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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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wissenlvsen Kritiker; drittens: das Massenpublikum selbst. Dieses trägt jedoch
die geringere Schuld, denn es ist in den letzten Jahren total verführt und cor-
rumpirt worden durch die ersten beiden, durch gewisse Halbtalente, dann durch
die ausgemachtesten Federfuchser, die nur wegen des Götzen Mammon die Feder
führen, die also aus Geldgier schreiben, dann freilich auch aus egoistischer
Eitelkeit."

Wer möchte und könnte widersprechen? Aber die Heilmittel, welche unser
Verfasser im Auge hat, dünken uns beinahe so unheilvoll, wie die Krankheit
selbst. "Gedanken" gewiß, denn eine Literatur ohne Gedanken, eine Poesie ohne
poetische Gedanken ist hirnloser Widersinn. In dem einen Worte "poetisch"
aber liegt die ganze Kluft, die unsre Anschauung von der des Verfassers der
"Modernen Zustände" scheidet. Beinahe auf jeder Seite verräth sich, daß
Jung der entschiedene Anhänger jener Auffassung ist, die in der Kunst der
Kunst entrathen kann und will, die keine strenge Scheidung der Aufgaben des
darstellenden Dichters und des über außerpoetische Dinge reflectirenden Autors
begehrt, die den Schein des Geistes über die lebendige Unmittelbarkeit setzt. Der
Verfasser hat lange genug gelebt und den tiefsten, ehrlichsten Antheil an der
Entwicklung unserer Literatur genommen, um zu empfinden, wie anders sich
die echt poetischen Productionen aus den dreißiger Jahren zu den niederge¬
brannten Espritfenerwerken des gleichen Zeitraums verhalten! Er wird zu¬
geben müssen, daß die poetischen Formen groß und bedeutend und danerbar
genug sind, um mit immer neuem (poetischen) Geist erfüllt zu werde", aber er
nimmt in der berechtigen Abneigung gegen den oben charakterisirten falschen
Realismus die Partei des Einfalls, der Sentenz, der geistreichen Phrase, gegen
die tief aus dem Innern der poetischen Natur quellende Unmittelbarkeit und leben¬
dige Anschaulichkeit der Situation wie der Gestalt. Er will das Gefühl für Ge-
dankcnreiz und schöne Sprachform mit Recht wieder erweckt wissen, und doch be¬
fehdet er jene Kunstforderungen, aus denen sich beides mit Nothwendigkeit ergeben
muß. "Das leidige alleinige Ereigniß in Büchern," sagt Jung, "muß den: Leser auf
längere Zeit ganz und gar verleidet werden. Er muß erst wieder wahrhaft lesen
lernen, nicht mit Neugierde, sogar nicht mit Wißbegierde allein, sondern mit Gemüth.
Was habe ich denn an bleibender Nahrung für meinem inneren Menschen durch
das, was äußerlich vorgeht? Jedes Ereigniß, und wäre es das unerhörteste,
ist eine vorüberschießende Welle der ruhelosen Zeit. Was habe ich bleibenden
Wohles davon, wenn mir der erste beste Roman vorführt, daß sich Zweien, die
sich lieben, unüberwindliche Hindernisse entgegenwälzen? Ich schlage etwa vier
Kapitel um, und siehe da, sie haben sich dennoch bekommen. Hat das irgend
welchen Einfluß auf das Allleben oder auch nur auf meine eigne Seelenver¬
fassung? Nicht den geringsten. Jedes Begebniß, wenn kein Gedanke darin ist,


wissenlvsen Kritiker; drittens: das Massenpublikum selbst. Dieses trägt jedoch
die geringere Schuld, denn es ist in den letzten Jahren total verführt und cor-
rumpirt worden durch die ersten beiden, durch gewisse Halbtalente, dann durch
die ausgemachtesten Federfuchser, die nur wegen des Götzen Mammon die Feder
führen, die also aus Geldgier schreiben, dann freilich auch aus egoistischer
Eitelkeit."

Wer möchte und könnte widersprechen? Aber die Heilmittel, welche unser
Verfasser im Auge hat, dünken uns beinahe so unheilvoll, wie die Krankheit
selbst. „Gedanken" gewiß, denn eine Literatur ohne Gedanken, eine Poesie ohne
poetische Gedanken ist hirnloser Widersinn. In dem einen Worte „poetisch"
aber liegt die ganze Kluft, die unsre Anschauung von der des Verfassers der
„Modernen Zustände" scheidet. Beinahe auf jeder Seite verräth sich, daß
Jung der entschiedene Anhänger jener Auffassung ist, die in der Kunst der
Kunst entrathen kann und will, die keine strenge Scheidung der Aufgaben des
darstellenden Dichters und des über außerpoetische Dinge reflectirenden Autors
begehrt, die den Schein des Geistes über die lebendige Unmittelbarkeit setzt. Der
Verfasser hat lange genug gelebt und den tiefsten, ehrlichsten Antheil an der
Entwicklung unserer Literatur genommen, um zu empfinden, wie anders sich
die echt poetischen Productionen aus den dreißiger Jahren zu den niederge¬
brannten Espritfenerwerken des gleichen Zeitraums verhalten! Er wird zu¬
geben müssen, daß die poetischen Formen groß und bedeutend und danerbar
genug sind, um mit immer neuem (poetischen) Geist erfüllt zu werde», aber er
nimmt in der berechtigen Abneigung gegen den oben charakterisirten falschen
Realismus die Partei des Einfalls, der Sentenz, der geistreichen Phrase, gegen
die tief aus dem Innern der poetischen Natur quellende Unmittelbarkeit und leben¬
dige Anschaulichkeit der Situation wie der Gestalt. Er will das Gefühl für Ge-
dankcnreiz und schöne Sprachform mit Recht wieder erweckt wissen, und doch be¬
fehdet er jene Kunstforderungen, aus denen sich beides mit Nothwendigkeit ergeben
muß. „Das leidige alleinige Ereigniß in Büchern," sagt Jung, „muß den: Leser auf
längere Zeit ganz und gar verleidet werden. Er muß erst wieder wahrhaft lesen
lernen, nicht mit Neugierde, sogar nicht mit Wißbegierde allein, sondern mit Gemüth.
Was habe ich denn an bleibender Nahrung für meinem inneren Menschen durch
das, was äußerlich vorgeht? Jedes Ereigniß, und wäre es das unerhörteste,
ist eine vorüberschießende Welle der ruhelosen Zeit. Was habe ich bleibenden
Wohles davon, wenn mir der erste beste Roman vorführt, daß sich Zweien, die
sich lieben, unüberwindliche Hindernisse entgegenwälzen? Ich schlage etwa vier
Kapitel um, und siehe da, sie haben sich dennoch bekommen. Hat das irgend
welchen Einfluß auf das Allleben oder auch nur auf meine eigne Seelenver¬
fassung? Nicht den geringsten. Jedes Begebniß, wenn kein Gedanke darin ist,


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[0418] wissenlvsen Kritiker; drittens: das Massenpublikum selbst. Dieses trägt jedoch die geringere Schuld, denn es ist in den letzten Jahren total verführt und cor- rumpirt worden durch die ersten beiden, durch gewisse Halbtalente, dann durch die ausgemachtesten Federfuchser, die nur wegen des Götzen Mammon die Feder führen, die also aus Geldgier schreiben, dann freilich auch aus egoistischer Eitelkeit." Wer möchte und könnte widersprechen? Aber die Heilmittel, welche unser Verfasser im Auge hat, dünken uns beinahe so unheilvoll, wie die Krankheit selbst. „Gedanken" gewiß, denn eine Literatur ohne Gedanken, eine Poesie ohne poetische Gedanken ist hirnloser Widersinn. In dem einen Worte „poetisch" aber liegt die ganze Kluft, die unsre Anschauung von der des Verfassers der „Modernen Zustände" scheidet. Beinahe auf jeder Seite verräth sich, daß Jung der entschiedene Anhänger jener Auffassung ist, die in der Kunst der Kunst entrathen kann und will, die keine strenge Scheidung der Aufgaben des darstellenden Dichters und des über außerpoetische Dinge reflectirenden Autors begehrt, die den Schein des Geistes über die lebendige Unmittelbarkeit setzt. Der Verfasser hat lange genug gelebt und den tiefsten, ehrlichsten Antheil an der Entwicklung unserer Literatur genommen, um zu empfinden, wie anders sich die echt poetischen Productionen aus den dreißiger Jahren zu den niederge¬ brannten Espritfenerwerken des gleichen Zeitraums verhalten! Er wird zu¬ geben müssen, daß die poetischen Formen groß und bedeutend und danerbar genug sind, um mit immer neuem (poetischen) Geist erfüllt zu werde», aber er nimmt in der berechtigen Abneigung gegen den oben charakterisirten falschen Realismus die Partei des Einfalls, der Sentenz, der geistreichen Phrase, gegen die tief aus dem Innern der poetischen Natur quellende Unmittelbarkeit und leben¬ dige Anschaulichkeit der Situation wie der Gestalt. Er will das Gefühl für Ge- dankcnreiz und schöne Sprachform mit Recht wieder erweckt wissen, und doch be¬ fehdet er jene Kunstforderungen, aus denen sich beides mit Nothwendigkeit ergeben muß. „Das leidige alleinige Ereigniß in Büchern," sagt Jung, „muß den: Leser auf längere Zeit ganz und gar verleidet werden. Er muß erst wieder wahrhaft lesen lernen, nicht mit Neugierde, sogar nicht mit Wißbegierde allein, sondern mit Gemüth. Was habe ich denn an bleibender Nahrung für meinem inneren Menschen durch das, was äußerlich vorgeht? Jedes Ereigniß, und wäre es das unerhörteste, ist eine vorüberschießende Welle der ruhelosen Zeit. Was habe ich bleibenden Wohles davon, wenn mir der erste beste Roman vorführt, daß sich Zweien, die sich lieben, unüberwindliche Hindernisse entgegenwälzen? Ich schlage etwa vier Kapitel um, und siehe da, sie haben sich dennoch bekommen. Hat das irgend welchen Einfluß auf das Allleben oder auch nur auf meine eigne Seelenver¬ fassung? Nicht den geringsten. Jedes Begebniß, wenn kein Gedanke darin ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/418>, abgerufen am 23.07.2024.