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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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ich, auf einem Leichnam sitzend, aus diesem harten, mit Eis vermischten Klumpen
Stärkung und Labung zu saugen mich anstrengte, wandte sich ein alter Jude,
welcher die Aussicht führte, an mich. Ich erkannte ihn wieder, es war derselbe,
mit dem ich früher auf dem Marsche bekannt geworden war. Als Mitanfseher
über die sämmtlichen in der Synagoge einquartirten Militärs hatte ich damals
oft an einem Tische mit ihm gegessen, indem er mich um seiner Schonung
willen dazu eingeladen hatte. Mit dem Ausdruck hämischer Schadenfreude im
Gesicht redete er mich jetzt mit den Worten an: "Ha! bist du da, Prieschen?
deine Kameraden haben, ehe sie ausrückten, geplündert und schändlich sich auf¬
geführt." Darauf faßte er mich beim Arme und zog mich zu dem als Thür
benutzten Fenster hin, von welchem die Stiege in den Hof hinunterführte. Das
finstre, nur bittern Haß bekundende Gesicht und das gewaltthätige Benehmen
des Juden ließen mich erkennen, daß er die Absicht hegte, mich zu ermorden,
und die Nothwendigkeit der Selbsterhaltung stärkte meine schwachen Kräfte. In
Angst wehrte ich mich gegen den mich fortziehenden Juden, der mich an der
Brust gefaßt hatte, packte ihn, warf ihn über das Geländer der Treppe hin¬
unter und ergriff die Flucht. Andere im Hofe stehende Juden, denen ich in
die Hände lief, und die gesehen und gehört hatten, was soeben geschehen war,
schrieen: "Gewalt! Gewalt!", und ich wäre ohne Zweifel ein Opfer ihrer Wuth
geworden, wenn sie nicht durch russische Offiziere, die von der Parade kamen,
von Gewaltthätigkeiten abgehalten worden wären.

Was ich in der Synagoge gesucht und nicht gefunden hatte, eine Ruhe-
und Erholungsstätte, das hoffte ich nun in einem engen Güßchen zu finden, wo
vor unserer Gefangennehmung einige kranke Offiziere von mir einquartirt worden
waren. Auf dem Wege dahin wurde ich leider der Hülle beraubt, die mich
bisher vor dem Erfrieren geschützt hatte. Ein Kosak, den, wie mich dünkte, jene
Juden aus mich aufmerksam gemacht hatten, verfolgte mich bis in das Gäßchen,
nach welchem ich wankte, und zog nur auf der Straße meinen Pelz aus. So
sah ich mich, im bloßen Hemd und mit zerrissenen Schuhen, unter freiem
Himmel, der furchtbarsten Kälte preisgegeben. Während ich unter der Centner¬
last meines Mißgeschickes seufzte, bot mir die gütige Vorsehung eine Gelegen¬
heit, einer wärmenden Bedeckung für meinen Körper habhaft zu werden. Unter
den Todten, die haufenweise wie dürre Reisbündel an den Thoren lehnten,
bemerkte ich einen, der mit einer langen Jacke und einer Art von Schürze be¬
kleidet war. Diese mir jetzt äußerst kostbaren Kleidungsstücke nahm ich ihm ab.
Die Jacke zog ich an, die Schürze band ich um, und so gekleidet suchte ich den
Platz auf, wo ich die kranken Offiziere untergebracht hatte.

Die an einem Thore mit Kreide angeschriebenen Worte: "General von Ochs"
waren für mich das Signal, daß ich die ersehnte Stelle gefunden hatte. Ich


ich, auf einem Leichnam sitzend, aus diesem harten, mit Eis vermischten Klumpen
Stärkung und Labung zu saugen mich anstrengte, wandte sich ein alter Jude,
welcher die Aussicht führte, an mich. Ich erkannte ihn wieder, es war derselbe,
mit dem ich früher auf dem Marsche bekannt geworden war. Als Mitanfseher
über die sämmtlichen in der Synagoge einquartirten Militärs hatte ich damals
oft an einem Tische mit ihm gegessen, indem er mich um seiner Schonung
willen dazu eingeladen hatte. Mit dem Ausdruck hämischer Schadenfreude im
Gesicht redete er mich jetzt mit den Worten an: „Ha! bist du da, Prieschen?
deine Kameraden haben, ehe sie ausrückten, geplündert und schändlich sich auf¬
geführt." Darauf faßte er mich beim Arme und zog mich zu dem als Thür
benutzten Fenster hin, von welchem die Stiege in den Hof hinunterführte. Das
finstre, nur bittern Haß bekundende Gesicht und das gewaltthätige Benehmen
des Juden ließen mich erkennen, daß er die Absicht hegte, mich zu ermorden,
und die Nothwendigkeit der Selbsterhaltung stärkte meine schwachen Kräfte. In
Angst wehrte ich mich gegen den mich fortziehenden Juden, der mich an der
Brust gefaßt hatte, packte ihn, warf ihn über das Geländer der Treppe hin¬
unter und ergriff die Flucht. Andere im Hofe stehende Juden, denen ich in
die Hände lief, und die gesehen und gehört hatten, was soeben geschehen war,
schrieen: „Gewalt! Gewalt!", und ich wäre ohne Zweifel ein Opfer ihrer Wuth
geworden, wenn sie nicht durch russische Offiziere, die von der Parade kamen,
von Gewaltthätigkeiten abgehalten worden wären.

Was ich in der Synagoge gesucht und nicht gefunden hatte, eine Ruhe-
und Erholungsstätte, das hoffte ich nun in einem engen Güßchen zu finden, wo
vor unserer Gefangennehmung einige kranke Offiziere von mir einquartirt worden
waren. Auf dem Wege dahin wurde ich leider der Hülle beraubt, die mich
bisher vor dem Erfrieren geschützt hatte. Ein Kosak, den, wie mich dünkte, jene
Juden aus mich aufmerksam gemacht hatten, verfolgte mich bis in das Gäßchen,
nach welchem ich wankte, und zog nur auf der Straße meinen Pelz aus. So
sah ich mich, im bloßen Hemd und mit zerrissenen Schuhen, unter freiem
Himmel, der furchtbarsten Kälte preisgegeben. Während ich unter der Centner¬
last meines Mißgeschickes seufzte, bot mir die gütige Vorsehung eine Gelegen¬
heit, einer wärmenden Bedeckung für meinen Körper habhaft zu werden. Unter
den Todten, die haufenweise wie dürre Reisbündel an den Thoren lehnten,
bemerkte ich einen, der mit einer langen Jacke und einer Art von Schürze be¬
kleidet war. Diese mir jetzt äußerst kostbaren Kleidungsstücke nahm ich ihm ab.
Die Jacke zog ich an, die Schürze band ich um, und so gekleidet suchte ich den
Platz auf, wo ich die kranken Offiziere untergebracht hatte.

Die an einem Thore mit Kreide angeschriebenen Worte: „General von Ochs"
waren für mich das Signal, daß ich die ersehnte Stelle gefunden hatte. Ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/405>, abgerufen am 23.07.2024.