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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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gnügen und verharrt im Großen und Ganzen noch so ziemlich bei einer Vor¬
stellung, die zu einem Drittel aus Byron, einem anderen aus Heine, einem
letzteren aus Herwegh oder sonst einem beliebigen politischen Poeten stammt.
Wo sich Züge dieser Idealvorstellung finden oder wo man vermeint sie zu
finden, da ist man auch mit dem Worte "echter Dichter" freigebig, an Orten, an
denen man sonst gewöhnt ist den gewandten Schriftsteller bedeutend höher zu
schätzen als das eigentlich schöpferische Talent. Und so bleibt es immer bei
der alten leidigen Thatsache, daß gerade die eigenthümlichsten, selbständigsten, in
ihrer Weise bedeutendsten Begabungen mit tausend Schwierigkeiten, vor allem
mit dem ausgesprochnen Widerwillen zu kämpfen haben, sich in eine fremde,
starke Individualität zu finden und die Welt im Spiegel derselben zu erkennen.
Prüft man die ablehnenden Stimmen, welche im Publikum gegen eine solche
Individualität laut werden, die Kritik, die an ihr geübt wird, auf ihre" innersten
Kern, fo tritt immer neu zu Tage, daß man die Züge und die angeblichen
Eigenschaften des einseitigen Pvetenideals vermißt. Wir werden inne, einem
wie großen Publikum die Hauptsache an aller Poesie: concentrirtes, starkes,
warmes, erhöhtes und verklärtes Leben als vollkommen nebensächlich erscheint,
und wie viele Dichter für die Viergroschengallerie, um mit Carlyle zu reden, sich
diesen Umstand zu Nutze zu machen suchen.

Freilich hegt das Publikum und zumal das heutige ein entschiedenes und
unruhiges Verlangen nach gewissen äußerlichen Momenten des Lebens und
möglichst reichem Wechsel in der Vorführung dieser Aeußerlichkeiten. Die alte
Lust an Abenteuern, welche die Hörer des mittelalterlichen wandernden Spiel¬
manns und Erzählers erfüllte, ist nie völlig ausgestorben. Wie natürlich, hat
sie in jeder Zeit andere Formen angenommen und in unserer eigenen bekannter¬
maßen nicht die erfreulichsten. Aber zwischen der Lust an novellistisch aufge¬
putzten Criminalgeschichten und jeder Art von "Aktualität", an welchen unsere
modernen Romane nur allzureich sind, und der innerlich lebendigen Darstellung
wirklichen Lebens liegt eine breite Kluft. Gerade diejenigen, die scheinbar am
meisten nach Leben in der Dichtung verlangen, wollen vom echten Leben am
wenigsten wissen. Die Enthüllung der tausend Erscheinungen, der Höhen und
Tiefen im scheinbar Alltäglichen, die Darstellung der Leidenschaft und der ur¬
sprünglichen Menschennatur überhaupt, erschreckt sie und erfüllt sie mit Unbehagen,
die innere und cinßere Wahrheit der poetischen Erfindung wird von ihnen Ueber¬
treibung und UnWahrscheinlichkeit gescholten. Will der Schriftsteller nicht bloß
das flachste Zerstrenungsbedurfniß befriedigen, will er seine Leser tiefer erfassen
und mit einem Worte Dichter sein, so begehren sie eine "schöne Tüuschuug", das
heißt in den meisten Fällen Phrasen und rhetorische Wendungen, und Wider-


Grenzboten III. 1880. 57

gnügen und verharrt im Großen und Ganzen noch so ziemlich bei einer Vor¬
stellung, die zu einem Drittel aus Byron, einem anderen aus Heine, einem
letzteren aus Herwegh oder sonst einem beliebigen politischen Poeten stammt.
Wo sich Züge dieser Idealvorstellung finden oder wo man vermeint sie zu
finden, da ist man auch mit dem Worte „echter Dichter" freigebig, an Orten, an
denen man sonst gewöhnt ist den gewandten Schriftsteller bedeutend höher zu
schätzen als das eigentlich schöpferische Talent. Und so bleibt es immer bei
der alten leidigen Thatsache, daß gerade die eigenthümlichsten, selbständigsten, in
ihrer Weise bedeutendsten Begabungen mit tausend Schwierigkeiten, vor allem
mit dem ausgesprochnen Widerwillen zu kämpfen haben, sich in eine fremde,
starke Individualität zu finden und die Welt im Spiegel derselben zu erkennen.
Prüft man die ablehnenden Stimmen, welche im Publikum gegen eine solche
Individualität laut werden, die Kritik, die an ihr geübt wird, auf ihre» innersten
Kern, fo tritt immer neu zu Tage, daß man die Züge und die angeblichen
Eigenschaften des einseitigen Pvetenideals vermißt. Wir werden inne, einem
wie großen Publikum die Hauptsache an aller Poesie: concentrirtes, starkes,
warmes, erhöhtes und verklärtes Leben als vollkommen nebensächlich erscheint,
und wie viele Dichter für die Viergroschengallerie, um mit Carlyle zu reden, sich
diesen Umstand zu Nutze zu machen suchen.

Freilich hegt das Publikum und zumal das heutige ein entschiedenes und
unruhiges Verlangen nach gewissen äußerlichen Momenten des Lebens und
möglichst reichem Wechsel in der Vorführung dieser Aeußerlichkeiten. Die alte
Lust an Abenteuern, welche die Hörer des mittelalterlichen wandernden Spiel¬
manns und Erzählers erfüllte, ist nie völlig ausgestorben. Wie natürlich, hat
sie in jeder Zeit andere Formen angenommen und in unserer eigenen bekannter¬
maßen nicht die erfreulichsten. Aber zwischen der Lust an novellistisch aufge¬
putzten Criminalgeschichten und jeder Art von „Aktualität", an welchen unsere
modernen Romane nur allzureich sind, und der innerlich lebendigen Darstellung
wirklichen Lebens liegt eine breite Kluft. Gerade diejenigen, die scheinbar am
meisten nach Leben in der Dichtung verlangen, wollen vom echten Leben am
wenigsten wissen. Die Enthüllung der tausend Erscheinungen, der Höhen und
Tiefen im scheinbar Alltäglichen, die Darstellung der Leidenschaft und der ur¬
sprünglichen Menschennatur überhaupt, erschreckt sie und erfüllt sie mit Unbehagen,
die innere und cinßere Wahrheit der poetischen Erfindung wird von ihnen Ueber¬
treibung und UnWahrscheinlichkeit gescholten. Will der Schriftsteller nicht bloß
das flachste Zerstrenungsbedurfniß befriedigen, will er seine Leser tiefer erfassen
und mit einem Worte Dichter sein, so begehren sie eine „schöne Tüuschuug", das
heißt in den meisten Fällen Phrasen und rhetorische Wendungen, und Wider-


Grenzboten III. 1880. 57
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[0446] gnügen und verharrt im Großen und Ganzen noch so ziemlich bei einer Vor¬ stellung, die zu einem Drittel aus Byron, einem anderen aus Heine, einem letzteren aus Herwegh oder sonst einem beliebigen politischen Poeten stammt. Wo sich Züge dieser Idealvorstellung finden oder wo man vermeint sie zu finden, da ist man auch mit dem Worte „echter Dichter" freigebig, an Orten, an denen man sonst gewöhnt ist den gewandten Schriftsteller bedeutend höher zu schätzen als das eigentlich schöpferische Talent. Und so bleibt es immer bei der alten leidigen Thatsache, daß gerade die eigenthümlichsten, selbständigsten, in ihrer Weise bedeutendsten Begabungen mit tausend Schwierigkeiten, vor allem mit dem ausgesprochnen Widerwillen zu kämpfen haben, sich in eine fremde, starke Individualität zu finden und die Welt im Spiegel derselben zu erkennen. Prüft man die ablehnenden Stimmen, welche im Publikum gegen eine solche Individualität laut werden, die Kritik, die an ihr geübt wird, auf ihre» innersten Kern, fo tritt immer neu zu Tage, daß man die Züge und die angeblichen Eigenschaften des einseitigen Pvetenideals vermißt. Wir werden inne, einem wie großen Publikum die Hauptsache an aller Poesie: concentrirtes, starkes, warmes, erhöhtes und verklärtes Leben als vollkommen nebensächlich erscheint, und wie viele Dichter für die Viergroschengallerie, um mit Carlyle zu reden, sich diesen Umstand zu Nutze zu machen suchen. Freilich hegt das Publikum und zumal das heutige ein entschiedenes und unruhiges Verlangen nach gewissen äußerlichen Momenten des Lebens und möglichst reichem Wechsel in der Vorführung dieser Aeußerlichkeiten. Die alte Lust an Abenteuern, welche die Hörer des mittelalterlichen wandernden Spiel¬ manns und Erzählers erfüllte, ist nie völlig ausgestorben. Wie natürlich, hat sie in jeder Zeit andere Formen angenommen und in unserer eigenen bekannter¬ maßen nicht die erfreulichsten. Aber zwischen der Lust an novellistisch aufge¬ putzten Criminalgeschichten und jeder Art von „Aktualität", an welchen unsere modernen Romane nur allzureich sind, und der innerlich lebendigen Darstellung wirklichen Lebens liegt eine breite Kluft. Gerade diejenigen, die scheinbar am meisten nach Leben in der Dichtung verlangen, wollen vom echten Leben am wenigsten wissen. Die Enthüllung der tausend Erscheinungen, der Höhen und Tiefen im scheinbar Alltäglichen, die Darstellung der Leidenschaft und der ur¬ sprünglichen Menschennatur überhaupt, erschreckt sie und erfüllt sie mit Unbehagen, die innere und cinßere Wahrheit der poetischen Erfindung wird von ihnen Ueber¬ treibung und UnWahrscheinlichkeit gescholten. Will der Schriftsteller nicht bloß das flachste Zerstrenungsbedurfniß befriedigen, will er seine Leser tiefer erfassen und mit einem Worte Dichter sein, so begehren sie eine „schöne Tüuschuug", das heißt in den meisten Fällen Phrasen und rhetorische Wendungen, und Wider- Grenzboten III. 1880. 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/446>, abgerufen am 23.07.2024.