Mannigfaltigkeit seiner Menschendarstellung
offenbart sich um so besser, als die heimatliche deutsche Schweiz in Vergangen¬
heit und Gegenwart meist der Hinter- und Untergrund der Romane und Er¬
zählungen Kellers bleibt und in gewissem Sinne, wenigstens in dem Roman
„Der grüne Heinrich", mit ihrer Eigenart auch die Voraussetzung des hier dar¬
gestellten Menschenschicksals ist.

Keller hat seinen Roman einer Umarbeitung unterzogen, die allerdings



*) Der grüne Hetnri es, Roman von Gottfried Keller. Neue Ausgabe in
vier Bänden. Stuttgart, I, G- Gvschensche Verlagshandlung,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/447>, abgerufen am 23.07.2024.