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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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an den ich mich mit der ganzen Stärke des Gemüths, d. h. meiner tiefsten
Innerlichkeit betheilige, wird sogleich schaal, abgestanden, sobald es in die Ver¬
gangenheit tritt; wogegen der Gedanke, die Idee, die es etwa enthält, mich aus
der Zeit in die Ewigkeit erhebt, nur einen Schatz gewährt, der sich nimmer aus¬
giebt und mich zu eigenen beseligenden Gedanken ins Unendliche befruchtet."

Wir haben dieser Auslassung folgendes entgegenzusetzen. Es existirt kein
echtes poetisches Werk, welches nicht von einem mehr oder minder mächtigen,
mehr oder minder ausgiebigen poetischen Gedanken durchdrungen und erfüllt
wäre. Es existirt aber auch auf dem ganzen Gebiete der epischen und drama¬
tischen Dichtung kein vollendetes, bleibendes Werk, welches das verachtete
"Begebniß" nicht als Mittel bedurft hätte; der poetische Gedanke kann, von der
Lyrik abgesehen, nur durch die vollendete Darstellung des "schalen" Ereignisses
zur Erscheinung gelangen. Der Verfasser der "Modernen Zustände" möchte den
Glauben erwecken, daß zwischen der Brutalität und Frivolität der modernen
Thatsachenschriftsteller und Feuilletonisten und zwischen der Reflexionsneigung
jener Schriftsteller, welche die poetischen Formen nur als Vehikel für allerhand
philosophische, politische, literarische, moralische Abhandlungen betrachten, nichts
läge. Wir müssen ihm einhalten, daß die ganze wirkliche Dichtung, die aller¬
dings eine unermeßliche Fülle auch des Geistes einschließt, sich zwischen beiden
Extremen befindet! Bei solcher Grundverschiedenheit in der Hauptsache hilft
es wenig, daß wir Jung voll zustimmen, wenn er begeistert ausruft: "Die
Literatur ist keine Schule der Klugheit, kein Hatzfeld, auf dem mau Goldfasanen
schießt, kein Hazardspielhaus, in welchem Jeder auf Gewinn, auf Erfolg erpicht
ist; die Literatur ist kein Institut zur bloßen Ernährung, keine Restauration für
hungrige Schlucker oder für übermüthige Feinschmecker und Leckermäuler; die
Literatur ist kein Götzentempel, in dem man um goldene Kälber tanzt; die
Literatur ist ein Heiligthum, das sich würdig anreiht dem Culturstaat, der
wahren, der triumphirenden Kirche, um auch ihrerseits das Reich Gottes, auch
schon auf Erden zu gründen." Hierzu dürfen wir mit Fug und Recht Amen
sagen. Aber die scharfe Scheidung zwischen der Anschauung, welcher die Dich¬
tung eine Kunst, die erste und höchste aller Künste ist und zwischen der, die es
offenbar als etwas Nebensächliches ansieht, ob der Schriftsteller, der sich (wozu
ihn nichts zwingt) poetischer Formen bedient, auch ein Künstler sei, bleibt trotz
der gemeinsamen Ueberzeugung von der Würde der Literatur vorhanden.

Die Pietät gegen fremdes Verdienst ist ein rühmlicher Grundzug des
Autors der "Modernen Zustände." Aber auch hier müssen wir einzelnen Aeuße¬
rungen derselben entschieden entgegengetreten. S. 385 bringt der Verfasser dem
Namen Gutzkows ein Todtenopfer. "Er hat unter allen Modernen der Deut¬
schen die umfassendste und kühnste Bahn zurückgelegt. Er ist zugleich der Gipfel


an den ich mich mit der ganzen Stärke des Gemüths, d. h. meiner tiefsten
Innerlichkeit betheilige, wird sogleich schaal, abgestanden, sobald es in die Ver¬
gangenheit tritt; wogegen der Gedanke, die Idee, die es etwa enthält, mich aus
der Zeit in die Ewigkeit erhebt, nur einen Schatz gewährt, der sich nimmer aus¬
giebt und mich zu eigenen beseligenden Gedanken ins Unendliche befruchtet."

Wir haben dieser Auslassung folgendes entgegenzusetzen. Es existirt kein
echtes poetisches Werk, welches nicht von einem mehr oder minder mächtigen,
mehr oder minder ausgiebigen poetischen Gedanken durchdrungen und erfüllt
wäre. Es existirt aber auch auf dem ganzen Gebiete der epischen und drama¬
tischen Dichtung kein vollendetes, bleibendes Werk, welches das verachtete
„Begebniß" nicht als Mittel bedurft hätte; der poetische Gedanke kann, von der
Lyrik abgesehen, nur durch die vollendete Darstellung des „schalen" Ereignisses
zur Erscheinung gelangen. Der Verfasser der „Modernen Zustände" möchte den
Glauben erwecken, daß zwischen der Brutalität und Frivolität der modernen
Thatsachenschriftsteller und Feuilletonisten und zwischen der Reflexionsneigung
jener Schriftsteller, welche die poetischen Formen nur als Vehikel für allerhand
philosophische, politische, literarische, moralische Abhandlungen betrachten, nichts
läge. Wir müssen ihm einhalten, daß die ganze wirkliche Dichtung, die aller¬
dings eine unermeßliche Fülle auch des Geistes einschließt, sich zwischen beiden
Extremen befindet! Bei solcher Grundverschiedenheit in der Hauptsache hilft
es wenig, daß wir Jung voll zustimmen, wenn er begeistert ausruft: „Die
Literatur ist keine Schule der Klugheit, kein Hatzfeld, auf dem mau Goldfasanen
schießt, kein Hazardspielhaus, in welchem Jeder auf Gewinn, auf Erfolg erpicht
ist; die Literatur ist kein Institut zur bloßen Ernährung, keine Restauration für
hungrige Schlucker oder für übermüthige Feinschmecker und Leckermäuler; die
Literatur ist kein Götzentempel, in dem man um goldene Kälber tanzt; die
Literatur ist ein Heiligthum, das sich würdig anreiht dem Culturstaat, der
wahren, der triumphirenden Kirche, um auch ihrerseits das Reich Gottes, auch
schon auf Erden zu gründen." Hierzu dürfen wir mit Fug und Recht Amen
sagen. Aber die scharfe Scheidung zwischen der Anschauung, welcher die Dich¬
tung eine Kunst, die erste und höchste aller Künste ist und zwischen der, die es
offenbar als etwas Nebensächliches ansieht, ob der Schriftsteller, der sich (wozu
ihn nichts zwingt) poetischer Formen bedient, auch ein Künstler sei, bleibt trotz
der gemeinsamen Ueberzeugung von der Würde der Literatur vorhanden.

Die Pietät gegen fremdes Verdienst ist ein rühmlicher Grundzug des
Autors der „Modernen Zustände." Aber auch hier müssen wir einzelnen Aeuße¬
rungen derselben entschieden entgegengetreten. S. 385 bringt der Verfasser dem
Namen Gutzkows ein Todtenopfer. „Er hat unter allen Modernen der Deut¬
schen die umfassendste und kühnste Bahn zurückgelegt. Er ist zugleich der Gipfel


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[0419] an den ich mich mit der ganzen Stärke des Gemüths, d. h. meiner tiefsten Innerlichkeit betheilige, wird sogleich schaal, abgestanden, sobald es in die Ver¬ gangenheit tritt; wogegen der Gedanke, die Idee, die es etwa enthält, mich aus der Zeit in die Ewigkeit erhebt, nur einen Schatz gewährt, der sich nimmer aus¬ giebt und mich zu eigenen beseligenden Gedanken ins Unendliche befruchtet." Wir haben dieser Auslassung folgendes entgegenzusetzen. Es existirt kein echtes poetisches Werk, welches nicht von einem mehr oder minder mächtigen, mehr oder minder ausgiebigen poetischen Gedanken durchdrungen und erfüllt wäre. Es existirt aber auch auf dem ganzen Gebiete der epischen und drama¬ tischen Dichtung kein vollendetes, bleibendes Werk, welches das verachtete „Begebniß" nicht als Mittel bedurft hätte; der poetische Gedanke kann, von der Lyrik abgesehen, nur durch die vollendete Darstellung des „schalen" Ereignisses zur Erscheinung gelangen. Der Verfasser der „Modernen Zustände" möchte den Glauben erwecken, daß zwischen der Brutalität und Frivolität der modernen Thatsachenschriftsteller und Feuilletonisten und zwischen der Reflexionsneigung jener Schriftsteller, welche die poetischen Formen nur als Vehikel für allerhand philosophische, politische, literarische, moralische Abhandlungen betrachten, nichts läge. Wir müssen ihm einhalten, daß die ganze wirkliche Dichtung, die aller¬ dings eine unermeßliche Fülle auch des Geistes einschließt, sich zwischen beiden Extremen befindet! Bei solcher Grundverschiedenheit in der Hauptsache hilft es wenig, daß wir Jung voll zustimmen, wenn er begeistert ausruft: „Die Literatur ist keine Schule der Klugheit, kein Hatzfeld, auf dem mau Goldfasanen schießt, kein Hazardspielhaus, in welchem Jeder auf Gewinn, auf Erfolg erpicht ist; die Literatur ist kein Institut zur bloßen Ernährung, keine Restauration für hungrige Schlucker oder für übermüthige Feinschmecker und Leckermäuler; die Literatur ist kein Götzentempel, in dem man um goldene Kälber tanzt; die Literatur ist ein Heiligthum, das sich würdig anreiht dem Culturstaat, der wahren, der triumphirenden Kirche, um auch ihrerseits das Reich Gottes, auch schon auf Erden zu gründen." Hierzu dürfen wir mit Fug und Recht Amen sagen. Aber die scharfe Scheidung zwischen der Anschauung, welcher die Dich¬ tung eine Kunst, die erste und höchste aller Künste ist und zwischen der, die es offenbar als etwas Nebensächliches ansieht, ob der Schriftsteller, der sich (wozu ihn nichts zwingt) poetischer Formen bedient, auch ein Künstler sei, bleibt trotz der gemeinsamen Ueberzeugung von der Würde der Literatur vorhanden. Die Pietät gegen fremdes Verdienst ist ein rühmlicher Grundzug des Autors der „Modernen Zustände." Aber auch hier müssen wir einzelnen Aeuße¬ rungen derselben entschieden entgegengetreten. S. 385 bringt der Verfasser dem Namen Gutzkows ein Todtenopfer. „Er hat unter allen Modernen der Deut¬ schen die umfassendste und kühnste Bahn zurückgelegt. Er ist zugleich der Gipfel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/419>, abgerufen am 23.07.2024.